Das tapfere Schneiderlein

Das tapfere Schneiderlein ist ein Märchen nach den Gebrüder Grimm.

Das tapfere Schneiderlein
Ein Schneiderlein saß an seinem Tisch am Fenster und nähte aus Leibeskräften. Indessen versammelten sich die Fliegen auf seinem Musbrot; so oft aber das Schneiderlein sie fortjagte, so oft kehrten sie zurück. Da lief ihm die Laus über die Leber, er schlug mit einem Lappen zu, und nicht weniger als sieben Fliegen streckten die Beine. „Bis du so ein Kerl“, sprach er, und mußte seine eigene Tapferkeit bewundern, „das soll die ganze Welt erfahren.“ Damit schnitt er sich einen Gürtel zurecht und stickte mit großen Buchstaben darauf: „Sieben auf einen Streich!“ Dann achte er sich fertig, in die Welt hinauszuziehen.
Auf den Höhen eines Berges begegnete er einem Riesen. Dieser sah ihn verächtlich an und sagte: „Du miserabler Kerl.“ „Halt an dich“, sagte das Schneiderlein, „und lies erst auf meinem Gürtel, was ich für einer bin.“ Der Riese las: „Sieben auf einen Streich!“ und kriegte nun doch Respekt. Dann nahm er einen Stein in die Hand und drückte ihn zusammen, dass die Wassertropfen herausquollen.
„Mach mir das nach“, sprach er, „wenn du wirklich so stark bis.“ „Weiter nichts?“ fragte das Schneiderlein, „das ist bei unsereinem nur Spielwerk“. Dann holte er einen Handkäse hervor und drückte ihn, dass der Saft heraussprang. „Wie gefällt dir das Stückchen, Kamerad?“ fragte der Schneider. „Wenn deine Tapferkeit so groß ist wie dein Mundwerk“, antwortete der Riese, „dann komm doch in unsere Höhle und übernachte bei uns.“ Doch da machte sich das Schneiderlein leise fort, immer seiner spitzen Nase nach, bis es am Abend in den Hof eines Königsschlosses gekommen war.
Als die Hofleute die Inschrift an seinem Gürtel lasen, da meinten sie, er müsse wohl ein großer Kriegsheld sein und gingen hin, es dem König zu melden. Der schickte zu dem Schneiderlein und ließ ihm sagen, dass er ihm seine Tochter zur Gemahlin geben wollte und das halbe Königreich dazu; er müßte aber zuvor die zwei fürchterlichen Riesen überwältigen, die in einem großen Walde seines Landes hausten und mit Rauben und Morden gewaltigen Schaden stifteten. „Recht gerne“, gab das Schneiderlein zur Antwort, „die Riesen will ich schon bändigen.“
Das Schneiderlein sprang in den Wald hinein und erblickte auch bald die beiden Riesen, wie sie unter einem Baum lagen und schliefen. Da las er sich die Taschen voll Steine und kletterte damit auf den Baum, und als er gerade mitten über ihnen angekommen war, da ließ er dem einen Riesen einen Stein auf die Brust fallen. Der Riese spürte es, wachte auf, stieß seinen gesellen in die Rippen und sprach: „Was schlägst du mich?“ – „Du träumst“, sagte der andere, „ich schlage dich nicht.“ Damit legten sie sich wieder nieder.
Der Schneider warf einen Stein auf den zweiten herab. „Was soll das“, schrie der andere, „warum wirfst du mich?“ – „Ich werfe dich nicht“, brummte der erste, und die Augen fielen ihnen abermals zu. Da warf das Schneiderlein den allerdicksten Stein dem ersten Riesen auf die Brust. „Das ist zu arg“, schrie er, sprang auf, packte seinen Gesellen und stieß ihn gegen den Baum. Weil ihm aber der andere nichts schuldig bleiben wollte, so gerieten sie in solche Wut, dass sie Bäume ausrissen und damit aufeinander losschlugen, bis sie zu gleicher Zeit tot niederstürzten.
Das Schneiderlein begab sich darauf zum König, und der mußte ihm nun seine Tochter zur Frau und das halbe Königreich geben. Die Hochzeit ward mit großer Pracht und kleiner Freude gehalten, und aus einem Schneider ein König gemacht. Nach einiger Zeit aber hörte die junge Königin in der Nacht, wie ihr Gemahl im Traume sprach: „Junge, näh mir das Wams und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle um die Ohren schlagen.“ Da merkte sie, in welcher Gasse der junge Herr geboren war, klagte ihrem Vater ihr Leid und bat ihn, er möchte ihr von einem Manne helfen, der nichts anders als ein Schneider sei. „Laß in der nächsten Nacht seine Schlafkammer offen“, antwortete der König, „wenn er schläft, sollen meine Diener ihn binden und ihn auf ein Schiff tragen, das ihn in die weite Welt führt.“
Die Königstochter war damit zufrieden; des Königs Waffenträger aber, welcher dem jungen Herrn gewogen war, hinterbrachte ihm den ganzen Anschlag. Abends stellte sich das Schneiderlein nur, als wenn es schliefe, und als die junge Frau den Riegel von der Tür geöffnet hatte, fing es an mit heller Stimme zu rufen: „Junge, ich habe sieben mit einem Streich getroffen, zwei Riesen getötet und sollte mich vor denen fürchten, die da draußen vor der Kammer stehen!“
Als diese den Schneider also rufen hörten, da überkam sie eine große Frucht, und sie flohen, als wenn das wilde Heer hinter ihnen wäre. Also war und blieb das Schneiderlein seiner Lebtage ein König.
(Quelle: Meine schönsten Märchen, W. Fischer Verlag, Göttingen, ohne Jahr)

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