Der Tannenbaum für Kleenoog – Wilhelm Lobsien

Der Tannenbaum für Kleenoog – eine Weihnachtsgeschichte von Wilhelm Lobsien.

Der junge Lehrer Dirksen hielt es auf der kleinen, einsamen Hallig Kleenoog einfach nicht mehr aus. Im Sommer, o ja, da war es hier draußen im Wattenmeer wunderschön. Da hatte er die grüne, duftende Hallig, das weiß an der steilen Uferkante aufspritzende Meer, die lustig über den blauen Himmel segelnden Wolken, die schreienden Möwen und sich selbst und brauchte weiter nichts. Wenn aber der Herbst aus der grauen See aufstieg und seine feuchten Nebelnetze über das kleine Eiland schleppte, dass man den Blick bis zur nächsten Warst nicht einmal frei hatte, geschweige denn über das Meer, dann war es hier draußen fürchterlich.

Wenn die dunklen Abende kamen, fanden sich die Halligleute täglich abwechselnd bald auf dieser, bald auf jener Warst. Die Frauen spannen ihre Wolle oder häkelten Netze und die Männer hockten im Halbdunkel in der Nähe des Beilegeofens, rauchten und erzählten in kurzen, abgehackten Sätzen von ihrem Kampf mit dem blanken Hans. Aber bald hörte auch das auf – es kannte hier ja jeder die Geschichte des anderen. Stumm, ein festgefrorenes Lächeln um die schmalen, zusammengekniffenen Lippen, saßen sie da und stierten vor sich hin.

Aber der junge Lehrer wollte nicht in diesem toten Schweigen versinken. Wie ein Schimmer aus ziehender Flut schoß er aus der Dumpfheit empor und begann vom Festland zu erzählen, wie alles dort hell und froh sei, wie auch in der schwärzesten Nacht tausend und abertausend Lichtsonnen am Himmel hingen, wie ein Jubel ohnegleichen sei. Sie aber grinsten nur. Nein, damit sollte er ihnen nicht kommen… bei ihnen war es hell genug… sie waren für Ruhe und frühes Zubettgehen… sie brauchten nicht anderes.

Lehrer Dirksen gab aber nicht nach sondern kam immer wieder und klopfte an die toten Herzen, obschon er nie den Widerhall aufbrechenden Lebens spürte. Es war ihm einerlei; das Grauen vor dem Alleinsein trieb ihn doch immer wieder hin. Es war noch nichts vom Zauber des kommenden Festes zu spüren. Was war denn auch Großes daran? Weihnachten war nicht viel anders als jeder Sonntag; höchstens für die Kinder, die dann eine Stunde länger am Tisch sitzen und mit kleinen Pfeffernüssen spielen durften. Nein, für alte Halligschiffer war das nichts, und so hörten sie kaum hin, als Lehrer Dirksen von einer besonderen Weihnachtsfeier zu ihnen sprach:

„Ihr wißt ja gar nicht, was Weihnachten ist. Ist einer unter euch, der schon mal unter einem brennenden Tannenbaum gestanden hat? Nicht einer, oder doch höchstens in der Fremde, bei der Seemannsmission.“

„Woher sollen wir den Baum auch kriegen?“ warf Sabe Lorenz dazwischen, „auf der Hallig wächst ja nichts.“

„Vom Festland sollt ihr ihn holen!“

Unruhig schoben sich die Männer hin und her. Das fehlte ihnen gerade, jetzt Boot klarmachen und an den festen Wall fahren, nur wegen eines Tannenbaums! Nein, solche Sitten wollten sie hier nicht einführen.

Lehrer Dirksen aber lachte plötzlich hell und fröhlich auf. Er glaubte ein Mittel gefunden zu haben, sie aus ihrer Dumpfheit aufzurütteln, und sagte: „Morgen ist Weihnachten. Wer macht mit hinüber?“

Sie schüttelten den Kopf und auch die Frauen hoben abwehrend die Hände.

„Dann gehe ich zur Ebbezeit allein. Wir haben in der ganzen Woche klare Vormittage gehabt. Morgen wirds wohl auch so sein und dann gehe ich an den Deich. Morgen abend aber seid ihr alle auf der Schulwarst. Gute Nacht!“

Damit ging er.

Sie hörten seinen schnellen Schritt unter den Fenstern und Boy Manners erhob sich, als wolle er ihm nach und ihn zurückhalten. Aber in der Tür blieb er stehen, wandte sich dann langsam ans Fenster und versuchte, durch die dick beschlagenen Scheiben in den dunklen Abend hinauszusehen. Hart und hastig schüttelte er den Kopf und trat an den Tisch zurück. –

Als der Tag graute, stand Lehrer Dirksen vor der Tür und blickte ins Wetter. Ein leichter Wind war aufgekommen und trieb die Wolken übers Watt zurück. Der Himmel war hoch, da konnte er es wagen.

Eine rechte Wanderlust kam über ihn, als er das Watt betrat, das grau und eben vor ihm lag, so dass er rüstig vorwärtskam. Schreiende Möwen flitzten weißleuchtend über ihn hin, ein langer Zug grauer Gänse eilte vor ihm her dem grünen Vorland zu, das fern im Osten auftauchte und wenn er einen Augenblick stillstand, hörte er weit im Westen die offene See orgeln, dass ihm ganz festtäglich ums Herz wurde.

Vom Festlandsdeich aus sahen sie ihn schon kommen. Sie krochen aus dem harten Wind heraus den Deich hinunter. Nur der Wirt und Krämer blieb auf dem Kamm stehen im richtigen Gefühl, dass der Besuch ihm gelte.

„Watt schall´t sin?“ schrie er und hielt die flachen Hände an die Ohren. „So, a, natürlich hebbt wi… gewiss… komm mn rop!“

Dann wandte er sich um und rief den anderen, die im Schutze am Fuße des Deiches standen zu: „De Kleenooger wölln Wihnachten fiern! Wett eener darvon all mal wat hört?“

Nein, wahrhaftig hatten sie noch nie gehört und beeilten sich nun, die Kunde us dem Munde des eben den Deich hinaufsteigenden Lehrers zu hören. Der aber ließ sich auf keine Reden ein. Der Wind war ihm in den letzten zehn Minuten so merkwürdig vorgekommen und er fürchtete, der Nebel werde wiederkommen.

„Ach, ne doch! Krieg man erst en lütte Punsch!“

Nein, er wollte nichts haben. Zum Punschtrinken sei er nicht ans Festland gekommen. Man möge ihm nur schnell einige Tannenbäume und Schmuck zeigen. Hastig suchte er aus den ausgebreiteten Schmucksachen blitzende Kugeln und Sterne aus legte die bunten Kerzen dazu, schulterte den Baum und schritt so schnell wie er gekommen wieder auf das Watt hinaus, gefolgt von den Blicken der enttäuschten Deichleute.

Nach einer Weile stand er still und schaute sich um. Das Wetter gefiel ihm nicht. Eine sonderbare Musik war der Wind und an der Kimm stieg es schwarz herauf. Noch einen Blick nach dem Festland zurück… dann stürmte er weiter. Aber schneller als seine Füße rannte der Nebel, wälzte sich grau und nass, das ganze Watt bis zum Himmel anfüllend, weiter und weiter und deckte bald See und Sand, Hallig und Strand mit seinen undurchdringlichen Tüchern zu. –

Bo Manners war den ganzen Vormittag voll Unruhe, lief bald durch Kammer und Stall, bald auf die Warst hinaus und schnupperte ins Wetter. Das sah nicht gut aus, es würde bald wieder dick und grau werden.

Nach seiner Berechnung musste Dirksen wieder auf dem Heimwege sein. Dummes Zeug, wegen eines Tannenbaumes ans Festland zu laufen!

Als nach einer Weile wieder ins Wetter sah, war der Nebel da und stand wie eine ungeheure Mauer rund um die Hallig. Der Alte stand mit krummem Nacken und bohrte seine Augen in die graue Wand. Herrgott, wie wollte der Wattenläufer da hindurchfinden?… Vielleicht hatte er rechtzeitig den Nebel kommen sehen und war ans Festland zurückgekehrt. Nein, er glaubte es nicht… Dirksen hatte seinen eigenen Kopf und führt durch, was er einmal angefangen hatte. Dann gab es nur eines: sie mussten hinaus, ihm mit dem Nebelhorn entgegen, sonst war er elend verloren. So schnell er konnte, eilte Bo Manners zu den andern Männern.

„Dicksen is noch nich an´n Hus, un dat Watt is dick von Dak. Komm mit, dat wie em find´n.“

Schweigsam wie immer zogen sie sich ihre langen Schifferstiefel an, langten das Nebelhorn vom Haken und stampften hinaus an die Kante. Die Frauen folgten ihnen. Als Boy Manners sich anschickte, aufs Watt hinauszugehen, drängte ihn Rofus zurück!

„Du nicht, Boy. Ick gah vörut, ik bün de jüngs.“

Und damit eilte er schon mit schnellen, klatschenden Schritten in den Nebel hinein, so dass er bald ihren Augen verschwunden war. Anfangs hörten sie noch seine stampfenden Füße. Dann war es still, bis plötzlich sein Nebelhorn laut und halltend durch den Nebel brüllte. Da schickte sich der zweite zur Wanderschaft an und so einer nach dem anderen, in weiten Abständen, einer mit dem anderen durch den Hornruf verbunden und eine Kette, aus dem Nebeldunkel bis zur Hallig bildend.

Der einsame Wanderer lief und lief und wußte nicht, wo er war. Sein Schrei stieg auf, aber der Nebel erstickte ihn. Seine Augen suchten die Spuren seiner Füße, aber der feuchte Grund hatte sie verschluckt. Seine Ohren lauschten weit hinaus, aber nichts war weit und breit zu hören. Schon kam die Flut… er spürte sie an dem immer weicher werdenden Boden… an dem Wasser, das ihm schon die Füße bespülte und höher und höher stieg. Er zog die Uhr… Herrgott, schon so spät?… Die Angst trieb und jagte ihn weiter… Das Wasser kroch ihm schon über die Knöchel und sprang an seinen Beinen herauf. Da rechnete er aus, dass er noch eine Stunde Zeit habe…

Nach einer Weile blieb er wieder steh´n… er konnte nicht mehr. Den Tannenbaum drückte er ins Watt und stützte sich schwer auf den schwankenden Stamm, während ihm der brennende Kopf tief in die duftenden Zweige sank. So stehenbleiben… im dichten Nebel… während die Flut stieg und stieg… bis alles vorbei war und die Wellen ihn an den Strand warfen… Plötzlich hob er den Kopf und reckte sich gerade. Klang nicht ein dröhnendes Rufen aus der dicken Nebelwand herüber? Er stand und lauschte… das war ein Nebelhorn… das waren die Halligleute, die ihn suchten!

„Ahoi! Ahoi!“ schrie er mit aller Kraft und gleich kam die Antwort: „Ahoi!“

Boy Manners nahm ihm den Baum und die Schmucksachen ab und dann wanderten sie den lauter und lauter werdenden Hornstößen nach, bis sie ihre Hallig hatten. Aufatmend blieb Dirksen stehen und blickte eine Weile schweigend in das Nebelmeer zurück. Dann wandte er sich an die Männer und gab ihnen allen die Hand…

„Das is noch gud gahn,“ sagte er, „ik dank jem!“

Sie blickten gar nicht auf. Sie begriffen nicht, wie einer wegen einer solchen Selbstverständlichkeit so viele Worte machten konnte. Schweigend und schwerfällig schritten sie über die Hallig nach ihrer Warst. Dirksen blickte ihnen nach und ein Lächeln lag auf seinem jungen Gesicht. Nein, viele Worte machte der verschlossene Mund der Halligleute nicht; desto beredter war ihr Herz, das hatte er heute erfahren. Mit hellem Klingen in der Stimme rief er ihnen nach:

„Kommt heute abend alle zur Schulwarst, dort brennt der Weihnachtsbaum.“

Singend eilte er nach Hause, singend schmückte er den Baum und singend saß er am Abend inmitten aller Halligleute davor… er sah das helle Leuchten in den toten Augen der Halligmänner, hörte ihr Herz singen und klingen und ihm war, als sei die junge wiedergeborene Sonne über der einsamen, nebelverhüllten Hallig aufgegangen.