Die Rieseneiche von Annaberg

Die Rieseneiche von Annaberg, erzählt von Franz Hoffmann.

Die Sage: Die Rieseneiche von Annaberg

Im Erzgebirge wohnte einmal vor Zeiten ein armer, armer Bergmann, Daniel Knappe geheißen. Er hatte Weib und Kind und liebte sie sehr, doch wußte er manchmal nicht, wie er sie ernähren sollte. Dennoch vertraute er allezeit auf den lieben Gott und so hoch auch oftmals die Not in seinem Hause stieg, wankte doch niemals sein Vertrauen auf die Hilfe des Ewigen. Er arbeitete und betete und half sich mühsam von einem Jahre zum andern durch.

Einmal war die Not aber doch so hoch gestiegen, dass er nirgends mehr Rettung sah und mit traurigem, tief betrübtem Herzen sein ärmliches Strohlager aufsuchte.

„Herr,“ betete er da, „Herr, Du sprachest zu uns durch deinen heiligen Sohn Jesus Christus: Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten! Und siehe, ich bin in großer Not und rufe dich an mit bedrängtem Herzen! Hilf mir, mein Gott, auf dass ich gerettet werde!“

Nach diesem Gebetlein schlief der arme Bergmann ein. Und mitten in der Nacht da träumte ihm, ein Engel erschiene an seinem Lager und spräche zu ihm: „Da mache Dich auf und gehe in den Wald, dorthin, wo er am dichtesten ist und noch kein menschlicher Fuß ihn betreten hat. Dort suche den Baum, in dessen Zweigen silberne Eier ruhen. An seiner Größe wirst Du ihn erkennen, denn seines Gleichen findet sich nicht im ganzen Gebirge.“

Und am andern Morgen, als Daniel aufwachte und sich seines Traumes sehr lebhaft erinnerte, nahm er denselben als ein Zeichen von Gott und machte sich auf, im tiefsten Wald nach dem größten Baume zu forschen. Tief hinein drang er in das verschlungene Dickicht, welches kaum ein Sonnenstrahl zu durchdringen vermochte, bis er endlich staunend vor einer gewaltigen Eiche stehen blieb.

„Ja,“ sagte er, „dieser und kein anderer ist der verheißene Baum. In diese Wildnis drang noch keines Menschen Fuß und so oft ich auch den Forst durchschritten habe, noch nie erblickte ich einen Baum, der sich mit diesem vergleichen ließe!“

Der Stamm hatte wohl einen Umfang von zwanzig Ellen und seine Äste breiteten sich gewaltig nach allen Seiten aus. Rasch stieg der arme Bergmann hinauf und suchte zwischen den Blättern und Zweigen nach den verheißenen silbernen Eiern. Aber vergebens spähte sein scharfes Auge; es gewahrte nichts, als die grünen, saftigen Blätter und die braune Rinde an Stamm und Ästen.

„Oh, mein Gott!“ rief er aus, „so hat mich doch nur ein törischter Traum geneckt und mit leeren Händen muß ich zu meinem armen Weibe, zu meinen hungrigen Kleinen zurückkehren! Aber ich will nicht verzagen! Es lebt ja doch noch ein Gott über den Sternen und kein Sperling fällt vom Dache ohne seinen heiligen Willen. Er kleidet die Lilien auf dem Felde und gibt den jungen Raben ihr Futter – er wird gewiß auch dafür sorgen, dass meine Kinder nicht im Elende umkommen!“

Und kaum hatte er diese vertrauensvollen Worte ausgesprochen, da stand plötzlich der Engel, der ihm im Schlafe erschienen war, an seiner Seite und sprach mit einem himmlischen lächeln:

„Siehe, Gott ist hilfreich und gnädig und er hat mich abgesandt, Dich zu beglücken. Hat nicht der Baum Zweige unter der Erde, wie über derselben? Suche und wirst finden; denn um Deines gläubigen Vertrauens willen und wegen Deiner Treue und Liebe zu Gott soll Dir geholfen werden.“

Nach den letzten Worten verschwand der Engel wie ein glänzender Hauch. Den armen Bergmann aber durchströmte neuer Mut und neue Kraft und fröhlich schwang er seine Hacke, um die Wurzeln des mächtigen Baumes von der Erde zu entblößen. Und siehe, plötzlich klang es, als ob seine Hacke auf Metall gestößen wäre und da er nachsah, fand er, von Wurzeln umflochten, reiche Silberstufen in den unterirdischen Zweigen des Baumes, die er jauchzend ans Tageslich förderte.

„Das also sind die silbernen Eier, welche der Engel mir verhieß,“ sprach er freudig. „Dem Himmel sei Dank für die reiche Gabe, Dank und Preis und Anbetung, denn nun bin ich und die Meinen von aller Not befreit auf ewige Zeiten!“

Fröhlichen Sinnes kehrte er heim und das Gespenst des Hungers blieb fortan fern von seiner Hütte. In späteren Zeiten aber erhoben sich an der Stelle, wo einstens die Rieseneiche gestanden hatte, zahlreiche Gebäude und ein freundliches Städtchen belebte die einsame, waldreiche Wildnis. Annaberg ward es geheißen und Herzog Georg der Bärtige legte den Grundstein dazu.

(Quelle: Deutsch Sagen, Verlag von E. Steiger, New York, 1871)