Der schöne Wahn – Kapitel 3

Gräfin Albertine hatte wieder einmal „die Nerven“, wie sich die Kammerjungfer auszudrücken pflegte. Das kam so drei- oder viermal im Jahre und dauerte an acht Tage, ein kläglicher Zustand mit mehr oder weniger Kopf- und Rückenschmerzen und einer tiefen Depression des Gemüte, die auch in den Stunden, da der physische Schmerz erträglicher war, sie mit der finstersten Melancholie ringen ließ.
Sie rang als fromme Christin, die nicht klagen wollte über das ihr beschiedene Lebenslos, sondern alle mit dem Schicksal hadernden Gedanken als Sünde tapfer unterdrückte.
Aber es war eben ein Ringen, das der Dulderin Tränen erpresste und sie hin- und herzerrte zwischen leidenschaftlicher Todessehnsucht und er Wehmut über eine unter Leiden hinwelkende Jugend. Sorgsam pflegte sie die Mutter, im Verein mit der Kammerjungfer.
Aber die herzliche Mutterliebe drang nicht ein in dieses Seelenleben, das sich in der Schule der Leiden von Kindheit an besonders entwickelt hatte, und die Einsamkeit er Seele in ihren Nöten und Ängsten war ein besonderer Teil der Schmerzen, der sich bis zu angstvollen Gefühlen des Verlassenseins steigerte. Es waren verzweifelte Gebete, die sie in schlaflosen Nächten zum Himmel sandte, und derart steigerten sich die Schmerzen, dass sie die Augen voll Tränen, die Lippen fest verbissen, in zitternd geballten Händen die letzte Kraft des Duldens zusammensuchte.
Und das zarte Körperchen, es widerstand immer wieder. In einem Zustand der Erschöpfung lösten sich die Schmerzenszuckungen auf, und dann wichen auch die seelischen Beänstigungen. Sie lächelte still vor sich hin, dankte Gott, dass er die Schmerzen von ihr genommen, und dachte, ihrer selbst spottend, wie kleinmütig sie wieder gewesen sei.
Um solche Zeit ließ sie gerne Pater Romanus rufen und erbaute sich an seiner mönchischen Askese, der jeder Wunsch jede Sehnsucht Torheit war, die nicht nach dem Himmel sich wendeten. Der stand dem Frommen sicher offen. Man sah ihn vor Augen mit seinen goldenen Torflügeln und seinen Engelscharen und so kurz war der Weg, so gering die Leiden der Wanderung im Verhältnis zu den Freuden, die dort harrten.
Der gute Pater, das wußte sie aus Erfahrung, war schlecht zu brauchen als Ratgeber in irgend welchen Dingen, die mit der Welt zusammenhingen. Aber wenn der starke, bärtige Mann so kindlich gottesergeben vom Unwert des Lebens und so zuversichtlich vom Himmelslohn sprach, da kam Sonnenwärme in die Seele des Krüppelchens, und ihre Augen schien die braune Kapuzinerkutte ein Zauberkleid, auf das es dankbar starrte, und es legte sich die zartfingerige Mädchenhand beim Abschied mit innigen Druck in die grobgebaute des Mönches.
Es dauerte eine Woche der Erholung, dann kam der gewohnte Dankgesang nach Heiligenkreuz. Auf dem Maultier ritt die Gräfin bis zum Klösterchen im Waldtale, ließ sich dort vom Bruder Pförtner einen oder den anderen der sechs Patres aus der Klausur kommen und übergab ein Geschenk für die schöne, am Kloster angebaute Kirche. Dann aber ging es zu Fuß, auf den schwarzen Stock gestützt, die steilen Kreuzwegstufen hinauf zur eigentlichen Wallfahrtskapelle, die auf der Höhe eines Hügels mitten unter Tannen stand, vom Tal aus nur an der Rückseite sichtbar; ein altersgrauer, schwerfälliger Bau mit zwei hohen Fenstern. Auf das steile Ziegeldach hatte man in neuerer Zeit ein rotes Holztürmchen mit Fensterladen und ein Kupferkreuz auf dessen Spitze gesetzt. Innen war das Kirchlein schmucklos weiß mit einer nicht sehr großen Reihe von Bänken auf dem Ziegelpflaster.
Die Apsis, in welcher der Altar stand, war himmelblau getüncht mit gelben Sternen. Auf diesem Hintergrunde hing über dem Altar das Kruzifix, dem man wunderbare Gebetserhörungen zuschrieb.
Auf schwarzem Holz hing der Gekreuzigte, dessen Leib von unbestimmt grauer Färbung war. An rotem Band hing ihm ein silbernes Herz um den Hals, über der Dornenkrone trug er eine andere von Silber.
Als Albertine eintrat, gewahrte sie in der vordersten Bank einen Mann und ein Mädchen. Das Geräusch ihres Stockes ließ das Mädchen sich umwenden. Es war Bachlschusters Katherl, das alsbald den Vater anstieß und ihm zuflüsterte. Beide erhoben sich und wollten Platz machen. Albertine winkte lebhaft mit dem Stocke ab und kniete dann, leiste mit dem Kopf nickend, neben dem Katherl wieder.
Der Gekreuzigte da oben war ihr so vertraut, dass das rote Band mit silbernem Kreuze und die silberne Krone sie gar nicht mehr störten. Sie wußte auch nicht, ob das Schnitzwerk der Gestalt mit dem zur Seite geneigten Kopf und dunkelm Haar und Barte künstlerischen Wert habe.
Sie sah da nur das göttliche Oberhaupt aller Duldenden, den Kaiser aller Schmerzen, zu dessen Gefolgschaft sie auch gehörte, denn das war die Vorstellung, mit der ihre Phantasie spielte, dass es sich hier nicht um den Christus handele, der das Oberhaupt aller Gläubige war, sondern um einen besonderen, dessen Gemeinde aus den Kranken, Krüppeln und Bedrückten bestand, um einen himmlischen Bettlerkönig. Dazu passte das ärmlich kahle Kirchlein im Walde so gut, dazu paßten auch ihre Nachbarn, der Zuchthäusler und sein Kind.
Während ihres Gebetes hatte sie ein leises Geräusch Eintretender gehört, ohne dessen weiter zu achten. Als sie nach einer Weile die Kirche verlassen wollte, sah sie in der hintersten Bank die beiden Baronessen von Ried knien.
Sie grüßte zuerst mit freundlicher Verneigung, die sehr förmlich erwidert wurde. Sie hatte bisher nicht gedacht, dass die Familie Ried besonders fromm sei. Es war vielleicht nur eine flüchtige Spaziergangsidee, dass sie in die Kirche im Vorbeigehen eingetreten waren. Aber, so besann sie sich, nach allem, was sie wußte, konnten die armen, hübschen Dinger recht wohl auch zur besonderen Gemeinde des göttlichen Bettlerkönigs gehören. Als sie mühsamer noch als bergauf die Kreuzwegstufen niederstieg, holten der Bachlschuster und Katherl sie ein.
„Gut, dass du kommst, Katherl,“ sagte sie rückwärts zu den ihrem Gange Einhalt Tuenden gewendet. „Es geht schwer hinunter, und du kannst mir wohl ein bißchen helfen. Willst du?“
Auf des Mädchens Arm gestützt, setzte sie den Weg fort, immer nach rückwärts zu dem dicht dahinterschreitenden Schuster sich wendend. Seine bescheidene Frage über ihre Krankheit beantwortete sie: „So von Zeit zu Zeit kommt die Prüfung. Das Krummbein da ist noch nicht genug. Der liebe Gott nimmt mich noch schärfer in die Kur. Und Sie? Hat Sie eine besondere Kümmernis hierher geführt?“
Der Schuster erwiderte zögerlich, er sei mehrmals auch schon mit der Frau, während der Krankheit der Gräfin, hier gewesen, und heute habe es ein Dankgebet gegolten.
Albertine blieb stehen und reichte ihm die Hand, die er küßte. Sie aber küßte Katherl auf die Stirne und sagte: „Bleib´ brav!“
Senkrecht führte der Stufenweg talwärts, und die beiden Baronessen Ried, die eine Strecke weiter oben des Weges kamen, konnten die Szene ganz deutlich beobachten.
„Da sieh mal! Sie küßt das Bauernmädel,“ sagte Elvi.
Sophie hatte den Vorgang mit großer Überraschung gesehen. Sie war nachdenklich, und erst nach einer kleinen Weile fand sie die grollende Bemerkung:
„Sehen wir, dass wir vorbeikommen, und wenn sie irgend eine Redensart macht, lassen wir uns in keine weitere Unterhaltung ein.“
Rasch hatten die leichtfüßigen Mädchen die mühsam heruntersteigende Gruppe erreicht. Man gab ihnen Raum, und die Gräfin sagte freundlich:
„Guten Tag, meine Damen.“
„Guten Tag,“ erwiderten die Mädchen und gingen scheu mit geröteten Gesichtern an ihr vorbei.
„Und sie hat doch etwas sehr Vornehmes,“ sagte Elvi, als sie schon eine gute Strecke entfernt waren. Sophie antwortete nichts. Sie fühlte, dass es mehr war als Vornehmheit, was aus dieser zarten Erscheinung mit dem liebenswürdigen Lächeln und dem großen, gütigen Blick der dunklen Augen sprach. Der Gedanke beklemmte ihre Brust: „Für den Bruder sind wir „hübsche Försterstöchter“, sie aber will von uns nichts wissen!“
Sie konnte es nicht leugnen, es zog sie mächtig hin zu dem merkwürdigen Wesen. Eine Freundin, nach der sie sich sehnte, ahnte sie dort.
Gräfin Albertine setzte sich vor dem Kloster auf das Maultier. Unterwegs unterhielt sie sich mit dem Schuster über die Entwicklung seiner Verhältnisse. Sie ging ihm ganz erträglich. Wenn es noch Leute im Dorfe gab, die ihm geringschätzig aus dem Wege gingen und ihm und den Seinigen kleine Kränkungen zufügten, so war daran das Verhalten des Pfarrers schuld, der ihn mit ausgesprochener Unfreundlichkeit behandelte und, wie man ihm mehrfach hingeschoben hatte, nicht aufhörte, von der Schande zu reden, dass das angesehene Dorf einen Zuchthäusler beherbergen müsse.
Die Gräfin wußte ganz genau, dass das nur eine Böswilligkeit des Pfarrers gegen sie selbst bedeute. Er war ein unwürdiger Trunkenbold mit ungeschlachtem Wesen, der sie nicht leiden möchte, weil er wohl ahnte, wie sie über ihn dachte, und weil ihm der Einfluß, die sie auf die Gemüter ausübte, ein lebendiger Gewissensvorwurf war. Sie hatte nie begriffen, warum ihr verstorbener Vater, der doch beim Erzbischof in höchstem Ansehn stand, keinen Schritt tat, diesen Mann des Ärgernisses zu entfernen.
Der neue Inspektor war gekommen, und an die Stelle des alten Oberförsters waren zwei junge Förster getreten.
Baron Tellenberg, der sich bei der Einführung der neuen Beamten wieder nützlich machte, meinte, die vermehrten Verwaltungskosten sollte der Graf doch teilweise dadurch hereinbringen, dass das überflüssige Dienstbotenvolk, das nicht annähernd genug beschäftigt werden konnte, etwas vermindert würde. Davon aber wollte dieser nichts wissen. Tellenberg war ihm überhaupt zu ängstlich und engherzig. Es handelte sich darum, für den Inspektor eine bessere Wohnung zu schaffen, als sie dem bisherigen Rentmeister zu Gebote gestanden hatte.
Tellenberg warnte eifrig vor dem „Bauen“, das aller Laster Anfang für einen Gutsbesitzer sei, und riet zu Aushilfsmitteln. Der Graf aber hatte schon einen Plan im Kopfe, nach welchem das neue Inspektorhaus dem ganzen etwas einförmigen Block der Wirtschaftsgebäude einen mit dem Schlosse harmonierenden, stilvollen Charakter geben sollte. Über einen anderen Punkt sprach Tellenberg zunächst mit der Gräfin-Mutter.
Bisher war es Gewohnheit gewesen, dass die Herrschaften sich zu Beginn Dezember zum Winteraufenthalt nach München begaben. Tellenberg meinte, nur wenigstens in diesem Trauerjahre könnte ein solcher Winteraufenthalt wohl unterbleiben. Der neue Inspektor sei ja zwar als zuverlässiger Mann empfohlen: es sei aber doch immer vom Übel, solchen Beamten die alleinige Autorität zu überlassen. Sie würden dann zu leicht herrschsüchtig und übergreifend. Auch wäre es doch schade, wenn sich Graf Theodor gar nicht an das eigentliche Gutsbesitzerleben mit seiner Arbeit gewöhne. Ein Jahr hindurch sollte er doch wenigstens den ernsthaften Versuch machen, ob er nicht Geschmack daran gewinne.
Die Gräfin-Mutter hat selber gar keine besondere Neigung, nach München zu gehen, und sah die Vorzüge dieses Rates ein, bezweifelte aber lebhaft, dass ihr Sohn sich dazu überreden ließe. Zu ihrem Erstaunen gelang ihr das bei der ersten Berührung der Frage. Graf Theodor meinte: „Wenn ihr, du und Albertine, nicht in die Stadt wollt, allein kann ich hier natürlich nicht hausen, dann ist so ein Winter auf dem Lande wenigstens der Probe wert. Gelegentlich kann man ja doch auf ein paar Tage nach München fahren. Es wird nur für die komfortable Überwinterung allerlei zu richten sein im Schlosse. Die Korridore müssen einen Abschluß gegen die Treppen bekommen. Es müssen Polstertüren an unsere Zimmer, man wird überall Matten legen müssen. Ein ordentliches Schlittenzeug ist übrigens auch nicht da, und das ist doch eine Hauptsache bei einem Winteraufenthalt.“
Er fing seitdem öfter davon an und sann mit lebhafter Geschäftigkeit die notwendigen Vorkehrungen aus.
Die beiden Damen hatten sehr schnell freundliche Beziehungen zu Frau Inspektor Seidlinger gefunden, einer sanften jungen Frau von guter Bildung, die aus Regensburg stammte, wo ihr Vater fürstlich tarischer Beamter war. Besonders wurde dieser Umgang gefördert durch das Vergnügen an den beiden Kindern von zwei und vier Jahren, einem bildhübschen Mädchen und einem kräftigen, drolligen Jungen.
Es bildeten sich die Dinge dahin aus, dass Frau Seidlinger etwas wie eine Gesellschafterin wurde, wobei die Kinder dann als Spielzeug dienten. Herr Seidlinger war ein stattlicher Mann in der Mitte der Dreißig, der von Anfang an ein sehr selbstsicheres Auftreten zeigte und sich eifrig in die Geschäfte stürzte. Er merkte bald, dass es dem Grafen gar nicht um eingehende Rapporte zu tun war und dass er auf die meisten Anfragen antwortete:
„Wie Sie meinen, Herr Inspektor.“ „Das überlasse ich ganz Ihnen.“ „ich habe nichts dagegen einzuwenden.“
Graf Theodor war denn auch mit den erst nur in seiner Phantasie vorhandenen Plänen zum Inspektorhaus, dann besonders mit allerlei Anordnungen im Garten und Park, mit dem Ordnen der schönen, aber ganz vernachlässigten Bibliothek, schließlich noch mit den Überwinterungsgedanken so voll beschäftigt, dass er es meist nur als Störung empfand, wenn man ihm mit den eigentlichen Gutsgeschäften kam.
Eines Tages fiel es ihm ein, nach drei Wochen doch wieder einmal in Grafenwang vorzusprechen. Er hatte Bedürfnis nach Damenunterhaltung, und hoffentlich kam diesmal ein besseres Gespräch zustande. Es war in der Nachbarschaft wirklich Mangel an jungen Damen. Tellhausen hatte nur noch einen Backfisch zu Hause, die Komtesse Seibot fing schon an überreif zu werden und war doch gar zu häßlich.
Anna Mühlhof war furchtbar borniert, kaum ein Wort aus ihr herauszubringen. Andere adelige Familien waren schon zu weit entfernt, um so kurzweg sie zu einem Plausch zu besuchen. Von den Beamtentöchtern in Haltenburg konnte gar keine Rede ein, die waren nur komisch zu nehmen. Also blieben wirklich nur die Rieds übrig. Im Winter mochten sie beinahe unentbehrlich werden. Die kleine Elvi mußte jetzt gemerkt haben, dass er nicht das geeignete Werkzeug gewisser Heimlichkeiten war. Es gelüstete ihn aber, dem Charakter dieser Sophie auf den Grund zu kommen, klar zu sehen, ob ein guter Stamm von allerlei Schlinggewächs umrahmt war oder ob sich´s auch bei ihr um ein krankes Gewächs handelte.
Nach einer Frist von drei Wochen konnte man einem Besuch auch nichts irgend Besonderes unterlegen.
Er traf die ganze Famlie zu Hause. Man saß in der vom wilden Wein überschatteten Veranda, die sich an der Vorderseite des Schlößchens, rechts von der schlichten, grauweißen Eingangstür, entlang zog und den Blick auf einen kleinen, mit sehr bescheidenen Pflanzen bewachsenen Blumengarten bot, essen schmale Kiespfade vom Graswuchs hätten gereinigt werden sollen.
Der Baron, der ihn in einer gewissen feindlichen Kavaliershaltung begrüßt hatte, verabschiedete sich nach einem Viertelstündchen mit der Bemerkung: „Meine Leute sind im Heu. Sie, Herr Graf, brauchen sich um derlei nicht zu kümmern. Wir Kleinen aber müssen schon selber zum Rechten sehen.“
Der Ton dieser scherzenden Worte gefiel dem Grafen nicht. Es klang eine Schärfe durch, die er sehr unnötig fand. Er verneigte sich stumm, höflich und bemerkte zugleich, dass Sophie errötet war.
Etwas später machte sich die Baronin im Haushalt zu tun, und die jungen Leute schlenderten durch den Gatten. Da begann Elvi:
„Wir waren vor einiger Zeit in Heiligenkreuz und haben dort Komtesse Albertine gesehen.“
„So? Ich weiß, dass sie kürzlich dort war,“ entgegnete der Graf.
„Sie war mit einem Bauern und einem Bauernmädchen. Deshalb wollten wir nicht stören und gingen nur mit einem stummen Gruß vorbei,“ sagte jetzt Sophie.
„Ja, ja, ohne irgend einen Anhang von Schützlingen sieht man sie draußen selten“ versetzte der Graf mit leichtem Humor. Ernster setze er hinzu:
„Das arme Geschöpf hat wieder viel leiden müssen. Ihr bedauerlicher Zustand hat ihren Charakter besonders entwickelt, und so geht sie ihre eigenen Bahnen.“
„Aber die Komtesse verkehrt doch auch viel mit dem benachbarten Adel? Sie hat doch Freundinnen?“ fragte Sophie.
„Von einer eigentlichen Freundin, die sie hätte, ist mir gar nichts bekannt,“ lautete die Antwort.
„Das findet man wohl auch schwer ei den hießigen Adeligen,“ bemerkte Sophie in etwas spitzem Tone, und Elvi fiel ein:
„Wir kennen alle diese Herrschaften fast gar nicht.“
„Wir sind eben fremd hier,“ sagte Sophie, „und auch nicht so reich.2
„Was wollen Sie damit sagen?“ fragte der Graf überrascht und blieb, ihr ins Gesicht sehend, stehen. Sie war sehr rot, und mit etwas verschleierter Stimme, ein bitteres Lächeln auf dem Munde, antwortete sie: „Was ich fühle.“
Sie gingen weiter, während der Graf, etwas verlegen, sagte:
„Nun ja, man ist hier, wie anderswo, wohl auch in alte, ganz alte Beziehungen eingelebt und dadurch gegen Zugezogene gleichgültiger, als es sein sollte. Aber mit Vermögensverhältnissen hat das doch nichts zu tun.“
Sophie zuckte die Achseln.
„Uns liegt auch weiter nichts daran. Mir wenigstens gar nichts,“ sagte Elvi, den Kopf mit dem freihängenden Haar zurückwerfend. „Ich glaube, es ist eine ziemlich langweilige Gesellschaft.“
Das schien gerade nicht die Unterhaltung zu werden, die der Graf gehofft hatte. Aber sie gewährte ihm eine neue Perspektive.
Noch nie hatten die Mädchen diese Seiten ihres Wesens entschleiert. Die Bemerkung des Vaters paßte vortrefflich dazu. Was war da vorgefallen?
Er sagte scherzend:
„Wahrhaftig, so liebenswerte, junge amen wie Sie findet man dort nicht.
Sophie sah ihn groß an und streifte dann seine Gestalt bis zu den Fußspitzen herab.
„Darf ich das nicht sagen?“ fragte er mit zauderndem Lächeln.
„Nein!“ entgegnete Sophie so scharf, dass Elvi sie erschrocken anstieß.
„Aber das ist doch nichts Unrechts!“
„Je nach dem! Unter Umständen kann es klingen wie das Tändeln eines Kavaliers mit Försterstöchtern.“
Sie hatte das hastig hervorgestoßen.
„Um Gotte willen!“ rief der Graf und faßte nach ihrer Hand. „Wie kommen Sie zu solchen Gedanken? Dazu habe ich doch wahrhaftig keine Veranlassung gegeben!“
Sie zog die Hand sanft zurück. Er aber fuhr dringlich fort: „Das ist kein augenblicklicher Einfall, dahinter birgt sich etwas anderes! sagen Sie mir, was Sie heute so reizbar macht!“
Als Sophie schwieg, wandte er sich an Elvi: „Sagen Sie es, Baronesse Elvi!“
Elvi zögerte und sah fragend auf die ältere Schwester. Dann sagte sie mit schmollender Miene: „Warum läßt sich auch von Ihren Damen, die doch so nahe sind, nie jemand bei uns sehen?“
Der Graf war sehr betreten. „Sie haben doch mit mir nach dem Tode meines Vaters hier Besuch gemacht,“ erwiderte er.
„Aber, Graf Rothkreuz,“ fiel jetzt Sophie ein, „das war doch nur eine unerläßliche Visite. Komtesse Albertine kommt in der ganzen Gegend herum. hier spricht sie niemals vor.“
Der Graf erwiderte:
„Albertine, ich habe es ja schon gesagt, hat ihre besondere Art. Wenn ich ihr aber ein Wort sage, dass man sie hier gerne sähe, so wird sie ebenso gerne kommen.“
Sophie besann sich, ehe sie sagte: „Ihre Schwester interessiert mich sehr!“
Man war indessen an jenes Gartenende gekommen, das an einen ziemlich großen, regelmäßig viereckigen Teich grenze, auf dem allerlei Pflanzenwerk schwamm, das einen deutlichen Modergeruch ausströmte.
„Gehen wir, hier ist die Luft so schlecht!“ sagte Sophie. Ein Frosch machte sich in nächste Nähe laut hörbar.
„Am Abend geht erst das Konzert los,“ sagte Elvi. „Daher der Name „Froschburg“.“
Ärgerlich rief ihr die Schwester zu:
„Lass doch den ekligen Spottnamen!“
„Warum ärgern Sie sich so über das Scherzwort,“ bemerkte der Graf, „für mich liegt etwas wie Märchenklang darin.“
„Da bin ich doch neugierig! Erzählen Sie uns das Märchen,“ entgegnete Sophie.
„Ja, das kann ich nicht, es ist nur eine Stimmung, ein ahnendes Gefühl.“
„Das ist schade,“ scherzte Sophie, „wir hätten doch gerne gehört, was wir dabei für eine Rolle spielen.“
„Doch jedenfalls die von Märchenprinzessinnen,“ scherzte der Graf dagegen und fügte herzlich mit gutmütiger Ironie bei: „Wenn ich so etwas sagen darf.“ Sophie warf ihm einen Blick voll sanften Vorwurfs zu.
„Sie meinen wohl,“ sagte Elvi, „wir möchten aus unserer Froschburg von einem Prinzen erlöst werden.“ – „Aber Elvi,“ mahnte Sophie. – „Na ja, ich kann mir schon was Schöneres denken als gerade unser Chateau da.“
„Ich finde Grafenwang sehr hübsch gelegen,“ sagte der Graf. „Sehen Sie, gerade von hier aus macht es sich, wie es mit dem grauen Mansardendach und dem rosigen, oberen Stockwerke zwischen den Bäumen hervorlugt, sehr idyllisch und vornehm zugleich.“
„Im Frühjahr, wenn im Garten die Obstbäume alle blühen, ist´s auch wirklich hübsch,“ sagte jetzt Sophie.
„Ich denke mir die Wirkung prächtig im Mondschein,“ meinte der Graf.
Elvi kicherte. Er aber sagte:
„Sie denken daran, dass man mit dem Mondschein allerlei lächerliche Sentimentalitäten in Verbindung bringt? Aber er übt trotz alledem in der Tat eine magische Gewalt auf das menschliche Gemüt aus. Ich schäme mich gar nicht es zu sagen, dass mir solche Mondnächte einen zauberischen Hochgenuß bereiten.“
„Sie machen also sozusagen Mondscheinpromenaden?“ fragte Sophie lächelnd.
„Sehr gerne!“ antwortete der Graf.
„Was halten Sie vom Winter? Ich meine, lieben Sie die Winterlandschaft aber nicht?“ fragte jetzt Sophie neugierig.
„Ich habe den Winter bisher immer in der Stadt zugebracht und Gefallen daran gefunden, wenn dichter Schnee lag. Die eigentliche Winterlandschaft aber werde ich erst heuer ausprobieren.“
„Sie bleiben den ganzen Winter hindurch in Hochrothkreuz?“ fragte Sophie mit ungewollter Lebhaftigkeit.
„Ich habe die feste Absicht.“
„Das ist gescheit! Da hat man doch dann und wann Gesellschaft,“ rief Elvi.
„Das weißt du ja noch gar nicht,“ bemerkte ihr Sophie.
„Schon wieder eine Spitze, Komtesse?“ versetzte der Graf halb scherzend, halb vorwurfsvoll.
„Der Winter ist hier rauh, die Wege bei Tauwetter ein Kotmeer, da ist´s oft schwer aus dem Haus zu kommen. – So meint´ ich´s!“ entgegnete Sophie leise schnippisch im letzten Satze.
„Es wird auch schöne Tage geben, und im übrigen bin ich doch kein altes Weib, das ein rauhes Lüftchen fürchtet,“ sagte der Graf. „Mag ja sein, dass ich einmal in einem Kostüm a la Knecht Ruprecht bei Ihnen erscheine.“
„Um uns Schrecken einzujagen?“ fragte Sophie, gute Laune gewinnend.
„Ja, wen Sie wieder so böse Reden führen wie eben vorher,“ entgegnete jener.
Sie wurde rot und bemerkte leiser:
„Ohne Grund geschah es nicht.“
„Wie? „Försterstöchter?“ – ist dazu ein Grund vorhanden?“
„Das müssen Sie wissen!“
Der Graf schüttelte den Kopf. „Rätselhaft, ganz rätselhaft!“ sagte er dazu.
Man traf wieder mit der Baronin zusammen, mit der der Graf noch eine Weile Unterhaltung führte, ehe er sich verabschiedete.
Auf dem Heimwege überlege er das Erlebte. Die Verbitterung der Deklassierten war ihm entgegengetreten, die mißmutige Empfindlichkeit der verschämten Armut. Er empfand Mitleid mit diesen Rieds und bemerkte dabei, dass sich dieses Mitleid sich eigentlich auf Sophie konzentrierte.
Aber so kurzweg zu helfen war da nicht, und somit war nur etwas Neues in seine Beziehungen zu der Familie gekommen was störend, unbehaglich wirkte, als ob man sich wirklich gar nicht auf den Fuß harmloser Geselligkeit stellen könnte.
Um Albertine handelte e sich besonders, sie konnte den Weg dazu ebnen. Aber er wußte auch, das diese eine starke Abneigung gegen das Unwahrhaftige, Romanistische bei den Rieds hegte. E würde nicht leicht ein, sie zur Anknüpfung näherer Beziehungen zu bewegen. Ohnedem aber war für ihn nicht mehr an einen Verkehr in Grafenwang zu denken.
Wie kam Sophie zu dieser Bemerkung von den Förstertöchtern, womit offenbar eine geringchätzende Tändelei bezeichnet werden sollte?
Sie wußte jedenfalls nicht, dass ihr Schwester eine solche Tändelei und zwar durchaus nicht harmloser Art selber versucht hatte.
Das war einstweilen die Entdeckung, dass sie innerlich litt, dass die Armut ihrer Jugend nicht in harmloser Lebensfreude sich entfalten konnte, sondern verkümmerte unter dem ruck eines unfreundlichen Schicksals. Alles, was nicht den Vollklang des Harmonischen hatte, war ihm eigentlich unsympathisch, wie eine musikalische Dissonanz, er ging ihm gerne aus dem Wege. Sogar der verkrüppelten Schwester gegenüber konnte er nie den ungemischten Ton brüderlicher Liebe finden, fühlte er immer etwas Fremdes, das sich dazwischen stellte.
Jetzt packte ihn auf einmal ein tatenlustiges Mitleid. Dieser Sophie mußte geholfen werden, die durfte nicht verkümmern!
Alsbald beim Abendessen brachte er das Gespräch mit so großer Lebhaftigkeit darauf, dass die beiden Damen ihn höchst verwundert ansahen. Sie waren es von ihm und seiner gelassenen Eleganz des Wesens gar nicht gewohnt, dass er die stärksten Register moralisierender Beredsamkeit aufzug und über Standes- und Christenpflichten sich ereiferte.
Albertine antwortete ihm gelassen:
„Ich habe nicht gewußt, das Sophie von Ried ein besonderes Interesse an mir nimmt, und nach dem bisherigen Eindruck, den ich von ihr habe, konnte ich auch nicht die Vorbedingungen einer näheren Freundschaft finden. Aber wenn dir ein Gefallen damit geschieht, kann ich ja mal nach Grafenwang gehen. Das weitere muss sich dann ergeben.“
„Ah, diese unglücklichen Rieds!“ seufzte die Gräfin-Mutter.
„Es handelt sich ja nur darum, dass man sie nicht förmlich ächtet!“ sagte jetzt der Graf beschwichtigend. „Dazu haben sie doch keinen Anlaß gegeben.2
„Davon ist doch keine Rede. Man steht ja auf offiziellem Besuchsfuß,“ meinte die Mutter. „Wenn übrigens Albertine Gefallen daran findet, ist es mir lieber, sie übernimmt an einer Stelle die Sorge für diese jungen Damen.“
„Wieder Befürchtungen?“ scherzte der Graf.
„Verwunderlich ist dein Eifer einigermaßen. Du bist doch sonst mehr als – sagen wir, liebenswürdiger Egoist veranlagt, der sich nicht so leicht für fremde Interessen erhitzt.“
Der Graf ah seine Mutter einen Augenblick etwas überrascht an. Dann sagte er:
„Es ist wahr, ich habe, ohne hartherzig sein zu wollen, nicht das Zeug zum Philanthropen in mir. Aber hier…“
„Handelt es sich um die Wünsche eines hübschen jungen Mädchens,“ fiel ihm die Mutter mit Humor ins Wort.
„´s ist doch mehr!“ versetzte der Graf ernst.
„Ich habe ja auch nichts dagegen, wenn man den armen Dingern etwas zur Hilfe kommt,“ sagte jene jetzt gutmütig. „Aber nur Vorsicht, sich vor peinlichen Positionen hüten!“
Albertine fiel die kürzliche Begegnung mit den beiden Baronessen in Heiligenkreuz ein. Es konnte wohl sein, dass hier ein gutes Werk in neuer Richtung zu tun war, etwas, was mehr bedeutete als nur eine gesellschaftliche Liebenwürdigkeit.
So wenig Neigung sie zu letzterer bei ihrer ganzen Anschauung über die Riedsche Familie hatte, so lebhaft faßte sie die erstere auf. Einige Tage ließ sie vergehen, dann verlangte sie eines Morgens die Equipage von ihrem Bruder. Für einen langsamen Ritt auf dem Maultier war es doch etwas zu weit nach Grafenwang.
Als sie dort um elf Uhr ankam, wurde sie von einer Magd in den „Salon“ geführt und mußte geraume Zeit waren.
Erst erschien Sophie, mit hastender Verlegensheitsmiene Entschuldigungen sprechend.
Albertines gelassene Freundlichkeit verwandelte das verlegene Wesen schnell in den Ausdruck sich beherrschender, aber doch in den Augen erkennbarer Freude. Durch jene Begegnung in Heiligenkreuz war der erste Anknüpfungspunk des Gesprächs gegeben.
„Gehen Sie öfters dahin?“ frage Albertine.
„Ach ja,“ lautete die Antwort, „der Weg ist sehr schön und wenn man einmal dort ist, geht man doch auch in die Kapelle. Wir beichten auch in Heiligenkreuz, alle vier Wochen.“
Man sprach nun über die Insassen des Klösterchens, die Sophie nicht näher kannte, und diese kam zu der Bemerkung:
„Es ist ein harter Beruf. Ich möchte nicht einmal Klosterfrau ein, nun erst diese Kapuziner!“
„Es ist ja auch nicht jedermanns Sache,“ entgegnete Albertine, „Sie sind wohl lebenslustig?“
Sophie sah sie vorwurfsvoll fragend an.
„Das ist ja nichts Böses,“ fuhr sie lächelnd fort.
„Wenn man jung, hübsch und gesund ist, hat man ein Recht dazu.“
Die Betonung des Wörtchens „gesund“ veranlaßte Sophie, von dem kürzlichen Unwohlsein der Gräfin zu sprechen.
„Reden wir nicht weiter davon,“ versetzte diese. „Aber ich gönne es eben jedem jungen Mädchen, wenn es sich des Lebens freut, weil ich weiß, was man entbehrt.“
Sophie erwiderte, leise lächelnd:
„Na, allzuviel Lebensfreude hat man hier auch als Gesunde nicht.“
„Sie sind nicht gerne hier?“
„Die Gegend wäre ja ganz schön. Aber es ist so einsam,“ sagte Sophie mit einem Sehnsuchtston.
„Sie haben ja eine Schwester.“
„Die ist viel jünger und auch anders geartet als ich.“
Als wollte sie den Eindruck ihrer Worte verwischen, setzte ie lebhaft hinzu:
„Wir haben uns natürlich sehr gern. Aber ich war im Kloster an Freundinnen gewöhnt. Mit einer Schwester kann ich mich doch nicht so aussprechen.“
Auf Albertines Anregung erzählte sie nun lebhaft vom Pensionatsleben und meinte schließlich: „Ich habe noch mit mehreren meiner Freundinnen Korrespondenz. Aber ich habe ihnen so wenig zu erzählen, und da schläft natürlich die Korrespondenz mehr und mehr ein. Ich kann ja nichts bieten, gegen das, was sie mir schreiben.“
Die Baronin trat ein und gleich darauf Elvi. Jetzt wurde die Unterhaltung etwas steif. Sophie brachte es aber nach einer Weile fertig, ganz allein mit der Komtesse im Garten promenieren zu können. Sie gab ihrer Freude über das Gelingen dieser Intrige in kindlicher Weise Ausdruck, und: „Ich will Sie für mich ganz allein haben,“ fügte sie lebhaft hinzu. Ich interessiere mich ja so für Sie! Graf Theodor hat Ihnen das doch gesagt?“
„Er sagte mir,“ antwortete Albertine, „Sie mißdeuteten den Umstand, dass ich mich auf die offiziellen Besuche beschränke. Aber wie kann ich ahnen, dass Sie den Umgang mit einer kränklichen alten Jungfer ernstlich begehren sollten! Ich habe die Einsamkeit sehr gern. Ihnen fällt sie offenbar schwer.“
„O nicht bloß deshalb, um eine Unterhaltung zu haben, sehnte ich mich nach Ihrem näheren Umgang,“ versetzte Sophie. „Ich möchte viel, sehr viel von Ihnen lernen.“
„Von mir?“ sagte Albertine lächelnd. „Ich bin viel unwissender, als Sie wohl denken. Bei der Gouvernantenerziehung lernt man nichts Besonderes, und in Gesellschaft bin ich, mit dem Bein da, auch nicht viel gekommen.“
„Das ist es nicht, was ich meine,“ erwiderte Sophie leise, in sehr ernstem Ton.
Da legte Albertine den Arm um ihre Taille und sprach: „Liebes Kind! Ihnen raten, so gut ich kann, wenn Sie einmal des Rates bedürfen, da will ich gern. Schatten gibt es ja mehr oder minder in jedem Leben. Aber ein so hübsches, junges Mädchen braucht Sonne, viel Sonne. Die wird sich auch beschaffen lassen, aber nicht von außen her, sondern von innen heraus muß sie kommen, wenn sie richtig wirken soll. Da drinnen im jungen herzen müssen Licht und Wärme wohnen.“
„Schön, wenn Sie so sprechen,“ bemerkte Sophie, „Klingt es wie Musik.“
„Keine Überschwänglichkeiten! Was ich da sage, ist ja nichts weiter als eine alte Weisheit.“
„Leichthin in Heiligenkreuz war ich ganz eifersüchtig auf Sie. Ich sah, wie Sie das Bauernmädchen, das Sie begleitete, küßten – – -“
„Ah, meinen Liebling, das Bachlschuster-Katherl!“
„Das war so schön und e war doch nur ein Bauernmädchen.2
„N u r dürfen Sie nicht sagen.“
„Ja, das ist´s eben, wovon ich sprechen wollte. Es muss doch Standesunterschiede geben – – -“
„Sie sind da. Ob sie eigentlich da sein müssen, das ist eine andere Frage.“
„Aber Komtesse, das kling ja beinahe demokratisch?“
„Wie kommen Sie zu dieser politischen Redensart, liebes Kind? Damit haben wir´s gar nicht zu tun. Ich ehre meinen Stand als ein Geschenk Gottes. Aber über das Standesgefühl hinaus geht das Gefühl der Menschenliebe.“
„Ja, das schon. Aber zwischen Ihnen und einem Bauernmädchen ist doch nun einmal eine so große Kluft….“
„Dass ich es nicht sollte küssen dürfen?“
„Dürfen schon. Aber dass Sie dazu überhaupt die Neigung empfinden, das verstehe ich nicht.“
„Nur weil Sie eine Kluft sehen, die Sie für unüberwindlich halten? Das ist sie aber eben ganz und gar nicht, wenn wir uns nur erst gewöhnt haben, über allerlei Vorstellungen hinwegzukommen, die eigentlich nur ästhetischer Natur sind. Äußerlichkeiten sind e in der Hauptsache, die uns hindern, unsere niedrigeren Brüder und Schwestern als unseresgleichen anzuerkennen.“
„Was Sie die Äußerlichkeiten nennen, das ist aber doch etwas sehr Wichtiges, Bildung, feines Benehmen.“
„Bildung! Und wenn die richtige Bildung gerade den Trieb in sich schlösse, auf andere geistig ärmere Menschen, eine wohltätige Macht auszuüben, auf sie helfend, fördernd zu wirken? Ich meine die Bildung, von der nicht bloß der Verstand, sondern auch das Herz etwas mitbekommen hat.“
Sophie entgegnete etwas zögernd:
„Graf Theodor sagte mir neulich auch, dass er keine rechte Stellung zu den Bauersleuten finden könne.“
„Theodor, ja der! Das ist ein großstädtischer Schönheitsmensch, ein Ästhetiker, der die Welt nur in Gala sehen will. Er hat ja ein ganz gutes Herz, aber er weiß vorläufig damit nur Verschwendung in Träumereien zu treiben.
„War es eine Verschwendung, dass er Sie veranlaßte, hier her zu kommen?“ fragte Sophie in scherzendem Ton.
Albertine drücke ihr lächelnd die Hand und sagte:
„Ich hoffe und ich glaube es nicht. Sie suchen ja auch den Weg zum Guten, nicht wahr?“
Sophie nickte lebhaft zustimmend und sah der Komtesse dabei mit warmen Blick in die Augen.
„Nun ja, da werden wir, wie verschieden wir auch sein mögen, uns schon verstehen lernen, deshalb brauchen Sie noch kein Bauernmädchen zu küssen, wenn´s Ihnen nicht paßt.“
„Sie haben mir meine Bemerkung doch nicht verübelt?“ fragte Sophie.
„I wo!“ lautete die Antwort. „Mit dergleichen wollen wir die Freundschaft doch nicht gleich anfangen?“
„Also wirklich Freundschaft?“
„Das war doch die Absicht?“
„So lieb so lieb!“ jubelte Sophie und küßte die Komtesse innig.
Diese verabschiedete sich von der Baronin und Elvi und fuhr dann ist dem Bewußtsein fort, wieder einmal ein Menschenkind glücklich gemacht zu haben.