Der Hase und der Igel

Der Hase und der Igel – ein Märchen nach den Gebrüder Grimm.

Es war an einem Sonntagmorgen zur Herbstzeit und alle Kreatur war vergnügt und der Igel war es auch. Der Igel stand nämlich vor seiner Tür, hatte die Arme untergeschlagen und quinquilierte ein kleines Liedchen vor sich hin. Da fiel ihm ein, mittlerweile eine Frau die Kinder wusch und anzog, dass er ein bisschen ins Feld spazieren könnte und nachsehen, wie seine Steckrüben ständen.

Gesagt, getan. Er war noch nicht weit weg, als ihm der Hase begegnete. Der Hase war in ähnlichen Geschäften unterwegs. „Morgen, Meister Lampe“, sagte der Igel und zog die Mütze. Der Hase aber, der ein vornehmer Herr war und äußerst hochnäsig obendrein, antwortete dem Igel nicht auf seinen Gruß. Er machte nur ein höhnisches Gesicht und zog die Nase kraus. „Ich möchte eigentlich nur wissen, was du in aller Frühe schon im Feld herumzulaufen hast?“, ließ er sich dann vernehmen. „Ich gehe spazieren“, sagte der Igel. „Spazieren?“ lachte der Hase, „ich sollte meinen, dass du deine Beine zu besseren Sachen gebrauchen könntest“.

Diese Antwort verdross den Igel gewaltig; er konnte allerhand vertragen, aber auf seine Beine, auf die ließ er nichts kommen, weil sie wirklich von Natur krumm geraten waren. „Du bildest dir wohl ein“, gab er zur Antwort, „dass du mit deinen Beinen mehr ausrichten kannst.“ – „Allerdings“, sagte der Hase, „das sollte ich wohl meinen.“ – „Das kommt noch auf den Versuch an“, meinte der Igel, „an dir komme ich noch allemal vorbei, wenn wir um die Wette laufen.“ – „Das ist ja zum Lachen“, sagte der Hase, „du mit deinen krummen Stempeln? Aber von mir aus können wir es ja einmal versuchen, wenn es dir gar so viel Spaß macht. Was soll die Wette gelten?“ – „Einen Goldfuchs“, sagte der Igel, „und eine Flasche Branntwein?“ – „Das soll ein Wort sein“, sprach der Hase, „schlag ein, dann kann es gleich losgehen.“

„Na“, meinte der Igel, „so große Eile hat es nun auch wieder nicht; ich bin nämlich ganz nüchtern. Ich gehe jetzt nach Hause und frühstücke erst noch ein bisschen; in einer halben Stunde bin ich wieder zur Stelle.“

Der Hase war zufrieden und der Igel trollte sich nach Hause. „Der verlässt sich auf seine langen Beine“, dachte er unterwegs bei sich, „aber ich soll ihn doch wohl kriegen, den vornehmen Herrn.“ Als er zu Hause ankam, rief er gleich nach seiner Frau: „Los, Frau, zieh´ dich schnell an, du musst mir mir aufs Feld.“ – „Wo brennt´s denn?“ fragte seine Frau.

„Ich habe gewettet“, sage er, „ich hab´ um einen Goldfuchs und um eine Flasche Branntwein mit dem Hasen gewettet, dass ich schneller laufen kann als er und da musst du dabei sein.“ – „Ach, du lieber Gott“, fing die Frau Igelin an zu schreien, „hast du denn ganz den Verstand verloren? Wie kannst du mit dem Hasen um die Wette laufen wollen?“ – „Halte dein Maul, Weib“, sagte der Igel, „das ist meine Sache. Räsonier´ du nicht in Männergeschäfte. Marsch, zieh´ dich an und komm mit!“ Was sollte da die Igelin machen? Sie musste gehorchen, ob es ihr nun Spaß machte oder nicht.
„Nun pass auf“, sagte der Igel unterwegs zu ihr, „pass auf jetzt, was ich dir sage. Unseren Wettlauf, den machen wir auf dem langen Acker. Der Hase, der läuft in der einen Furche, und ich laufe in der anderen Furche, und angefangen wird von oben. Nun hast du weiter gar nichts zu tun, als dass du dich hier unten an der Furche aufstellst, wo sie aufhört; und wenn der Hase ankommt, dann rufst du ihm entgegen: „Ich bin schon da!“.“

Damit waren sie angelangt; der Igel wies seiner Frau ihren Platz an und stiefelte den Acker hinauf. Als er oben ankam, war der Hase schon zur stelle. „Kann es losgehen?“, fragte der Hase. „Kann losgehen“, sagte der Igel. Damit stellte sich jeder in seiner Furche auf. „Eins, zwei, drei“, zählte der Hase und losfegte er wie der Sturmwind den Acker hinunter.
Der Igel aber hoppelte drei oder vier Schritte weit, dann duckte er sich in seine Furche und blieb ruhig da sitzen. Als aber der Hase im vollen Laufen unten am Acker ankam, da rief ihm die Igel-Frau entgegen: „Ich bin schon da!“

Der Hase stutzte und verwunderte sich nicht wenig; er meinte nicht anders, als dass es der Igel selber wäre, der ihm zurief, denn bekanntlich sieht dem Igel seine Frau genau so aus wie ihr Mann. „Noch einmal gelaufen“, rief er dann, „noch einmal zurück!“, denn er meinte, dass es doch nicht mit rechten Dingen zugegangen wäre. Und fort sauste er abermals wie der Sturmwind, dass ihm die Ohren am Kopfe flogen.

Die Frau Igelin aber blieb ruhig an ihrem Platze. Als nun der Hase oben ankam, rief ihm der Igel entgegen: „Ich bin schon da!“ Der Hase aber, ganz außer sich vor Zorn, schrie abermals: „Noch einmal gelaufen, noch einmal kehrt!“

„Macht mir gar nichts aus“, antwortete der Igel, „Von mir aus so oft du nur Lust hast.“ So lief der Hase noch dreiundsiebzigmal, und der Igel hielt jedes mal wacker mit. Immer wenn der Hase ober oder unten ankam, sagte der Igel oder seine Frau: „Ich bin schon da!“

Beim vierundsiebzigstenmal aber kam der Hase nicht mehr zu Ende. Mitten auf dem Acker stürzte er nieder, das Blut schoss ihm aus dem Halse und er blieb tot am Platze. Der Igel aber nahm den Goldfuchs und die Flasche Branntwein zu sich, rief seine Frau aus der Furche herauf, und beide gingen vergnügt nach Hause, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

(Quelle: Meine schönsten Märchen, W. Fischer Verlag, Göttingen, ohne Jahr)