Der schöne Wahn – Kapitel 4

Die grünen und rotbraunen Blätter lagen dicht auf den Wegen, und der eine oder andere Baum streckte sein Geäst schon kahl in die Luft.
Da ging eines Tages ein Klopfen, Sägen und Krachen los, das der Gräfin-Mutter und Komtesse Albertine in die Seele drang.
Der Plan des Grafen kam zur Ausführung, den Berghang hinab einen Durchschlag zu machen, der die Aussicht auf eine Wiesenfläche öffnete.
Im nächsten Frühjahr sollte der Durchschlag dann mit Steinstufen versehen werden.
Eine alte Gewohnheit des täglichen Ausblickes erlitt da eine gründliche Veränderung, die zunächst das Bild einer grausamen Zerstörung bot.
„Die Birke! Albertine, sie schlagen die Birke um!“ schrie die Gräfin-Mutter ihrer im Nebenzimmer sitzenden Tochter entsetzt zu, als sie sah, wie der hochaufragende Baum, der mit seiner mächtigen Perücke den Hang ein besonderes Kennzeichen verlieh, von den Beilen in Angriff genommen wurde, und Tränen kamen ihr in die Augen, als er sich langsam neigte.
Bei dem Grafen ließen sie sich von ihrer tiefen Verstimmung nichts merken. Sie wollten ihm die Freude nicht verderben, denn was ihnen Zerstörung war, war ihm etwas wie schöpferische Tat, die ihn so lebhaft beschäftigte, wie nichts anderes bisher im Gutsbetriebe.
Sophie war auf die besondere Aufforderung Albertines, die inzwischen zum zweiten Male in Grafenwang gewesen war, herübergekommen. Man hatte ihr den Wagen geschickt. Der Graf fragte sie, mit ihr und Albertine am Fenster stehend, um ihre Meinung. Der Durchschlag war schon vollendet, auf der Strecke lagen aber noch mächtige Reste, die mit der Säge zerkleinert wurden.
„Ich begreife sehr wohl, was Ihnen vorschwebt, Herr Graf,“ sagte sie. „Im Frühjahr und Sommer und namentlich zu gewissen Tageszeiten, wird sich der Blick zwischen den schönen Baumgruppen auf die Wiese hinab sehr gut machen.“
Als er nun näher erklärte, wie an die Steinfstufen in Zwischenräumen Pfeiler kämen, die Blumenkörbe trügen, und unten auf die Wiese ein Tempelchen mit einer Figur, da meinte sie:
„Paßte das nicht eher zu einer Villa als zu einem solchen Schloße?“
Jetzt kam der Graf in sein Element.
Eifrig sprach er über italienische Gartenkunst und die Wirkung der Architektur und Plastik in ihr.
„Aber wir sind nicht in Italien,“ entgegnete Sophie, „und ich finde, dass die deutsche Parkanlage in ihrem stillen Naturtreiben viel sinniger ist, gemütlicher.“
Der Graf schwieg.
„Jetzt denken Sie sich, ich ei ein richtiges deutsches Gänschen!“ fügte sie lachend bei.
Der Graf sah sie fest an und schüttelte den Kopf.
„Ich freue mich über Ihre tapfere Opposition,“ sage er. „Aber die fertige Tatsache wird mir recht geben. Von Ihnen lasse ich mir auch das fatale Wörtchen „gemütlich“ gefallen, mit dem so viel Unfug getrieben wird, denn Ihnen traue ich zu, dass Sie damit auch einen deutlichen Sinn verbinden, der mehr bedeutet als ein verschwommenes Wohlbehagen der spießbürgerlichen Gedankenträgheit.“
„Ach, Graf, jetzt überschätzen Sie wieder meine Weisheit!“ entgegnete Sophie. „Ich wäre in großer Verlegenheit, verlangen Sie von mir eine genaue Erklärung darüber, was ich unter „gemütlich“ verstehe. Für mich handelt es sich da um einen Zustand, der etwas Ähnliches bedeutet wie von unsichtbaren Stimmen gesungene Lieder ohne Worte.“
„Solche Zustände gibt es verschiedene,“ warf jetzt Albertine ein. „Sie gehören alle in das wunderbarschöne Gebiet der Mystik.“
„Baronesse,“ bemerkte der Graf, „wenn Sie lange mit uns beiden da verkehren, träumen Sie von Zwittergeschöpfen märchenhaftester Art, denn wir zwei tragen Ihnen aus Heidentum und Christentum Stoff zu.“
„Du bist gar nicht der Heide, als der du dich hier aufzuspielen die Laune hast,“ sagte Albertine. „Wär´s an dem, so würde ich dir die liebe Sophie schon zu entreißen wissen.“
„Auf zum Kampf um die holde Jungfrau,“ scherzte der Graf. „Haben Sie keine Angst, Baronesse!“
„Ich fürchte mich auch gar nicht,“ entgegnete diese heiter. „Ich wüßte schon meinen Weg zu finden, käm´s darauf an.“
Und sie sah zärtlich auf Albertine, deren Hand leise drückend.
„Wollen Sie mich eifersüchtig gegen meine Schwester machen?“ fragte der Graf humoristisch, aber er fühlte dabei eine leise Verstimmung. Sollte er von einer Mädchenfreundschaft beiseite geschoben, in die Rolle des mitlaufenden Dritten gedrängt werden?
„Was hätte hier die Eifersucht zu suchen?“ fragte Sophie und sah in voll an. Etwas Verweisendes, als hätte er gegebene Schranken überschritten, lag ganz leise in Ton und Blick. Sie war wahrhaftig wie eine Prinzessin, die eine Rüge erteilt.
Die Gräfin-Mutter gesellte sich zu den jungen Leuten bei und erwies sich Sophie sehr freundlich. Bei Anbruch der Dunkelheit wurde diese von der gräflichen Equipage wieder nach Hause gebracht.
In der nächsten Folgezeit fand der Graf immer neue Anhaltspunkte für die Ansicht, dass die Annäherung Sophiens an seine Schwester eine gewisse, wenn auch äußerlich kaum wahrnehmbare Entfernung von ihm bedeutete.
Als er wieder einmal allein nach Grafenwang kam, sprach sie viel zu viel von Albertine, und er hatte zugleich das Gefühl, dass sie seinen mannigfachen Bemerkungen nicht mehr jenes lebhafte Interesse schenkte wie früher.
Einmal begleitete er Albertine dorthin und er sah sich hauptsächlich auf die Unterhaltung mit Elvi angewiesen. Und als Sophie wieder nach Hochrothkreuz kam, half sogar die Gräfin-Mutter mit, ihn in den Hintergrund zu drängen. Diese Umstände verstimmten ihn für den Augenblick. Weitere Folge gab er der Verstimmung nicht, denn er hatte in den mannigfachem Umänderungen für den Winter und dann in der Prüfung von Plänen für den sofort im Frühjahr aufzunehmenden Umbau der Inspektorwohnung wieder Anlass zu geschäftigem Eifer. Damit nicht genug, legte er sich besondere Winterbeschäftigung zurecht, und zwar die Reorganisation der Bibliothek und die Neuordnung des bedeutenden Familienarchivs.
Ein junger Gelehrter in München war einer Einladung auf einige Tage gefolgt und hatte nach flüchtigem Überblick ihm die Anleitung zu einer solchen systematischen Ordnung gegeben, die er nun persönlich durchführen wollte.
Allerlei Hilfsliteratur über Bibliotheks- und Archivwesen häufte sich in seinem Arbeitszimmer, und sein Münchener Buchhändler war wohl zufrieden über einen so seltenen Kunden, der sich die umfassendsten Ansichtssendungen schicken ließ, von denen nur ein geringer Bruchteil wieder zurückging.
Sophie fühlte sich zunächst innig beglückt durch die sichere Aussicht, auf Hochrothkreuz ein dauerndes Asyl der Freundschaft gefunden zu haben. Ihr war so wohl bei der milden Vornehmheit dieser Menschen in der Umrahmung eines mit der Geräuschlosikgkeit es Selbstverständlichen wirkenden Komforts. Man wies sie zu Hause darauf hin, dass es damals auf der eigenen oberpfälzischen Besitzung mindestens ebenso gewesen sei.
Sie konnte sich dessen wohl entsinnen, aber dass diese Erinnerungen an ein „Habe gehabt“ eine andere als eine höchst schmerzliche Wirkung mit allerlei Nebengedanken haben sollten, vermochte sie nicht zu begreifen. Vielmehr hatte sie noch nie mit so bitterem Gefühl ihre Lage betrachtet als bei diesen naserümpfenden und achszelzuckenden Prahlereien mit Gewesenem, in denen sich Vater wie Mutter gefielen, wenn sie so warmherzig von Hochrothkreuz sprach. E entwickelte sich in ihr eine fast heimwehartige Sehnsucht dahin und zu den dortigen lieben Menschen bei einer nur mühsam beherrschten Gereiztheit gegen die eigenen Angehörigen.
Eines Tages kam diese zu einem heftigen Ausbruch, als Elvi sich spöttelnde Bemerkungen über ihre „krumme“ Freundin erlaubte. Sophiens Zorn gegen die Schwester schlug die Mutter mit der Bemerkung nieder:
„Na, so hoch steht die Komteß Rothkreuz doch nicht über uns, dass man sich keine scherzhafte Bemerkung erlauben dürfte. Das wäre etwas anderes, wenn du schon ihre Gesellschafterin wärest.“
„Gesellschafterin? Wie kommst du darauf, Mama?“ fragte Sophie erstaunt.
„Sehr einfach, liebes Kind. Die Wahrnehmung, dass die Komtesse Gefallen an dir findet, hat mir den Gedanken nahegelegt. Es ist mir keine kleine Sorge, was aus euch Mädchen werden soll. Hier ist ein Anknüpfungspunkt für die Zukunft gegeben. Wäre da nicht, dann würde ich den näheren Verkehr mit der hochmütigen Sippe gar nicht dulden. Die Gräfin-Mutter findet es ja auch jetzt noch nicht der Mühe wert, mich zu besuchen oder, wie dich, zu einem Besuche einzuladen. Nur unter dieser Perspektive ignoriere ich das eigentümliche Verhältnis zu mir.“
Sophie war starr, und, heiße Röte im Gesicht, suchte sie den Gedanken zu fassen, dass sie dort bei ihren neuen „Freunden“ in eine dienende Stellung geraten sollte. In eine dienende Stellung auch Graf Theodor gegenüber! Das zumal war etwas, was ihr besonders schrecklich schien.
„Du kannst dir ja gar nicht Besseres wünschen, wenn du so für dieses Haus schwärmst,“ meinte die Baronin gelassen. „Oder“, setzte sie hinzu, „hast du dich etwa mit der Illusion getragen, Graf Rothkreuz könnte dich vielleicht heiraten? Ich habe in diesem Punkte zwar nicht Papas schroffe Ansichten, aber ich bin doch weltklug genug, mir den richten Vers auf die Kurmachereien des Herrn Grafen zu machen.“
„Graf Rothkreuz hat mir nie die Kur gemacht, und ich habe nie darüber nachgedacht, wie wir eigentlich zueinander stehen. Wenn du aber solche Nebengedanken hat, dann ist es sonderbar, dass du daran denkst, mich dort zur Gesellschafterin machen zu wollen.
Sophie hatte das mit verhaltener Gereiztheit gesagt.
„Ja, liebes Kind,“ entgegnete ihre Mutter. „Da würdest du eben zu zeigen haben, was deine Klostererziehung wert ist. Wir sind noch nicht soweit, aber ich fürchte leider, dass der arme Papa sich nicht mehr sehr lange wird halten können. Dann muss aber irgend etwas mit euch geschehen.“
Beide Mädchen schlugen betroffen die Augen nieder.
Elvi erholte sich bald wieder, und als sie allein waren, sagte sie leichthin:
„Wir haben doch in Österreich reiche Verwandte. Die können uns nicht im Stich lassen, wenn es gar nicht mehr geht. Ich bin froh, wenn ich aus dem Loch heraus bin.“
Sophie aber litt schwer. Die Menschen in Hochrothkreuz waren ja so gut und wohl imstande, bei einem Zusammenbruch sie bei sich aufzunehmen. Sie aufzunehmen wie eine Bettlerin um der Barmherzigkeit willen! Und doch war dies besser als draußen bei ganz fremden Leuten weiß Gott welche Demütigungen erdulden zu müssen. Wenn eben nur Graf Theodor nicht gewesen wäre.
Immer schwebte ihr seine schlanke Gestalt, sein sonnig selbstbewußtes Lächeln vor. Sie schämte sich so vor ihm, und sie hatte so Furcht vor ihm.
Alles, was sie jetzt Mangelhafte zu Hause sah, irgendein fehlerhafter Gegenstand, ein Flecken an ihren eigenen oder an Mamas oder Elvis Kleidern, flößte ihr schmerzlichen Widerwillen ein. Angstvoll las sie in den Mienen des Vaters, die bald ruhiger, bald trauriger und nervöser, nie heiter waren.
Der Winter war gekommen und die ganze Landschaft in dichten Schnee gehüllt, aus dem Dunkelgrün der Fichtenwälder in Streifen und Flecken hervorbrach. Da kam einmal Graf Theodor unter Schellengeklingel angefahren. Die prächtigen Eisenschimmel mit den langen weißen Mähnen und Schweifen trugen blauweiße Haarbüsche mit silbernen Gestellen, und sie sah am Fenster aufmerksam zu, wie er die mächtige schwarze Bärendecke zurückschob und aus dem dunkelblauen Schlitten stieg, dessen rote Kufen auf jeder Seite in ein Zierwerk mit goldenen Braken, die das Wappenschild trugen, ausliefen.
Er war in einen schweren Pelz gehüllt, eine runde Mütze bedeckte den Kopf, die er lüftete und schwenkte gegen das Fenster. Des Pelzes entkleidet, betrat er das Zimmer, ging auf die Damen mit auffallender Fröhlichkeit zu und pries den herrlichen Wintertag.
„Es war eine gute Idee Mamas, die mich veranlaßte, nicht in die Stadt überzusiedeln,“ sagte er, „diese Wechselwirkung der warmen Höhle, in der man zu Hause sitzt, und der frischen Schneeluft wirkt großartig auf das Gemüt.“
Liebenswürdig plauderte er von seinem Leben als „Bücherwurm“, von den prächtigen Sonnenuntergängen der letzten Tage und von seinen beiden Förstern, bei denen er alle Achtung einbüße, wenn er nicht bald eine Treibjagd ansagen ließe.
„So haben wir überall irgendeine Standeslüge,“ sagte er. „Weil ich Kavalier und Gutsbesitzer bin, muß ich mich auf einer Treibjagd langweilen und darf dann beim Diner erst recht langweilige Jägerwitze in infinitum ahren. Tu´ ichs nicht, komm´ ich ins Gerede, als wäre ich ein ganz unmoralischer Mensch.“
„Noblesse oblige!“ meinte die Baronin.
„Ich bin sehr für das Wort. Aber ist denn heute noch, wo jeder Münchener Bierwirt oder Schweinemetzger eine Jagd hat, das Weidwerk eine ritterliche Beschäftigung? Heutigen Tages muß sich der Adel zu Beschäftigungen flüchten, die ihm nicht der nächste beste nachahmt. Es gibt gottlob noch viele Dinge, die man um Geld allein nicht haben kann.“
Herrlich war das gesprochen worden, mit zornigem Blick und verächtlicher Mundbewegung. Nie war er Sophien so schön erschienen, nie hatte er sie so mächtig angezogen.
Während des ganzen weiteren Gespräche war sie so zerstreut, dass sie nur mit sehr schwächlichen Bemerkungen und Antworten sich daran beteiligen konnte, aber sie wendete kein Auge von der edlen Jünglingsgestalt.
Ja, er war zum Herrschen geboren, und ein Hermelin hätte ihn wohl gekleidet! Ein unendliches Behagen, eine seltsames schöne Zufriedenheit gewährte es, ihn zu beobachten.
Als er Abschied nehmend ihr die Hand reichte, da konnte sie seinen freundlich heiteren Blick nicht ertragen. Hastig nahm sie ihre Hand zurück. Es war ihr so heiß im Gesicht geworden.
Das Schellengeklingel des abfahrenden Schlittens drang ihr in die Seele, wie ein an sie gerichteter festlicher Gruß, dem sie lauschte und lauschte mit verhaltenem Atem, bis auch nicht das leiseste Tönchen mehr zu hören war. Dann besann sie sich. War war mit ihr geschehen? „Es gibt noch etwas, was man mit Geld allein nicht haben kann!“ das war ein so schönes Wort. Es hatte ihr wohlgetan.
Jetzt, da sie daran dachte, stand auch ganz deutlich das Bild des Grafen vor ihr. Und die Vorstellung war wieder so angenehm, und sie glaubte wieder das Schellengeklingel zu hören, und nun war´s, als ob eine geheime Macht sie zwänge, die Arme auszustrecken, dorthin, gegen Hochrothkreuz zu.
War das die Liebe? Wie sie erschrak! Das durfte, das konnte ja nicht sein! Sie war ja ein armes Mädchen, das… Jetzt überwältigten sie die Gedanken. Fort, ihn nie mehr sehen, das war, als sähe man in einen Abgrund, das auszudenken machte Angst.
In seiner Nähe, immer in seiner…. das war wunderschön.
Sie fühlte gar kein Bangen mehr davor sie fürchtete ihn gar nicht mehr… Aber nicht mehr allein wollte sie sein im dunkel gewordenen Zimmer, Sie sah zu, wo Elvi und Mama geblieben waren.
Als sie dann ihren Tee mit dünn belegten Butterbrötchen nahmen, sah sie ihn sitzen bei Albertine und der Gräfin-Mutter, wie ihm der Livreediener die Speisenplatte reichte, und dann war es wieder, als ob sie das Schellengeläute höre.
Es war ja nichts Schlimmes, wenn sie in den nächsten Tagen gern mit der Vorstellung seiner Gestalt spielte und immer wieder hinüberdachte nach Hochrothkreuz.
Das war so süß, und jeden anderen Gedanken, der sich störend dazwischendrängen wollte, verjagte sie mit ärgerlicher Ungeduld. Sie hatte keine Photographie von ihm.
In einem ihrer Gebetbücher aber war ein Bildchen des heiligen Michael, das sie einmal im Kloster von einer Freundin geschenkt bekommen hatte. Man brauchte dem schwarzgelockten Erzengel nur ein kleines Schnurrbärtchen aufzusetzen, und es war eine Ähnlichkeit mit dem Grafen da. So etwas war wohl Sünde, aber nach einigem Zaudern kam doch mit einer Feder der Schnurrbart auf St. Michaels Gesicht.
Schlimmer war aber schon, dass sie am folgenden Sonntag vergaß – wirklich nur vergaß – das Bildchen aus dem Buch zu nehmen, und nun auch während der Messe in der Pfarrkirche sich nicht versagen konnte, zeitweilig die Seite aufzumachen, wo es steckte, obwohl die Gebete auf dieser Seite keine Meßgebete waren.
Zu Hause nahm sie denn auch gleich das Bild heraus und legte es in ein seltener benutztes Andachtsbuch.
Acht Tage nach jenem Schlittenbesuch des Grafen erklang zu Sophiens freudigen Schreck wieder das Schellengeläute.
Der Graf lenkte, einen Diener neben sich, den Schlitten selbst, und Komtesse Albertine saß darinnen. Indessen ihr Bruder zu Sophiens Verwunderung sitzen blieb, trat die Komtesse ins Haus und lud sie zur Spazierfahrt ein.
Sie hatte auch ein seidenes Tuch mitgebracht, das Sophie über Hut und Ohren binden mußte, obwohl sie sich dagegen sträubte, weil es so scheußlich aussehe.
Es war eine schnelle Fahrt, die man in der Richtung des Amtsstädtchens Haltenburg machte. Der Graf wendete sich hier und da mit einem Scherzwort zu den Damen um; aber die scharfe Luft lud nicht gerade zu vielem Sprechen ein, sondern man verkroch sich gern in die Vermummungen, nur die Nase und ein Stückchen Wange auf jeder Seite der prickelnden Kälte freilassend.
Deshalb langweilte sich Sophie doch nicht. Ja, als sich ihrer, unter dem Einfluß der Kälte und des weichen, unter taktmäßigem Schellengeläute Dahingleitens, ein Gefühl der Schläfrigkeit bemächtigte, da war ihr in diesem Zustande blinder Betäubung erst recht wohl. Ein lautes Gelächter ließ sie erschreckt auffahren.
Der Graf hatte sich umgewendet, die Damen auf den Blick in die Berge aufmerkam zu machen. Man durchfuhr eben die breite Spalte zwischen den beiden Höhenzügen, und das durch die klare Reinheit der Luft ganz nahegerückte Gebirge zeigte sich in seiner leuchtend blauen Pracht, die von mächtigen Schneegefilden unterbrochen war. Albertine sowohl wie Sophie aber waren eingeschlafen.
Sophie lächelte zu des Grafen Lustigkeit ganz mechanisch, und sie fühlte, dass sie gar nicht den rechten Ton zur Bewunderung des großartigen Landschaftsbildes finden konnte. Sie war verwirrt, nicht bloß vom jähen Erwachen, sonders besonders von der Nachwirkung der Träumerei, über die sie eingeschlafen war. Es war so ganz ohne ihren Willen über sie gekommen, als führe sie nicht als Gast im Schlitten, sondern als – Gräfin Rothkreuz, in täglicher Ordnung, die liebe Schwägerin zur Seite.
Jetzt war es ihr, als könnten der Graf oder Albertine das törichte Spiel durchschauen, und zugleich kam ihr diese Landschaft furchtbar öde vor. Die blauen Bergrücken mit ihren weißleuchtenen Schneemulden waren ihr Sinnbilder erstarrender Kälte, tödlicher Einsamkeit.
Sie kam erst wieder so ganz in Stimmung, als man in ein Dorf einfuhr und auf Albertines Vorschlag im Wirtshause ausstieg. Im tüchtig geheizten niederen Herrenstübchen mit dem großen, schwarzen Kachelofen schälte man sich aus den Kleidern.
Albertine befahl der stattlichen Wirtin die Zurichtung von Kaffee. Man scherzte über die grellbunten Schlachtenbilder an den Wänden der niederen Stube, in der man sich hin und her bewegte, die durchfrorenen Glieder zu beleben. Der Graf war bester Laune, auch Albertine sehr heiter.
Als der Kaffee kam, ließ sich Albertine in ein langes Gespräch mit der vor ihr stehenden Wirtin ein. So kam es, dass Sophie die Aufmerksamkeiten des Grafen allein überlassen blieb. –
Wieder zu Hause, schien es ihr, als hätte sie ein besonderes Fest erlebt, dessen Bilder sie unablässig umgaukelten.
Wenige Tage nach dieser Schlittenfahrt Sophiens kam Baron Ried, der in München gewesen war, sehr erregt zurück und wies sofort die Töchter aus der Stube, da er mit Mama allein zu sprechen habe.
„Es ist aus,“ sagte er, im Zimmer hin und her laufend und sich nervös die Haare streichend. „Die Schufte haben mich endlich ans Messer gebracht, ich bin reif zum Abschlachten. In längstens acht Tagen muss ich sechstausend Mark hinlegen, oder sie verkaufen uns das Bett unter dem Leibe.“
„Sechstausend Mark! Und kein Ausweg mehr, unrettbar Bankrott?“ frage die Baronin.
„Keiner! Ich habe mir die Beine ausgelaufen zu den berüchtigsten Halsabschneidern, mich wie ein Hund gedemütigt, nichts, gar nichts! Ja wohl, da und dort hohnlachende Redensarten, dass die Kiste hier ja doch eigentlich gar nie mir selber gehört habe.“
Die Baronin meine leise.
„Und mit sechstausend Mark wäre dir ganz geholfen?“
2Bis zur nächsten Ernte wenigstens könnte ich mich halten!“ lautete die Antwort, und schärfer fuhr der Baron fort:
„Aber was bedeutet das Gerede? Ich hab´ sie eben nicht und kriege sie nicht. Am allerwenigsten von deinen lieben Verwandten, die uns kaltlächelnd untergehen lassen.“
„Sie haben früher doch schon mehrmals geholfen!“
„Das hab´ ich genug mir sagen lassen müssen. Soll ich´s nach dem letzten Brief von Vetter Franz vielleicht noch einmal versuchen? Damit ich wieder höre, mir sei überhaupt nicht mehr zu helfen, solange ich selbstständig wirtschafte?“
Eine Weile saß die Baronin weinend und nachdenklich da, während ihr Gatte furtfuhr auf- und niederzuschreiten. Dann sagte sie plötzlich:
„Nur Graf Rothkreuz kann uns helfen!“ Der Baron blieb stehen.
„Wird ihm einfallen!“ stieß er hervor. Dann setzte er ruhiger hinzu: „Der junge Mensch kümmert sich um Geschäfte gar nicht. Bestenfalls würde er einen Inspektor um Rat fragen, und der ist ein kaltherziger Ziffernmensch – das weiß man schon in der ganzen Gegend. Er wird ihm dringend abraten. Was soll ich mich da auch noch vergeblich bloßstellen? Meinst du vielleicht, ihm ist die Kurschneiderei sechstausend Mark wert?“
„Er ist ein Kavalier!“
„Das sind deine Verwandten auch. Damit laß mich in Ruhe! Oder – – – – ich will nicht hoffen, dass du mit gewissen Dingen leichtsinnig spielst!“
„Unsinn!“ entgegnete die Baronin. „Was ich meine, ist eben dies, dass er nicht geschäftlich rechnet, sondern nur aus Courtoisse gegen ein ihm befreundetes Haus zu handeln sich gezwungen fühlt. Mir wird sogar ein anderer Plan vielleicht damit verdorben. Aber das ist nun nicht zu ändern.“
Der Baron erkundigte sich nach diesem Plan und die Baronin erläuterte ihm ihre Gedanken von dem Gesellschafterinnenposten bei Rothkreuz. Dann fuhr sie fort: „Jetzt kann es sein, dass sie sich, wenn sie das Geld gegeben haben, scheu von uns zurückziehen aus Furcht, in noch mehr verstrickt zu werden. Mit den Mädels muß aber etwas geschehen, zunächst mit Sophie. Das ist jetzt nicht mehr zu verschieben. Kusine Anna hat mir bestimmt versprochen, noch vor drei Monaten etwas ausfindig zu machen bei ihren großen Verbindungen, wenn es nötig werden sollte. Ich schreibe sofort an sie.“
„Du kennst eigentlich den jungen Rothkreuz besser als ich,“ sagte der Baron nach einer Weile Nachdenkens. „Du meinst also, er würde vielleicht- – -“
„In der Lage, wie du sie schilderst, muß jeder mögliche Versuch gemacht werden!“
„Gerade bei ihm ist´s mir ein schwerer Gang. Immer hat es mich gewurmt bei aller Plackerei und Sorge, diese Üppigkeit dicht vor der Nase zu haben, an allen Ecken und Enden zu hören „der Graf“ und wieder „der Graf“ und zu fühlen wie man mich spöttisch damit vergleicht!“
„Ja, mit Sentiments darfst du dich jetzt nicht abgeben!“
„Ich hasse ihn und – – – – – wenn was passierte, wie einen tollen Hunde schösse ich ihn nieder. Ich sag´ dir´s, wie einen tollen Hund!“
„Was soll den passieren? Statt dich in solche zwecklose Phantastereien einzuspinnen, denke daran, wie du ihn am besten nimmst. Nur nicht ängstlich, nicht aufgeregt, wie ein Bittsteller, sondern ganz eavalièrement als Hausfreund, der eine Gefälligkeit verlangt, so mußt du ihm entgegentreten.“
„Ist´s mal so weit, dann überlaß mir die Komödie! Man hat dergleichen im Laufe der Zeit gelernt.“
„Ist´s einmal so weit? Was heißt das? Morgen früh machst du dich auf nach Hochrothkreuz!“
Der Baron zauderte noch eine Weile, ehe er sich zu dem Gange entschloß. Im Bette aufrecht sitzend, wollte er, bald zur Gattin redend, bald seufzend, keine Ruhe finden.
Sie beschwichtigte ihn mit Zärtlichkeiten und lockte ihn endlich in ihre Vergessen bringende Umarmung.
Als die Mädchen am anderen Morgen sahen, wie der Vater, sorgfältigst frisiert, in seinem besten Anzug beim Frühstück erschien, fragte Elvi, was denn los sei.
Der Mutter rasche Antwort:
„Papa hat eben in Geschäften zu tun!“, begleitet von einem gegen diesen gerichteten Augenwink, machte Sophie stutzig. Sie suchte nach dem Zusammenhange dieser ungewöhnlichen Toilettenkunst mit er gestrigen ebenso ungewöhnlichen Verweisung aus dem Zimmer. Es lag etwas in der Lust, sie hatte die dunkle Empfindundung eines wichtigen Ereignisses, die sie beänstigte.
In seiner alten, etwas klapprigen, von zwei Ackerpferden gezogenen Kutsche, die er Großknecht Melchior im Feiertagsanzug, eine dunkelblauer Schirmmütze mit der Freiherrenkrone auf dem bäuerischen Kopfe, lenkte, fuhr der Baron nach Hochrothkreuz.
Graf Rothkreuz war sehr überrascht, als ihm der Besuch gemeldet wurde, den er alsbald mit höflicher Fragemiene empfing.
Baron Ried ging mit lebhafter Gebärde auf ihn zu, schüttelte ihm herzlich die Hand und sagte:
„Vor allem danke ich Ihnen für die Liebenswürdigkeit, mit der Sie und die Komtesse letzhin meine Tochter Sophie zu einer Schlittenpartie mitgenommen haben. Das Kind hatte große Freude daran.“
„Mir war es auch ein großes Vergnügen und meiner Schwester nicht minder,“ lautete die Antwort.
Der Baron fand nunmehr Veranlassung, sich nach den gräflichen Damen zu erkundigen, kam von da auf den neuen gräflichen Inspektor zu sprechen, von dem man viel Gutes höre, und trieb damit das Gespräch auf die augenblicklichen Wirtschaftsfragen.
Der Graf, der schon bei der Anmeldung des Besuches Verdacht geschöpft hatte, wurde durch diese Weitschweifigkeit nur darin bestärkt. Er fühlte sich dem viel älteren Standesgenossen gegenüber in einer peinlichen Lage, die ihn geradezu verlegen machte.
Dieser steuerte mit der Phrase, dass ein Mann wie Graf Rothkreuz in der Lage sei, sich diese Dinge fernzuhalten und nur als Kavalier zu leben, endlich auf sein Ziel los.
„Zu dem Kavalier führt mich denn auch der Zweck meines Besuches, lieber Graf,“ sagte er. „Sie sind überdies ein so lieber Freund meines Hauses, dass Sie es verstehen werden, wenn ich mich gerade Ihnen offenbare. Ganz zufällige, unberechenbar gewesene Umstände bringen mich in die Lage, innerhalb kürzester Frist sechstausend Mark beschaffen zu müssen, wenn ich nicht des Äußersten gewärtig sein will.“
Der Baron hatte den letzten Satz in überstürzter Weise hervorgesprudelt, und nachdem er geredet hatte, wurden seine Stirne und der Mund von nervösen Zuckungen bewegt.
Der Graf war feuerrot geworden. Mit einer leichten Verneigung sagte er:
„Ich stehe zu Diensten, Herr Baron. Nur muß ich erst mit meinem Inspektor Rücksprache nehmen. Meine Privatschatulle enthält keine so hohe Summe.“
Der Baron machte eine lebhafte Bewegung gegen ihn, hielt dann inne und sagte, schüchtern fragend:
„Aber dem Inspektor bleibt mein Name verschwiegen?“
„Selbstverständlich!“ lautete die wieder von einer leichten Verneigung begleitete Antwort, und etwas mutiger, aber doch unsicher in der Stimme fuhr der Baron fort:
„Die Rückzahlung freilich könnte nicht vor Ablauf der nächsten Ernte erfolgen…“
„Ganz nach Belieben. Ich werde Ihnen die Summe durch einen sicheren Boten baldigst zusenden.“
„Den Schuldschein werde ich bereithalten und auf Michaeli nächsten Jahres mit vier Prozent Zinsens ausstellen. Entspricht das Ihren Absichten, Herr Graf?“
„Sehr wohl!“
Sie war nicht eben angenehm, diese Kühle des jungen Mannes, aber der unerwartet leichte Erfolg gab doch genug Aufschwung zu passenden Worten.
Der Baron stand von seinem Sitze auf und sagte:
„Herr Graf, ich danke Ihnen aus vollster Seele! Sie haben mich und meine Familie gerettet. Ich werde Ihnen das nie vergessen! So handelt ein echter Kavalier, ein ganzer Edelmann! Nochmals Dank, tausend Dank!“
Die Hand, die er mit seinen beiden heftig ergriff, lag eher ruhig zwischen diesen. Er verneigte sich, und ein gemessenes, höfliches:
„Guten Morgen, Herr Baron!“ gab ihm das Geleite.
In heftiger Erregung blieb der Graf zurück. War´s wirklich verzweifelte Not, war´s nur eine listige Ausbeutung, gleichviel – es war widerlich, es brachte in die Beziehungen zu Grafenwang, die sich so hübsch entwickelt hatten, etwas empfindlich Störendes, ja vielleicht Zerstörendes. In die Beziehungen zu Grafenwang? Das waren die Beziehungen zu Sophie von Ried, sonst nichts. Um ihretwillen hatte er ihn nicht abgewiesen. Was ging ihn sonst der verschuldete Baron an? Ihr Bald hatte ihm vor Augen geschwebt, ihr hatte er es nicht abschlagen können, ein Geschenk um sie waren die sicher verlorenen sechstausend Mark. Und wenn es doch nichts half? Wenn sich der Fall wiederholte? Was war ihm das Mädchen, was konnte es ihm werden, dass solche Geschenke Sinn hätten, nicht planlose Vergeudung bedeuteten? Und weiter. Wenn Sophie, war gar nicht unwahrscheinlich war, von dem Vorgange erfuhr? Wie stand sie ihm gegenüber, welche Unfreiheit und welchem Mißtrauen begegnete bei ihr jede Arglosigkeit des Scherzes, der Ritterlichkeit? Der Mutter es zu verheimlichen, wäre kindisch. Was wird sie dazu sagen, was Albertine? Albertine würde sich wohl auf seine Seite stellen. Was hieß das: „auf seine Seite“? Da stand er wieder vor der Frage: „Was war ihm das Mädchen?“ Er wollte sich keine Antwort darauf geben. Da erhob sich gleich eine andere Frage mit dem Wörtchen „heiraten“ und dieses Wörtchen hatte denn doch einen zu starken Klang. Freilich war es immer seine Meinung gewesen, nicht eine wilde Leidenschaft, sondern ein zarteres Gefühl inniger Zuneigung sollte ihn einstmals in die Ehe einführen. Aber so weit war er noch nicht mit Sophie. Sie aber wieder aufgeben und jetzt natürlich für ewige Zeiten – das arme Ding tat ihm leid. Es war eine bittere, herbe Demütigung für sie. Wenn nur diese schrecklichen Verhältnisse nicht gewesen wären!
Er klingelte einem Diener, den er zum Inspektor schickte, der sofort erscheinen sollte. Als der Gerufene hörte, um was es sich handelte, zögerte er einen Augenblick, dann sagte er in bescheidenem Ton:
„Der Baron Ried war eben hier. Ich bin ihm zufällig begegnet. Sollte….“
„Herr Inspektor,“ lautete die scharfe Unterbrechung, „ich möchte bitten, sich an das zu halten, was ich Ihnen sage. Ich wünsche sechstausend Mark.“
Der stattliche Mann verneigte sich und bemerkte nur:
„Die Summe ist sofort disponibel, aber ich möchte geben haben dann zur Ergänzung des Kassenbestandes in den nächsten Tagen eine Anweisung für die Depots in der Bayerischen Handelsbank ausstellen zu wollen.“
„Soll geschehen,“ lautete die Antwort.
Eine Stunde später war ein zuverlässiger Forstläufer mit einem „Schreiben“ auf dem Wege nach Grafenwang.
Bei Tisch fiel den Damen die Wortkargheit und Nachdenklichkeit des Grafen auf.
Erst nach wiederholten Bemerkungen rückte er mit der Tatsache heraus. Die Gräfin-Mutter sagte nach einer kleinen Weile:
„Das ist ein großmütiges Geschenk, das du da gemacht hast, du legst offenbar keinen geringen Wert auf deine Beziehungen zu dieser Familie.“
Der Graf rechtfertigte sein Verhalten als unausweichbar. Seine Mutter aber erwiderte:
„Du hast es dich eine ganz hübsche Summe kosten lassen um eine Entscheidung aufzuschieben, die du doch einmal wirst treffen müssen -“
„Wenn man nur für die arme Sophie etwas tun könnte, sie aus diesen Verhältnissen herauszubringen. Wenn man eine Hofdamenstelle für sie finden könnte,“ meinte Albertine.
„Solche Stellungen“, erwiderte die Gräfin-Mutter, „haben sofort eine Fülle von Anwärterinnen, wenn eine frei wird, dann zeiht man jedenfalls die Töchter verdienter Väter vor. Die Verhältnisse, wie sie hier vorliegen, wären aber sogar ein besonderes Hindernis.“
„Sie haben nahe Verwandte in Österreich,“ fiel der Graf ein, „die werden sich äußersten Falles des Mädchens annehmen müssen. Freilich kein angenehmes Los, so ein verwandschaftliches Gnadenbrot zu genießen. Ich gönnte ihnen was Besseres.“
„Man hat das Gefühl, helfen zu wollen! – – sagte Albertine und wurde alsbald von ihrem Bruder mit den Worten unterbrochen:
„Wenn ich nochmals sechstausend Mark hingäbe, würde es wahrscheinlich doch nichts nützen. Sonst tät´ ich´s bei Gott!“
„Theodor,“ rief die Gräfin-Mutter, „nimm dich in acht! Deiner harren in der Zukunft noch Pflichten gegen eine eigene Familie!“
„´s ist ja nur so gesagt!“ beruhigte er. „Wäre dieser Ried ein anderer Mensch, so ließe sich aber in der Tat davon reden, ihn, im Verein mit anderen Standesgenossen, vielleicht herauszureisen. Wir sollen unseresgleichen nicht verkommen lassen.“
Am Nachmittag, als die beiden Damen allein beisammen waren, sagte die Gräfin-Mutter plötzlich zu ihrer Tochter:
„Was meintest du eigentlich zu einer Reise nach Rom? Du hast das ja schon oft gewünscht?“
„Wie kommst du jetzt darauf?“ fragte diese erstaunt.
„Theodor müßte uns natürlich begleiten.“
Ein leises Lächeln zeigte, dass Albertine verstanden hatte. Jene aber fuhr fort:
„Theodor darf nicht hier bleiben. Irgend etwas macht er sonst mit diesen Rieds. Deine Freundschaft zu Sophie wird doch nicht so weit gehen, dass du den Bruder Gefahr laufen ließest?“
„Offen gestanden, ich sähe Sophie von Ried gar nicht ungern als Schwägerin. Es steckt etwas in Mädchen, was ich nur noch nicht so ganz ergründet habe, aber ganz deutlich ahne.“
„Albertine! Du wirst doch nicht fördern wollen was mir die größte Besorgnis einflößt?“
„Davon ist keine Rede, und eben deshalb gehe ich auf deinen Plan, Theodor von hier zu entführen, gehorsam ein. Gewinne ich doch nichts Geringeres als „Rom“ dabei!“
„Weihnachten warten wir noch ab. Dann bleiben wir bis zum Frühjahr in Italien. Vielleicht gewinnt er weiteren Geschmack an Reisen. Er hat ja noch gar nichts von der Welt gesehen. Wenn nicht, so muss der Sommer eben unter Angst und Bangen überstanden werden. Im nächsten Winter dränge ich ihn dann schon ins Münchener Gesellschaftsleben.“
Albertine lachte kurz auf und sagte:
„Liebe Mama! Soll überhaupt etwas kommen, dann kommt es doch!“