Das Abenteuer im Walde

Das Abenteuer im Walde – eine Erzählung von Johannes Trojan

Es regnete, was vom Himmel herunter wollte. Die Tannen schüttelten den Kopf und sagten zueinander: „Wer hätte am Morgen gedacht, das es so kommen würde!“ Es tropfte von den Bäumen auf die Sträucher und das Farnkraut und lief in unzähligen kleinen Bächen zwischen dem Moose und den Steinen. Am Nachmittag hatte der Regen angefangen und nun wurde es schon dunkel und der Laubfrosch, der vor dem Schlafengehen noch einmal nach dem Wetter sah, sagte zu seinem Nachbar: „Vor morgen früh wird es nicht aufhören.“ Derselben Ansicht war eine Ameise, die bei diesem Wetter im Wald spazieren ging. Sie war am Vormittag mit Eiern in Tannenberg auf dem Markt gewesen und trug jetzt das dafür gelöste Geld in einem kleinen, blauen Leinwandbeutel nach Hause. Bei jedem Schritte seufzte und jammerte sie. „Das Kleid ist hin“, sagte sie, „und der Hut auch! Hätt` ich nur den Regenschirm nicht stehenlassen, oder hätt´ ich wenigstens Überschuhe angezogen. Aber mit Zeugschuhen in solchem Regen ist gar kein Weiterkommen!

Während sie sprach, sah sie gerade vor sich in der Dämmerung einen großen Pilz. Freudig ging sie darauf zu. „Das paßt“, rief sie; „das ist ein Wetterdach, wie man es sich nicht besser wünschen kann. Hier bleib ich, bis es aufhört zu regnen. Wie es scheint, wohnt hier niemand – desto besser! Ich werde mich sogleich häuslich einrichten.“ Das tat sie denn auch. – Sie war eben daran, das Regenwasser aus den Schuhen zu gießen, als sie merkte, dass draußen eine Grille stand, die auf dem Rücken ihr Violinchen trug. „Hör´ Ameischen“, hub die Grille an, „ist es erlaubt, hier einzutreten?“ „Nur immer herein!“ erwiderte die Ameise, „es ist mir lieb, dass ich Gesellschaft bekomme.“ „Ich habe heute“, sagte die Grille, „im Heidekrug zur Kirmes aufgespielt. Es ist ein bißchen spät geworden, und nun freue ich mich, dass ich hier die Nacht bleiben kann. Denn das Wetter ist ja schrecklich, und wer weiß, ob ich noch ein Wirtshaus finde!“
Also trat Grillchen ein, hängte sein Violinchen auf und setzte sich zu der Ameise. Noch nicht lange saßen sie da, als sie in der Ferne ein Lichtchen schimmern sahen. Als es näher kam, erkannten sie es als ein Laternchen, das ein Johanneswürmchen in der Hand trug. „Ich bitt´ euch“, sagte das Johanneswürmchen, höflich grüßend, „laßt mich die Nacht hierbleiben! Ich wollte eigentlich nach Moosbach zu meinem Vetter, habe mich aber im Walde verirrt und weiß weder aus noch ein.“ „Nur immer zu!“ sagten die beiden; „es ist recht gut für uns, dass wir Beleuchtung bekommen.“ Gern folgte Johanneswürmchen der Einladung und stellte sein Laternchen auf den Tisch.

Der Schein des Lichts führte ihnen bald einen Wanderer zu, der ziemlich ungeschickt über Laub und Moos herangestolpert kam. Es war ein Käfer von der großen Art. Ohne „Guten Abend“ zu sagen, trat er ein. „Aha!“ rief er, „so bin ich doch recht gegangen, und dies ist die Zimmergesellenherberge.“ Mit diesen Worten setzte er sich, holte seinen Schnappsack hervor und begann, sein Abendbrot zu verzehren. „Ja, ja“, sagte er, „wenn man den ganzen Tag über Holz gebohrt hat, dann schmeckt das Essen!“ Als er mit dem Essen fertig war, stopfte er sich eine Pfeife und fing an, gemütlich zu rauchen.
Unterdessen war es draußen ganz dunkel geworden und das Wetter schlimmer als vorher. Da traf zur allgemeinen Verwunderung noch ein später Gast ein. Schon seit längerer Zeit hörte man in der Ferne ein eigentümliches Schnaufen; dies kam langsam näher und näher, und endlich erschien unter dem Pilz eine Schnecke, die ganz außer Atem war. „Das nenne ich laufen!“ rief sie; „wie bin ich gejagt, ordentlich das Milzstechen hab ich bekommen! Ich will nur gleich bemerken, dass ich im nächsten Dorfe eine Bestellung zu machen habe, die Eile hat. Aber niemand kann über seine Kräfte, besonders wenn er sein Haus trägt. Wenn die Gesellschaft erlaubt, will ich hier ein paar Stündchen rasten; dann kann ich nachher wieder galoppieren, als gälte es, den Dampfwagen einzuholen.“ Niemand hatte etwas dagegen, dass sich die Schnecke ein gemütliches Plätzchen aussuchte. Da setzte sie sich vor ihre Haustür, holte ein Strickzeug hervor und fing an zu stricken.

So waren nun die fünfe hier versammelt, als die Ameise das Wort nahm und also sprach: „Warum sitzen wir hier so trübselig beeinander und langweilen uns, da wir uns doch die Zeit auf angenehme Weise verkürzen könnten? Ich habe daran gedacht, dass wir uns Geschichten erzählen sollten, und gern würde ich selbst den Anfang machen, wenn ich nur eine recht hübsche Geschichte wüßte. Nun ist mir aber eben etwas noch Besseres eingefallen. Ich sehe, dass die Grille ihr Vionlinchen bei sich hat. Wenn sie nicht gar zu müde ist, möchte ich sie bitten, uns ein lustiges Stückchen zu spielen, damit wir eins tanzen können.“ Dieser Vorschlag der Ameise fand allgemeinen Beifall. Die Grille ließ sich aber nicht lange nötigen, sondern stellte sich mit ihrem Violinchen in die Mitte und spielte das lustigste tänzchen herunter, welches sie auswendig wusste, während die andern um sie herumtanzten. Nur die Schnecke tanzte nicht it. „Ich bin“, sagte sie, „nicht gewöhnt an das schnelle Herumwirbeln; mit wird zu leicht schwindelig. Aber tanzt soviel ihr wollt, ich sehe mit Vergnügen zu und mache meine Bemerkungen.“ – Die andern ließen sich denn auch gar nicht stören, sondern jubelten laut, dass man es auf drei Schritte Entfernung hören konnte.

Aber ach, durch welch ein furchtbares, ungeahntes Ereignis wurde ihr Fest unterbrochen! Der Pilz, unter welchen die lustige Gesellschaft tanzte, gehörte leider einer alten Kröte. An schönen Tagen saß sie oben auf dem Dache, wie die Kröten zu tun pflegen; trab aber schlecht Wetter ein, so kroch sie unter den Pilz, und es konnte ihretwegen regnen von Pfingsten bis Weihnachten.

Diese Kröte nun war am Nachmittag nach dem nächsten Moor zu ihrer Base, einer Unke, gegangen und hatten sich mit derselben bei Kffee und Napfkuchen so viel erzählt, dass es darüber dunkel geworden war. Jetzt am Abend kam sie ganz leise nach Hause geschlichen. Als sie in ihrem Hause den Jubel hörte, trat sie noch leiser auf. So kam es, dass die Leutchen drinnen sie nicht eher gewahr wurden, als bis sie mitten unter ihnen stand.

Das war eine unerwartete Störung. Der Käfer fiel vor Schreck auf den Rücken, und es dauerte fünf Minuten, ehe er wieder auf die Beine kommen konnte. Das Leuchtkäferchen dachte zu spät daran, dass es sein Laternchen hätte auslöschen sollen, um in der Dunkelheit zu entwischen. Die Grille ließ mitten im Takt ihr Violinchen fallen. Die Ameise sank aus einer Ohnmacht in die andere, und selbst die Schnecke, die sonst nicht leicht aus der Fassung zu bringen ist, bekam Herzklopfen. Sie wußte sich aber schnell zu helfen; sie kroch in ihr Häuschen, riegelte die Tür hinter sich ab und sprach zu sich: „Was da will, kann kommen. Ich bin für niemand zu sprechen.“

Nun hättet ihr aber hören sollen, wie die Kröte die armen Leute heruntermachte! „Sieh einmal an“, rief sie zornig und schwang ihren Regenschirm, „da hat sich ein schönes Lumpengesindel zusammengefunden! Ist das hier eine Herberge für Landstreicher und Dorfmusikanten? Ich sag es ja: Nicht aus dem Hause kann man gehen, gleich ist der Unfug los. Augenblicklich packt jetzt eure Siebensachen ein und dann fort mit euch, oder ich will euch son Beine machen!“

Was war zu tun? Die armen Leute wagten gar nicht, sich erst aufs Bitten zu legen, sondern nahmen still ihre Sachen auf, riefen der Schnecke durchs Schlüsselloch zu, dass sie mitkommen solle, und als auch diese sich fertiggemacht hatte, zogen sie von dannen.
Das war ein kläglicher Auszug! Voran das Johanniswürmchen, um auf dem Wege zu leuchten, dann der Käfer, dann die Ameise, dann das Grillchen und zuletzt die Schnecke. Der Käfer, der eine gute Lunge hatte, rief von Zeit zu Zeit: „Ist hier kein Wirtshaus?“ Aber alles Rufen war vergeblich. Als sie ein Stück gegangen waren, merkten sie, dass die Schnecke nicht mehr bei ihnen war. Sie riefen alle zusammen in den Wald zurück: „Schnecke, Schnecke! Beeil dich!“- erhielten aber keine Antwort. Die Schnecke mußte wohl so weit zurückgeblieben sein, dass sie die Rufe nicht mehr hören konnte. Die andern zogen betrübt weiter und nach langem Umherirren fanden sie unter einer Baumwurzel ein leidlich trockenes Plätzchen. Da brachten sie die Nacht zu unter großer Unruhe und ohne viel zu schlafen. Waren sie auch mit heiler Haut davongekommen, es blieb doch immerhin ein schlimmes Abenteuer, und die mit dabeigewesen sind, werden daran denken, solange sie leben.

entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952