Blumenleid

Blumenleid – eine Erzählung von Arno Fuchs.

Ein schöner Sommersonntag ging zu Ende. Die Spaziergänger wanderten schon müde die Straße entlang, um den Bahnhof zu erreichen und dann mit dem Zuge nach der Stadt zurückzufahren. Über dem Wald, der heute von vielen tausend Großstädtern besucht worden war, ging der Mond auf. Geräuschlos strich der Rabe über die Wipfel der Kiefern, und tief im Forst sang noch eine Drossel. Dann ward es still. Kein Mensch war mehr im Walde.
Und wie sich nun der Nachttau auf die Erde niedersenkte, und wie das Mondlich silberblaß auf die Straße fiel, da begann ein leises Weinen vieler kleiner Seelen. Aus dem Straßenstaube hob sich hier und da ein Köpfchen in die Höhe, um jedoch bald wieder umzusinken und zu klagen. Unzählige Blumen lagen auf der Straße. Ein Heckenrosenzweig versuchte, sich aufzurichten; aber er sank zurück, denn er war schon zu matt. Dort mühten sich blaue Glockenblumen, mit ihren kleinen Glocken zu läuten; aber nur klagende Töne waren zu hören, denn die Glocken waren zersprungen. Ein Sträußchen Gänseblumen sah mit Tränen in den Gesichtern zum Monde auf. Blaue Kornblumen reckten ihre langen Arme, um ihre Blütenkörbchen aus dem Straßenstaub zu ziehen. Viele hundert Grasnelken und Skabiosen, an den Stielen durch einen Grashalm zusammengehalten, weinten still in Gemeinschaft; und ein zartes Veilchen hauchte seinen letzten Duft in die Nacht. Die Spaziergänger hatten alle diese Blumen am Wege, auf der Waldwiese, auf dem Felde, im Gebüsch und unter hohem Gras stehend, entdeckt, hatten sie abgepflückt, ein Stück des Weges in der warmen Hand getragen und dann, ihrer überdrüssig, weggeworfen in den Straßenstaub. Nun war ein großes Sterben auf der Straße. Der Nachtwind, der leise durch den Wald fuhr, hörte im Vorüberziehen die Klage der sterbenden Blumen und tröstete die armen Kinder des Waldes, der Wiesen und des Feldes mit seiner säuselnden Stimme.
Als die Nacht vergangen war und die Sonne aufging, da war der Weg bedeckt mit zahllosen Blumenleichen. Ich sah sie alle, als ich am frühen Morgen den Weg entlang wanderte; und mußte trauern um all die Schönheit, die hier im Staube verkam.

entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952