Geschichte des Stockerkreuzes

Geschichte des Stockerkreuzes – Scheintot
Ein Altöttinger Gelübde in der Leichenkammer

Schauder und Entsetzen ergreift jeden, der vom Lebendigbegrabenwerden hört, um so mehr den, der es selbst erfahren hat wie unser Berichterstatter.
Es war am letzten Heiligen Abend, da kam hierher nach Altötting ein 64jähriger Mann mit Namen Franz Stocker, Zimmermann aus Prien am Chiemsee. Nach Verrichtung seiner Andacht ging er in die Kapelladministration, um nach einem Kreuze zu fragen, auf dem sein Name steht mit dem Datum 30. Mai 1887. Auf die Frage, was es denn mit dem Kreuze für eine Bewandtnis habe, erzählte der Mann folgendes schaudervolle Erlebnis:
Ich war 22 Jahre alt, als bei einer Holzfahrt aus den Bergen der Schlitten stürzte und mich unter der schweren Ladung begrub. Als man mich bewußtlos herauszog, waren die beiden Füße abgeschlagen, vier Rippen gebrochen und die Schädeldecke eingedrückt. Sehen Sie, sagte er, heute noch habe ich als Andenken daran das tiefe Loch im Schädel und vier versilberte Stahlrippen im Brustkasten. Mein Gott, war das ein Jammer, wie sie mich in diesem schrecklich zerfetzten, elenden Zustand nach München ins Allgemeine Krankenhaus zu dem berühmten Arzt Dr. Nußbaum brachten. Ich hatte wirklich keine Hoffnung mehr, mit dem Leben davonzukommen und geheilt zu werden.
Eine Operation nach der anderen machten die Ärzte an mir, um mich zu retten. Was ich da auszustehen hatte, ist Gott bekant, das ganze Haus hatte Mitlied mit mir. Aber jetzt kommt das Ärgste.
Am 5. Februar fiel ich nach einer schweren Operation in Starrkrampf. Kalt und steif lag ich im Bett, unfähig auch nur einen Finger zu rühren oder einen Muskel zu bewegen. Der Erstarrungszustand wurde allmählich ein derartiger, daß man mich als tot erklärte. Eine entsetzliche Angst überkam mich, als die Krankenschwestern mich für gestorben hielten und auch der Arzt dies schließlich bestätigte. Und ich hörte und sah alles. Um 7 Uhr abends wurde ich in den Sarg gelegt und in die Leichenkammer hinuntergetragen, wo bereits zwei Tote aufgebahrt waren. Da lag ich nun wie eine dritte Leiche unter den anderen. Ich wußte alles, was um mich und mit mir vorging.
Wie man mir den Rosenkranz um die Hand wickelte und das Sterbekreuz gab, wie man mich bedauerte und doch wieder glücklich pries, das ich jetzt erlöst sei von den entsetzlichen Schmerzen und meinem jammervollen Zustand. Ich hörte, wie man betete: O Herr, gib ihm die ewige Ruhe! All das hörte und sah ich und konnte mir nicht helfen. Eine entsetzliche Angst überkam mich bei dem Gedanken, lebendig begraben zu werden! Ich hätte heulen und schreien und brüllen mögen in meiner schrecklichen Not und Todesangst, aber ich konnte den Mund nicht bewegen. Ich wollte alle Kräfte bis auf den letzten Rest anspannen, aber alles umsonst. Auch die geringste Bewegung war mir einfach unmöglich.
Meine Angst war so entsetzlich, daß ich meinte, es müßte mir das Herz brechen. Es war mir, als müßte ich wahnsinnig werden. Fieberhaft arbeiteten meine Gedanken, Stunde um Stunde verrann in quälendem, schier ewigkeitslangem Warten. Mein starrer Blick ruhte auf dem großen Kreuze von mir in der Totenkammer. Ich fing an zu beten, und zwar so eifrig, wie ich noch nie gebetet hatte. Plötzlich kam mir der Gedanke: Mach ein Gelübde zur Mutter Gottes von Altötting! Und so gelobte ich dann: Gnadenmutter von Altötting, ich habe keine Hoffnung mehr! Du allein kannst mir durch eine Fürbitte noch helfen! Du bist mein letzter Hoffnungsstern! Wenn Du mir hilfst, daß ich nicht lebendig begraben werde, dann will ich einzentnerschweres Kreuz von Prien bis Altötting zu Fuß trage und dort am Gnadenaltar niederlegen.
Nach diesem innbrünstigen Gebete wurde ich innerlich ruhiger. Da auf einmal um 2 Uhr nachts ging die Türe der Leichenkammer auf, zwei Wärter kamen herein, nahmen mich unerwartet aus dem Sarg und trugen zu den Ärzten in ein Separatzimmer. Dort wurde ich mit Aufbietung aller Gewalt am ganzen Leib massiert, gerieben und gebürstet und schließlich auch noch auf den Kopf gestellt. Und siehe da, auf einmal mußte ich erbrechen. Welche Freude und Seligkeit! Das erste Lebenszeichen! Unter den fortgesetzten Bemühungen der aufopfernde Ärzte wich schließlich nach und nach die starre Lähmung der Muskeln und Glieder. Ich war dem Leben wieder gegeben. Es herrschte eine unbeschreibliche Freude. Der alte Herr Professor Dr. Nußbaum kniete nieder und rief: Gott sei tausend Dank, daß dieser arme Mensch von dem entsetzlichen Tode des Lebendigbegrabenwerdens bewahrt wurde.
Dann griff er in seine Westentasche, zog elf blanke goldene Zehnmarkstücke hervor und gab sie mir Überglücklichen für den ausgestadenen Schrecken.
Nun aber hören Sie auch, erzählte der Mann weiter, wie denn meine Rettung eingeleitet wurde. Um 12 Uhr Mitternacht war die übliche Ablösung des wachehabenden Arztes. Der Herr Assistenzarzt Dr. Schmiedbauer ging durch die Säle der Schwerkranken und fand da mein Bett leer. „Wo ist denn der Stocker Franz?“ fragte er die Krankenschwester. „Er ist nachmittags gestorben und liegt schon seit 7 Uhr in der Leichenkammer“, war die Antwort.
Dem Arzt ließ es aber keine rechte Ruhe. Wiederholt sprach er von mir bei der Krankenvisite. Er wollte gar nicht glauben, dass der junge Bursch wirklich gestorben sei; und als er hörte, daß der Chefarzt Dr. Nußbaum noch nicht verständigt sei, entschloß er sich schnurstracks und ging noch gegen 1/2 2 Uhr nachts in dessen Wohnung. Der edle Nußbaum stand sofort vom Bette auf, ließ sich ins Krankenhaus tragen – Nußbaum war damals bereits so schwer gichtleidend, daß er nicht mehr zu gehen vermochte – und da sollte er denn auch einen Erfolg ud eine Freude ohnegleichen erleben.
Es dauerte schließlich lange Wochen, bis ich als geheilt entlassen werden konnte. Als ich dann endlich heimkam, war mein Erstes, zur lieben Mutter Gottes nach Altötting zu gehen, um meinen Dank abzustatten; denn durch ihre Fürbitte allein war ich gerettet worden. Freilich, das versprochene zentnerschwere Kreuz konnte ich mit meinem durch und durch geschwächten Körper nicht mitschleppen.
So ging ich den von Prien bis Altötting den etwa zwölfstündigen Weg zu Fuß betend. Nach einigen Monaten ein zweitesmal, dann ein drittesmal und so innerhalb von zwei Jahren ging ich neunmal hierher zu Fuß wallfahren. Aber merkwürdig, befriedigt war ich nie, ja immer ärgerlicher ging ich von der Gnadenstätte fort. Es war mir, als ob das sonst so liebevoll herabgrüßende Muttergottesauge mich nicht sehen wollte. Als ich das neuntemal da war, da ging ich heim mit einem Herzen voll Unruhe, Unmut, ja Bitterkeit und Zorn und Verzweiflung. Ich war derart herabgestimmt, daß ich auf dem Heimweg bei einem Gang durch einen Wald nahe daran war, mich aufzuhängen; es war mir, als wenn eine innere böse Stimme mir immer sagte: „Häng dich auf, dein Leben ist verpfuscht und verflucht, mach em Elend ein Ende!“ Glücklicherweise waren Wallfahrer des Weges gekommen, so daß ich den teuflischen Gedanken nicht ausführen konnte. Ich kam heim. Aber Friede und Ruhe konnte ich nirgends finden, und so wurde ich schließlich ganz verbittert und verbissen, voll des Grolles gegen Gott und Religion.
Da im Frühjahr 1887 sagten zu mir ein paar Kameraden auf dem Werkplatz: „Wir gehen übermorgen nach Eding. Es ist der erste Mai, Philippi und Jakobi, das Kirchenpatrozinium der Pfarrkirche. Das ist´s immer recht schön dort, Franzl, gehst nicht mit?“ Ich aber bin ganz wild aufgefahren: „Fällt mir gar nicht ein, ich glaub überhaupt nichts mehr. Das ganze Beten und Wallfahrten ist nichts wert.“ „Was, Franzl?“ war die Antwort. „Du, du, du traust dir so daherreden? Hast es schonvergessen, daß du schon längst im Grab verfault wärest, wenn dir unsere Liebe Frau von Eding nöt g´holfen hätt´? Schäm dich! Dein Kreuz, das du ihr versprochen hast, hast heut noch nöt nauftragen nach Altötting!“ Ich war von diesem unerwarteten Vorwurf wie vom Blitz getroffen. Kein Wort sprach ich mehr, aber am andern Tag ging ich nach Grabenstätt und schaffte ein Eichenkreuz an. Fast 2 1/2 Meter war es lang und weit über einen Zentner schwer, und am 30. und 31. Mai schleppte ich es zu Fuß von Prien nach Altötting. Wie ich dann so schwerbeladen vor dem Gnadenaltar kniete, da hat mich unsere Liebe Frau nicht mehr vorwurfsvollfragend angeblickt. Nein, es war mir, als wollte sie mich mit dem Jesukindlein auf dem Arm grüßen und sagen: „Gott sei Dank, daß du jetzt dein Versprechen gehalten hast!“ Eine unbeschreibliche Andacht und Freude und Seligkeit war über mich gekommen, daß ich gar nicht aufhören konnte mit Beten und Danken. Im Himmel, meine ich, kann man nicht seliger sein als mir damals ums Herz war. Ich wollte gar nicht mehr aus der Hl. Kapelle gehen, so wohl war mir bei der Himmelsmutter, die mich, ihr verirrtes Kind, nicht verlassen hat. Und weil der Weihnachtsabend Mariens schönster Tag ist, so schloß der Mann, weil sie an diesem Tage Gottesmutter wurde, darum komme isch so gerne, fast alljährlich, zum Heiligen Abend hieher, um an ihrer Gnadenstätte mich mit ihr zu freuen! –
(Franz Stocker (1862-1929))


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