Mit weicher Kinderhand

Mit weicher Kinderhand – eine Erzählung von Augustin Wibbelt

An stillen warmen Nachmittagen sitzt Großvater an der Sonnenseite des Hauses im kleinen Gärtchen. Man trägt ihm seinen Lehnstuhl heraus; der ist jetzt sein guter Freund, der ihn mit seinen Armen fest und zuverlässig umfaßt. Jedesmal, wenn Großvater leisen Schrittes und vorsichtig tastend heranschlüft, sagt der alte Stuhl: „Komm, ruh dich aus, du hast genug gearbeitet! Lege dich bequem zurück und lehne dein Haupt an mein Nackenpolster – so, nun ruhe aus und träume ein wenig von verklungenen Zeiten!“
Ach, es träumt sich so gut in dem alten Lehnstuhle, wenn die Sonne die müden Glieder wärmt. Mitunter singt ein Vöglein in den Traum hinein, mitunter klingt ein Gruß von der Straße herüber, mitunter streicht die Katze mit leisem Schnurren am Knie vorbei, mitunter rührt der Hund mit kühler Schnauze an die welke Hand – lauter Grüße der Liebe!
Den schönsten Gruß aber bietet dem Greis die kleine Enkelin, das flachshaarige Ding mit dem Gesichtchen wie Apfelblüte und der Stimme wie ein Silberglöcklein. Sie wühlt so gern zu Großvaters Füßen im Sande und baut Zwergengärtlein. Dazu schwätzt sie kluges Zeug, was wie drollige Narrheit klingt. Sie läuft auch wohl fort, und dann geschieht es nicht selten, daß der Alte ein wenig einnickt – ganz leicht, er hört immer noch die Bienen summen im Lindenbaum.
Am Abend, wenn die Schatten lang werden, ist das kleine Ding immer rechtzeitig zur Hand. „Großvater, komm, ich führe dich hinein!“
Dann faßt sie ihn mit ihrer weichen Kinderhand, denn Großvater sieht nicht mehr gut, und trippelt neben ihm, sorgsam auf alles achtend.
„Großvater, da liegt ein Stein – Großvater, nun kommt die Stufe!“ Es ist ein wunderliebliches Bild.
Heute sitzt der Greis allein. Die Sonne streichelt ihn mit warmer Hand, und die Linde wirft ihm gelbe duftende Blüten auf den Schoß; das Sommerleben webt um ihn her in weicher Fülle. Großvater denkt zuweilen an den Tod, und dann pflegt er zu sagen: „Wenn ich nur erst über den Berg hinüber wäre! Das Wort hat er von seinem Vater selig geerbt, und es klingt in ihm nach. Den Tod fürchtet er nicht, denn er ist gerüstet, aber das Wort von dem Berge, der überstiegen werden muß, macht ihm ein wenig bange. Er ist so müde – so müde. Heute denkt Großvater an nichts dergleichen; alte liebe Erinnerungen stehen um ihn herum und schauen ihn an mit treuen Blicken, und sein Herz ist so leicht, als wären ihm Flügel gewachsen. Nur die Augen wollen gar nicht mehr. Fängt es denn schon an zu dunkeln? Wo bleibt die Kleine, die ihn heimführt?
Da tritt ein anderer an ihn heran, leise, von rückwärts – und neigt sich wie zärtlich über ihn:
„Großvater, komm, ich führe dich heim!“
Der Alte streckt die zitternde Hand aus, und mit weicher Kinderhand ergreift sie der Tod. –
Die Sonne legt einen lichten Schein um das weiße Haar.
Großvater ist hinüber über den großen Berg, den er in seiner Müdigkeit gefürchtet hat. O, wie war der Weg so leicht!

entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952


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