Der schöne Wahn – Kapitel 2

Kapitel 2 aus dem Roman „Der schöne Wahn“ von Karl von Perfall.

Gräfin Albertine ließ sich von einem Bedienten in den Korbsattel heben und dann den schwarzen Stock mit der silbernen Krücke reichen. Während sie die Zügel sammelte, setzte sich der stattliche Maulesel schon in Bewegung; hinter ihr trottete Franz, der Stalljunge, in grauer Livree mit hellblauem Ausputz und hellblauer Mütze mit dem silbergestickten gräflichen Monogramm, ein Reitgertchen in der Hand.
Die Höhe hinab wäre es ja zu Fuß ganz gut gegangen, aber bergauf wurde sie mit dem Hinkebein auf dem schweren Sohlengestell doch gar zu müde, und so wußte man es gar nicht anders, als dass ein Maulesel, ein hierzulande eigentlich seltenes Tier, die junge Gräfin zu ihren Besuchen ins Tal trug, während sie oben auf dem Hochplateau mit Vorliebe zu Fuß ging.
Wenn in der Schule von Niederrothkreuz nicht nur, sondern auch in den meisten Nachbarorten der Schulmeister Säugetiere genannt verlangte, dann durfte er sicher sein, dass der Maulesel nicht lange auf sich warten ließ.
Ein kleiner Junge von Niederrothkreuz sagte einmal geradewegs „der Treu“, denn so hieß das gräfliche Maultier.
Am Dorfeingange stieg die Gräfin ab und ließ Treu in der Obhut des kleinen Dieners zurück. Eine Gruppe von Kindern war alsbald zur Stelle, reichte der ins Dorf hineinhinkenden Dame die Hand und stellte sich dann zum Maultier hin, das am Grabenrande Gras zupfte.
Etliche Weiber, die vom Fenster aus oder im Freien beschäftigt sie sahen, stellten sich auch zusammen und erörterten die Frage, ob sie wohl ihre bisherigen bei der Bachlschuster-Familien fortsetzen würde. Der Schuster war ja erst gestern aus dem Zuchthause gekommen.
Einige halbwüchsige Mädchen und Jungen wurden von den neugierigen Müttern ausgeschickt, zu spionieren. Eilfüßig schnitten sie der Gräfin durch Gärten oder über Hecken den Weg ab und standen schon, die Köpfe zusammensteckend, auf einem kleinen von einem Nußbaum überschatteten Rasenfleck, in nächster Nähe des Schusterhäuschens, als jene auf dem, zwischen Hecken bergan führenden Wege herankam.
Das elende, mit schwarzbraunem Stroh gedeckte Häuschen des Bachlschusters lag im hintersten Winkel des Dorfes, mit der Seite an den von Haselnußstauden dicht umrankten, rasch talwärts rieselnden Back stoßend, die andere an eine etwas erhöhte Gruppe von Bäumen und Buschwerk gelehnt. Ein kleines Vorplätzchen trennte die Nordseite von einem mit Obstbäumen bepflanzten Wiesenhang, auf dem sich der Weg hinaufschlängelte.
Als die Gräfin die in diesem entlegenen Winkel lauernde Kindergruppe sah, wurde sie rot und rief sie nicht eben freundlich an:
„Was lauert ihr denn hier herum und glotzt mich an? Seht ihr mich vielleicht zum ersten Male? Allons, macht, dass ihr heim kommt!“
Langsam, mit scheuen Köpfen wichen die jungen Kundschafter zurück. Ein paar von ihnen drehten sich noch einmal um und überzeugten sich, vom Nußbaum gedeckt, dass sie wirklich beim Bachlschuster eintrat.
Im schmalen Flur kam ihr ein schwarzhaariges Mädchen von dreizehn Jahren in kurzem Röckchen und mit bloßen Füßen entgegen und sah scheu aus großen, braunen Augen zu ihr auf. „Na Katherl“, sagte die Gräfin, ihr den Scheitel streichelnd, „was hast du denn heute? Warum machst du ein so dummes Gesicht?“
Jetzt öffnete sich die Stubentür. Ein schlankes, blasses Weib, auch barfuß, in schlechten Kleidern, sagte: „Komteß, Sie kommen wirklich?“
Dan wischte sie sich mit dem blauen Schurz die weinenden Augen und machte die Türe weiter auf. Als die Gräfin die niedere Stube eintrat, erhob sich ein Mann von der Ofenbank, ein kleines Jüngelchen von seinem Schoße entfernend.
„Guten Tag, Herr Steinmüller!“ sagte die Gräfin leiste und reichte ihm die Hand hin, die er küßte.
Ich danke euch auch schön für alles“ – sagte er und weinte dann bitterlich. Aber er faßte sich wieder rasch. Als nun die Gräfin den auf langem, hagerem Halse aus dem groben Hemde, das mit der Hose die einzige Bekleidung des Schusters bildete, aufragenden, eingefallenen, bläulich bleichem Kopf mit den tiefliegenden, scheuflackernden Augen sah, wurde ihr schier unheimlich zumute. Die Schuld! So hatte sie ihr Bild noch nie geschaut. Aber rasch regte sich wieder das Mitleid; denn, so sagte sie sich, harte Buße prägte sich wohl mehr in diesem körperlichen Verfalle aus als die Schuld.
Freilich eine schaurige, ihrer Seele kaum faßbare Schuld, ein Meineid, hatte den Bachlschuster auf drei Jahre ins Zuchthaus gebracht. Um schnödes Geld hatte er vor dem Schwurgericht den verbrecherischen Eid geleistet. Allerdings war er immer recht arm, der Allerärmste im wohlhabenden Dorfe, gewesen.
Sein Verführer, der reiche Anselm, starb im Zuchthaus.
„Der gnädige Herr Graf ist gestorben“, sagte der Schuster jetzt unbeholfen und mit scheuer Bescheidenheit.
„Ja, mein Vater hat schnell fortgemußt,“ antwortete die Gräfin.
„Mein Hansl hat auch gehen müssen,“ murmelte der Schuster traurig, mit dem Kopfe nickend. Er gedachte des Söhnchens, das ihm während der Strafzeit gestorben war.
Die Gräfin sprach weiter: „Ihre Frau hat es Ihnen wohl schon gesagt dass zwar der Herr Pfarrer und der Bürgermeister mit mir über Ihr weiteres Schicksal gesprochen haben. Ich habe mir aber völlig freie Hand vorbehalten, und was von dieser Seite etwa an Sie herantritt, geht mich nichts an. Ich meinte, Sie sollten zunächst Ihr Gewerbe wieder aufnehmen. Was Ihnen dazu nötig, das stelle ich Ihnen zur Verfügung.“
Der Schuster starrte stumm vor sich hin Die Frau ergriff statt seiner das Wort und sagte:
„Wenn halt nur die Leut` dann Arbeit brächten! Sie gönnen´s uns ja schon nicht, dass die Komteß so viel für uns tut.“ – „Das wird auch kommen, nur Mut!“ – sagte die Gräfin. „Sie haben Ihre Strafe abgebüßt, also ist´s vorbei mit der bösen Geschichte. Sie selber müssen sich jetzt ohne Mißtrauen und ohne Menschenfurcht geben, dann kommen die Leute auch darüber weg. Aber den Doktor schicke ich Ihnen. Er soll nachsehen, ob Sie nichts für Ihre Gesundheit brauchen.“ –
„Was soll ich dazu sagen,“ sprach der Schuster, „Weib und Kinder sind freilich brav und verdienen die Guttat. Ich selber wär´s ja nicht wert.“ – „Was ich tue, tue ich auch Ihretwegen, Herr Steinmüller,“ versetzte die Gräfin. „Man muß einem Menschen, der gebüßt hat, auch wieder aufhelfen. Auch das gehört zur Gerechtigkeit.“ –
Sie unterhielt sich dann noch mit der Frau und den Kindern. Als sie aufbrach, entstand eine gewisse Verlegenheit, die sie sofort mit den Worten aufgriff:
„Ich werdet so höflich sein, alle zusammen, mich vor die Türe zu begleiten,“ und Mann und Frau, das junge Katherl und auf der Mutter Arm der kleine Bub, sie traten mit ihr hinaus auf das kleine Vorplätzchen.
Da lungerten schon ein paar Weiber und etliche Kinder in der Nähe. Die Schustersleute machten Miene zurückzuweichen, aber die Gräfin sagte: „Was fällt euch ein. Jetzt plaudern wir erst recht noch was.“
Und sie blieb noch einige Minuten im Gespräch stehen. Dann reichte sie jedem die Hand. – „Das vergeß ich auf meinem Todbett nicht,“ murmelte der Schuster.
Was konnte doch diese Komtesse mit dem welken, feinen Geschichtchen für böse Augen machen! Kaum dass sie „Grüß Gott“ zu murmeln wagten, die davonschleichenden Weiber.
Sie besuchte noch den kleinen Jakob des Kasperbauern, der mit einem zerbrochenen Bein da lag, und erzählte im Geschichten und besah Bilder mit ihm, dann sprach sie noch bei einem alten Mütterchen vor, das an den Lehnstuhl gebannt war. Obwohl die Alte auch schon ziemlich geistesstumpf war, pflegte sie doch bei dem Erscheinen der Gräfin gewissermaßen aufzuwachen; dann erzählte sie gerne von vergangenen Tagen und brachte ihr Lebensweisheit in oft seltsamen Sätzen an, aus deren Seltsamkeit die Gräfin manches Licht einfach tiefer Weisheit aufleuchten sah. Sie selber sprach sich dem schlichten Bauernweibe gegenüber gerne aus, und sie wurde auch verstanden.
Als sie dann sich daran machte, durch die Hauptstraße zu gelangen, kam ihr Pater Romanus vom nahen Wallfahrtsklösterchen Heiligenkreuz am Berg in den Weg.
Der große, in der Kapuzinerkutte schwerfällig einherschreitende Mann mit dem breiten, bis über die Brust wallenden, braunen Vollbart, der kaum noch etwas von Gesichtszügen erkennen ließ zwischen der hohen, rötlich glänzenden Stirne, lüftete mit tiefer Verbeugung sein Scheitelkäppchen und frage:
„Wieder auf dem Wege der Barmherzigkeit, gnädige Komtesse?“
„Ja,“ lautete die Antwort, – „ich habe einige Besuche gemacht. Das Verdienst dabei ist nicht sehr groß. Man muß doch irgend etwas zu tun haben.“
„Nun, wir wissen ja, wie´s die Gräfin Albertine hält,“ versetzte der Pater lächelnd. Dann setzte er hinzu: „Ich bin im Begriffe, zum gnädigen Herrn Bruder zu gehen. Eine kleine Anfrage… Oder sind der Herr Graf vielleicht abwesend?“
„Er könnte wohl aus dem Schlosse sein. Aber verreist ist er nicht,“ erwiderte Gräfin Albertine.
Da fiel´s ihr ein, von ihrem Besuch beim Bachlschuster zu erzählen und den Mönch zu befragen, ob es recht sei, mit Sündern solche Gemeinschaft zu haben, oder ob man sie meiden müsse.
Dieser antwortete: „Es ist wohl wahr, man soll im Verkehr mit sündhaften Menschen verhüten, dass von ihnen selber oder von anderen mildes Erbarmen mit leichtem Bewerten ihrer Schuld verwechselt werde, und leider wird´s bei unseren Bauern gerade mit dem Meineid bösartig leicht genommen.“
„Das hab´ ich nicht gewußt,“ warf die Gräfin im Tone des Bedauerns ein.
„´s ist ja nicht Ihre Sache, Bescheid zu wissen, über die moralischen Gebrechen der Menschen. Im allgemeinen dürfe es kein Feld der Barmherzigkeit für eine Dame sein, sich gerade der Sünder anzunehmen.“
„Warum für eine Dame?“ fragte die Gräfin jetzt mit einiger Schärfe.
„Weil sie in eine zu häßliche Welt schaut und zu viel der Enttäuschungen erlebt. Es wird Mißbrauch getrieben mit ihrem Erbarmen.“
„Das scheinen mir aber doch keine solche Gründe, die zwingen wären. Das ist unbequem, vielleicht Bitterkeiten verbunden. Aber wenn man sagt, dass dem Kranken Frauenhand und Frauenwesen besonders wohltue in der Pflege, ist das nicht auch vielleicht bei einem Sünder der Fall, kann nicht da auch die milde Güte eines Weibes ihm, wenn er sonst reuig ist, den Glauben an das Gute besonders wirksam wiedergeben?“
„Möglich ist der Fall wohl,“ lautete die bedächtige Antwort.
„Und wenn Sie die Möglichkeit zugeben, dann ist das, von allen Werken der Barmherzigkeit, vielleicht das höchste!“ rief die Gräfin lebhaft aus. „Ich habe mich etwas weit vorgewagt! das ist Ihre Meinung? Sie glauben also doch, mein Tun sei eben nur eine damenhafte Spielerei, und trauen mir nicht zu, dass ich im vollen Ernst dem Elend ins Auge sehen kann?“
Man war zum Maulesel gekommen. Die Gräfin saß mit des Dieners Hilfe, und auch vom Pater leicht am Ellbogen gestützt, auf. Der neben ihr schreitende Mönch nahm das Gespräch, als sich das Tier in Bewegung gesetzt hatte, mit den Worten wieder auf: „Wollen mich Komtesse nicht mißverstehen, als wäre es mir beigefallen, klein von Ihnen zu denken. Aber e wäre mir wirklich schmerzlich, wenn eine so edle Seele üble Erfahrungen machte.“
„Was wollen Sie denn? Bin ich dazu angetan, das Leben für einen Rosengarten anzusehen?“ – versetzte die Gräfin und machte eine Gebärde, die auf ihren Körper wies.
„Das ist doch etwas anderes,“ meinte der Pater.
„Wer einmal erkannt hat, dass dieses Leben nur Stückwerk ist, dem fügt sich eins zu andern, um schließlich jedes Übel begreiflich zu finden,“ entgegnete die Gräfin.
Pater Romanus sagte nach einer Weile:
„Schade, dass damals in Lourdes…“
„Da sprechen Sie ja gerade von einer recht üblen Erfahrung, die ich gemacht habe; als Kind noch dazu,“ versetzte die Gräfin.
Als der Pater traurig den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: „Es hat nichts geschadet. Den Glaube ab´ ich nicht verloren, aber ich habe doch denken gelernt. In der Seele müssen die Wunder Gottes geschehen. Da sind sie wichtiger als am Körper und ich glaube, auch häufiger.“
Der Mönch antwortete nicht, und nach einer Pause gab die Gräfin dem Gespräche eine andere Wendung.
Eben im Schlosse angekommen, verabschiedete sie sich herzlich vom Pater Romanus, der alsbald vom Grafen empfangen wurde. Nachdem er seiner Begegnung mit Gräfin Albertine Erwähnung getan, fuhr er fort:
„Es ist eine eigenartige Angelegenheit, die ich dem Grafen vorzutragen habe, und eigentlich habe ich dabei ein etwas peinliches Gefühl. Aber es ist eine Klostersache, für die ich verantwortlich bin. Ihr hochseliger Herr Vater hat vor zwölf Jahren – ich war damals gerade nach hier gekommen – den Kloster dreihundert Mark übergeben mit der Weisung, sie für Seelenmessen zum Gedächtnis einer bestimmten Person zu verwenden, und diese Spende jedes Jahr wiederholt. Die Messen wurden auf verschiedene Klöster unseres Ordens verteilt. Es ist nun die Frage, ob Herr Graf die Stiftung Ihres Herrn Vaters fortzusetzten geneigt sind? Das heißt, von einer Stiftung kann eigentlich keine Rede sein. Es handelte sich nur um ein jährliches freiwilliges Opfer des Herrn Vaters ohne jede weitere Verpflichtung.“
Der Graf hatte mit gespannter Aufmerksam zugehört und war sehr nachdenklich geworden.
Dann fragte er lebhaft:
„Haben Sie eben mit meiner Schwester über die Angelegenheit gesprochen.
„Nein!“ erwiderte der Mönch. „Ich habe nur von einer Auskunft gesprochen, die ich beim Herrn Grafen einzuholen hätte.“
Der Graf sah ihm scharf ins Gesicht und las daraus die Ergänzung dessen, was er schon aus dem Ton, in welchem die Worte des Mönches gesprochen waren, gehört hatte. Dann sagte er mit leiser Stimme:
„Die Beiträge werden weiter gezahlt werden, und zwar von mir selbst. Die Rentei ist ja wohl auch bisher nicht damit befaßt gewesen?“
„Nein“ – antwortete Pater Romanus. „Der Herr Graf brachte die Summe immer persönlich zu uns. Wir kennen auch nur den Vornamen der betreffenden Person.“
Der Graf öffnete einen Wandschrank, dem er eine Eisenkassette entnahm. Aus dieser überreichte er dem Pater drei Scheine.
„Eine Quittung…“, murmelte dieser.
„Nein! Nein!“ entgegnete der Graf.
„Die Quittung könnte ja eine harmlose Fassung bekommen,“ fuhr jener fort.
„Nein! Nein!“ lautete wieder die Antwort unter lebhaft abwehrender Handbewegung.
„Das Opfer wird auch der armen Seele Ihres Herrn Vaters zugute kommen, dem diese Angelegenheit offenbar am Herzen lag,“ sagte jetzt der Mönch.
Der Graf schwieg eine kurze Weile, dann unterhielt er sich lebhaft über verschiedene Angelegenheiten des Klosters, das seit langem im gräflichen Hause freigiebige Gönner gehabt hatte.
Als Pater Romanus mit dem Wort: „Gott segne Ihr Regiment und erhalte Sie recht lange am Leben, Herr Graf,“ sich entfernt hatte, machte der Zurückgebliebene eine Gebärde des Abscheus und streifte dabei mit einem Blick den Ofen in dem vor kurzer Frist die heimlichen Papiere seines Vaters verbrannt worden waren.
Jetzt war doch noch eine Flamme aus der Asche aufgestiegen und zwar eine glühendrote, voll unheimlichen Scheines.
Jene Person, zu deren Gedächtnis die Messen gelesen wurden, war zweifellos ein Weib und der Beitrag für solchen Zweck sehr erheblich.
Wer konnte die Tote sein, für deren Seele sein Vater so viel Teilnahme hegte!
Eine Mätresse, die ihm starb? Das wäre eine seltsame Sentimentalität gewesen, die ihm ganz und gar nicht ähnlich sah. Da sollte etwas getilgt werden, eine schwere Schuld, die das Gewissen nicht zur Ruhe kommen ließ. – Eine Selbstmörderin? – Selbstmörderin seinetwegen? – Das mußte es gewesen sein.
Und einen Platz im Himmel wollte er ihr erkaufen, einen vornehmen Schadenersatz leisten, indessen aber selber das schlimme Leben fortsetzen?
Was hatte dieser Mann von seiner Religion gedacht, er mit Gott, wie ein Kavalier mit einem Rechtsanwalt, einen Prozeßvergleich schließen wollte?
Diese Religion, die man als Standessache, wie die Grafenkrone in dem Nachthemde und der Unterhose, betrachtete, diese Religion mit der alltäglichen Kirchenfahrt, dem feierlichen Schritt hinter dem Baldachin bei der Fronleichnamsprozession, dem jährlichen großen Gottesdienst für die Ahnen mit darauffolgendem Festessen für die Geistlichkeit, was hatte sie mit dem Gottesbegriffe, war gar mit dem Kreuze zu tun?
Es stieg etwas auf in seiner Jünglingsbrust, etwas wie Zorn, wie Anklage, und dann kam ein Gefühl des Ekels. Da waren auch die Erfahrungen, die er mit dem Gutsbetriebe gemacht hatte, diese gemeinen Kniffe der Habgier, diese niedrige Ausbeutung vornehm nonchalanten Vertrauens, an der sich von den Beamten jeder beteiligte, der irgend etwas mit dem Gutsbetriebe zu schaffen hatte.
Dann fiel ihm wieder der Vorgang in Grafenwang ein.
Wie weit waren da doch die mit Rudhart ausgesponnenen Schönheitsträume! Dabei blieb´s vielleicht, dass er das ehemals weidmännisch eingerichtete Schreibkabinett in einen zierlich gefälligen Rokokoraum umwandelte, zu dem die alte Decke und der Ofen vortrefflich stimmten; dass er a am Schloßabhänge einen Durchschlag durch die Baumgruppen hauen ließ, u die Aufsicht auf eine schöne umrahmte Wiesenfläche zu gewinnen und drüben im Wäldchen, am Wasserfall, die arg verfallenen Anlagen erneuerte – Spielereien, weiter nichts. Und doch, wenn er ans Fenster trat – es war nicht einmal die günstige Seite – da grüße alles so liebkosend herauf, das war so lieblich. Man mußte hier glücklich werden!
Da fiel ihm auch der herrliche Fernblick von den drei Tannen aus, den er hier nicht wahrnehmen konnte, ein.
Die verschiedensten Punkte seiner weitgedehnten Herrschaft hatte er inzwischen als Gebieter in Augenschein genommen. Dort an seiner Lieblingsstelle war er seit jenem Vorfall in Grafenwang nicht mehr gewesen. Das ließ sich aber doch nicht auf die Dauer aufrecht erhalten. Er konnte doch nicht deshalb, weil das Grafenwanger Schlößchen so nahe an der zur Höhe führenden Waldstraße stand, das ganze dortige Gebiet seines Besitzes für immer meiden. Weshalb auch? Er hatte kein Unrecht getan und hatte keine weiteren Verpflichtungen als zu grüßen, wenn er zufällig jemaden von den Rieds sehen sollte.
Sie ganz zu meiden, lag auch gar nicht in seiner Absicht.
Wenn er heute hinüberritt, war er aber zu nichts verpflichtet, denn e hatte ja erst vor kurzem mit Mutter und Schwester dort seine Karte abgegeben.
Nach Tisch ließ er sein Reitpferd satteln und schlug den Weg dorthin ein. Durch Niederrothkreuz ging es und dann weiter auf der das Tal durchschreitenden Chaussee.
Er sah zur Rechten vom Hochplateau immer sein Schloß niederragen mit dem mächtigen Sattelturm, der die Uhr trug, an der Westseite und den hohen Schneckengiebeln, die die Mitte jedes der beiden sichtbaren Flügel der Süd- und Ostseite schmückten.
Von der gelblichen Farbe der Mauern hoben sich die weißen Fensterladen ab, die Uhrzeiger blitzten im Sonnenlicht, das auch auf der einen oder anderen Fensterscheibe ein blinkendes Spiel trieb.
Die weichen Rundungen der talwärts abfallenden Baumgruppen des Schloßgartens sahen aus wie ein schwerer Teppich in verschiedenen grünen Tönungen.
Eine Straße bog nach links ab. Sie führte schnurgerade nach Grafenwang, das rosenfarben getüncht mit einem hohen Mansardendach von Schindeln zu ihm herübersah.
Er schämte sich des Gedankens, der ihn überraschte, da er seine Blicke wechseln ließ zwischen seinem Eigentum und dem des Baron Ried. „Nichts Traurigeres als ein verkommener Edelmann!“ dachte er dann.
Eine kleine Strecke ritt er auf der Chaussee weiter, dank schwenkte er in eine Straße ein, die um die Grafenwangschen Wiesen und Felder eine weite Biegung machte, bis sie im Rücken der verfallenen und schmutzig aussehenden Stallungen in den Wald bog.
Eine nicht sehr breite, von einem Fuhrwerkspfad mit tiefen Wagenspuren durchquerte Wiese lag zwischen Stallungen und Waldstraße. Diese führte erst durch Buchenjungholz sacht bergan, dann ging´s eine gute Weile auf ebener Fläche durch den Tannenhochwald.
Ganz dumpf klang der Huftritt des Pferdes auf dem weichen Boden, aromatische Düfte schwebten in der Luft, der blaue Himmel lugte zwischen den breit sich streckenden Ästen hervor, und hinter den Reihen der glatten Stämme brodelte dunkelgrüne Dämmerung.
Steil bergan ging es jetzt, und das Pferd sank mit den Füßen tief in den nassen Boden, denn das Sonnenlicht konnte nur spärlich in diese Strecke eindringen, die von überhängendem Gezweige überdacht war.
In welligem Auf und Nieder durchschritt der Graf alsdann eine hellgrün-goldig leuchtende Buchenhalle, und der Ausblick auf den freien Himmel zeigte das baldige Ziel an.
Wie ein Jauchzen zog es durch seine Seele, als er herauskam in den leuchtenden Tag. Über dem niederen Pflanzenwuchs aller Art ragten seitlich die drei Tannen auf.
Er ritte eine kurze Strecke von der Straße ab in die Pflanzenwildnis hinein, dabei gierigen Auges die Wunderlandschaft in sich aufnehmend. Vor allem war es die vielgezackte, in den oberen Regionen weiß gefleckte Bergkette, die blaudunstig in langer Linie ihr Gigantenmärchen erzählte. Er kannte sie alle beim Namen, die kleineren Berge, die die Vorhut bildeten, und die größeren, die hinter ihnen nur mit ihrer Spitze hervortraten, und ihm war´s, als ständen sie alle nur da in ihrem azurnen Feenzauber, in dem Wunderspiele ihrer zerrissenen Linien mit dem Seelicht und der Himmelshöhe seinetwegen, als gehörten auch sie zu seinem Eigentum.
Unten lachte das Tal mit Feldern und Wiesen, Gehöften und Dörfern und dem Amtsstädtchen mit dem spitzen und dem zwiebelförmigen Kirchturm in eben noch erkennbarer Entfernung, zu dem drei weißschimmernde Straßen, die von schnurgeraden Pappeln begleitete Chaussee in der Mitte, hinzogen.
Und als er einige Schritte gegen links ritt und das Pferd dann drehte, sah er hinüber nach Hochrothkreuz, das sich in zarter Silhouette vom Himmelsblau abhob, hier wo der Stil nicht mehr genau erkennbar war, ganz einer Ritterburg gleichend.
Und was er sonst sah, das war auch zum größten Teil sein Eigen, wie der Boden, auf dem sein Roß stand, von dem er jetzt absaß. Die Zügel leicht um den Arm gelegt, schlenderte er neben Tiere auf der Lichtung hin und her, immer die Landschaftsbilder in sich aufnehmend, dann und wann den Begleiter liebkosend.
Er spielte Klavier, aber ohne eigenliche Meisteschaft; er sah Kunstwerke gern, aber er hatte sich nie eigentlich in das Wesen der bildenden Künste vertieft. Nie hatte er Verse gemacht, obwohl er die Lektüre sehr liebe.
Die Natur, das war es, was immer in seiner Seele den stärksten Klang weckte!
Das kam eben doch nicht heraus, aus seinem Bilde, in keiner Dichtung, in keinem Tonwerk, dieses große, unnennbare Empfinden, das so viel Lebensfreude, solche süße Sehnsucht nach dem Guten, Reinen und dazu solche schlichte Demut zu einem Zauber vereinte, der dem Menschen etwas wie Kindlichkeit, eine seelische Nacktheit gab, die ihn ganz aus dem Rahmen des Gewohnten hob und ihn ganz vergessen ließ, was er unter den anderen Menschen war.
Noch etwas gab´s, was gerade so hinaushob aus dem Gewohnten in Weltvergessenheit, den Menschen zu einem anderen Wesen umwandelte und ihn hinriss in ein Meer geheimnisvoller Entzückungen.
Es war das Weib! Und er kannte es noch gar nicht auf dem Höhepunkt seiner Schönheit, als das reine Weib, das sich ihm in reiner Liebe hingab!
Bis jetzt hatte er nur aus der Ferne etwas wie einen zarten Duft davon genossen, aber es war ein Genießen gewesen, was Beunruhigungen enthielt, die der Freude Abbruch taten.
Das war ein Lebensziel, dieser Genuß der reinen Weibesschönheit, ja nicht ein Lebensziel, sondern das Ziel. Die Natur gibt Ahnungen des Glücks, sie summt dem Menschenkinde und seiner Glückssehnsucht Melodien vor und läßt es wachend träumen.
Ein Weib von solcher Art aber bildet die Tatsache des Glücks.
Versonnt und Feuer auf den Wangen, stieg er wieder zu Pferd. Als er an jene tief durchnäßte Stelle im Walde zurückkam, sah er am anderen Ende Sophie von Ried zaudernd und nach irgend einem brauchbaren Durchgang spähend. Also doch!
„Es geht wirklich nicht, Baronesse!“ rief er ihr munteren Tons zu und zog den Hut dabei weit ab. „Hier ist für Fußgänger der Welt Ende.“
Die also Angerufene, einen Augenblick von dem Erscheinen des Reiters überrascht, rief zurück:
„Guten Tag, Herr Graf! Ich will nach den drei Tannen!“
„Sie müssen es beim guten Willen lassen,“ klang es zurück. Das junge Mädchen schickte noch einige suchende Blicke umher, dann ergab es sich in sein Schicksal und, zur Seite tretend, machte es sich bereit, den Reiter vorbeizulassen, der nochmals grüßend sein Pferd anhielt.
Mit großen, blauen Augen und ein wenig geröteten Wangen sah sie zu ihm auf.
„Das ist noch von den Gewittern der letzten Tage und bleibt eine Weile so,“ sagte er und reichte ihr seine Hand hinab, die sie mit leichter Berührung nahm.
„Da muß ich also wieder umkehren?“ fragte sie zaudernd.
„Es wird nicht anders gehen, wenn Sie nicht durch das Holz blindlings hinaufklettern wollen,“ entgegnete der Graf und mit der Hand nach dem steil emporziehenden, buschdurchsetzten Hochwald weisend, fügte er hinzu:
„Das hat doch seine Schwierigkeiten und ist mindestens nicht sehr bequem. Da wir aber auf gemeinsamen Talwege sind, so darf ich Sie wohl begleiten? Ich mute Ihnen natürlich nicht zu, dass Sie neben dem Gaul hergehen. Bitte nur ein wenig vor- oder richtiger zurückzugehen, damit ich absteigen kann.“
„Aber, Herr Graf, ich kann wirklich nicht verlangen, dass Sie meinetwegen Ihren Spazierritt aufgeben,“ wendete Sophie von Ried ein.
„Das geht ja fast ständig im Schritt bis hinunter und wir würden doch vor- oder hintereinander immer in nächster Nähe ein. Da ist´s doch besser, wir bleiben gleich nebeneinander. Oder meinen Sie nicht?“ entgegnete dieser.
Sophie verneigte sich leise und gab dann Raum. Der Graf schwang sich aus dem Sattel und ging nun neben ihr.
Das Pferd trottete, an lockerem Zügel geführt, mit langgestrecktem Halse hinter ihnen her; zur zuweilen, an Stellen, wo es leicht stolpern konnte, wurde es auf kurze Weile fester genommen.
Sophie sprach ein nachträgliches Beileid aus, erkundigte sich nach den Damen und meinte, der Graf müßte jetzt wohl viel zu tun haben. Dieser gab geeignete Antwort.
Aber so recht wollte ein Geplauder doch nicht in Gang kommen. sie hatten sich zu lange nicht mehr gesehen, und es zeigte sich, dass die Fäden vertraulichen Verkehrs abgerissen waren.
„Eigentlich schade!“ dachte der Graf, während ein heimlicher Blick über die Gestalt de schlanken, blonden Mädchens glitt. Das aristokratische Wesen der leisen, langsamen Sprache, des hochmütigen Zuges an den leicht abwärts gekrümmten Mundwinkeln, den meist gesenkten Augenlidern vereinten sich mit dem scharf modellierten Madonnengesicht und dem weißen, ein wenig zu zarten Teint, aus dem aber volle rote Lippen aufleuchteten, zu einem Eindruck, halb lilienhafter Jungfräulichkeit im Giottostil, halb rokokohaften Hofdamencharakters. Die Toilette fügte dazu eine etwas zigeunerische Besonderheit.
Das gelbe, englische Strohhütchen mit dem dunkelblauen Bande hatte wohl schon einige Regen über sich ergehen lassen, und das hellgraue Kostüm hing dienstmüde und zweierlei Schattierungen spielend an der schlanken Gestalt herab. Die große schottische Halsschleife wußte gewiß von einem Hut und dann von langer Schiebladenhaft zu erzählen. Die braunen Handschuhe und der dunkelgrüne Sonnenschirm mit dem hellgrünen Griffe, sie hatten auch das Wesen des viel Gebrauchten an sich.
All dies, das bei einer anderen einen unerquicklichen Eindruck gemacht hätte, wirkte bei ihr pittoresk… Sie war die richtige Bettelaristokratin, die ihr Adelskrönchen „trotzalledem“ selbstbewußt trug. Ehe diese Beobachtungen des Grafen sich noch auf die Chauffure ausgedehnt hatten wurde sie durch Sophies Frage unterbrochen, ob er doch noch die diplomatische Karriere ergreifen werde.
Seine Verneinung schien ihr nicht zu gefallen. Sie meinte, in Paris, London oder Rom in der vornehmsten Gesellschaft zu leben, Orden zu bekommen, Exzellenz zu heißen, das seien doch sehr reizvolle Zukunftsperspektiven.
Der Ton ihrer Stimme wurde lauter und lebhafter; etwas von einer Sehnsucht nach solchem Ziele schien daraus zu klingen.
„Herr von Hochrothkreuz zu sein, das wiegt einen Exzellenztitel so ziemlich auf!“ erwiderte der Graf mit einer Bestimmtheit, die Sophie rasch aufblicken und dann erröten ließ, als hätte sie einen Verweis erhalten.
„Ja, Hochreuthkreuz ist eine sehr schöne Besitzung. Ich kenne es freilich nur flüchtig,“ sagte sie.
Ei! Steckte da Kampflist darin? War´s ein Hieb darauf, dass eine Mutter und Schwester sich gegen die Rieds so zurückhielten?
Er gab die Antwort nicht, die sie wenigstens als galante Redensart erwarten möchte, sondern sprach halb scherzend, halb ernsthaft von den Schwierigkeiten, die ihm zunächst die neue Rolle des Gutsherrn bereite. Darauf sprach Sophie von ihrem Vater und dessen Mühen und Verdrießlichkeiten – und schloß:
„Mama sagt ihm immer, er soll doch verkaufen und wieder nach München ziehn. Aber er ist einmal passionierter Landwirt. Es ist ja auch, abgesehen von Militär und Diplomatie, der einzige standesgemäße Beruf.“
Das kannte er von ihr, dieses Flunkern. Nur war´s ihm auch jetzt noch nicht klar, ob sie´s dem Vater treuherzig nachahmend in aller Unschuld oder mit bewußter Absicht tat.
Man mußte fast an Unschuld glauben, als sie wieder begann:
„Die Leute sind heutigen Tages ganz demokratisch geworden. Namentlich in der hiesigen Gegend respektiert man den Adel gar nicht mehr. Sie sind, glaube ich, auch kein besonderer Freund dieses Bauernvolkes?“
„Nicht Freund nicht Feind,“ antwortete er. „Ich habe eben vorläufig wenigstens kein ernstes Verständnis für die Eigenart dieses Menschenschlages. Das liegt an mir.“
„Das erklärt sich auch,“ bemerkte Sophie, „ein Schöngeist wie Sie….“
„Meine Mutter und meine Schwester verstehen sich sehr gut mit den Leuten,“ sagte er.
„Ich könnt´s nun einmal nicht.“ Ein gewisser Trotz klang aus diesen Worten des Mädchens.
Indessen waren sie an den Ausgang des Waldes und an die Straße gekommen, die über die Wiesen zu den Grafenwanger Stallungen führte.
„Ich bin am Ziel,“ sagte Sophie, stehen bleibend. Nach einer kleinen Stockung fuhr sie fort: „Mama und Elvi sind zu Hause. Kommen Sie vielleicht ein bißchen herein?“
In der Art, wie sie ihn ansah, lag eine deutliche Spannung. Der Graf fühlte, dass eine noch so diplomatische Ablehnung sie verletzten würde, und er nahm ihre Aufforderung an.
Im Hofe übergab er ein Pferd einem halbwüchsigen Jungen, den Sophie gerufen hatte. Baronin Ried empfing ihn in der ihr eigenen wortreichen Art. Elvi reichte ihm ganz unbefangen die Hand und antwortete auf seine Höflichkeitsfrage nach ihrem Befinden munter mit hellklingender Stimme:
„Gut!“
Man saß im „Salon“. Der niedrige Raum mit der alten, grauen Tapete, der weißen, glatten Decke, den kleinen Fenstern mit den billigen auch nicht sehr saubereren Tüllgardinen und den an den grüßen Plüschpolstern abgeschabten Möbeln war ihm wohl vertraut.
Die Nippes auf den Mahagonischränkchen, die Prunklampe mit dem Majolikagestelle grüßten ihn als alte Bekannte. Aber jetzt sah er mehr als je den Verfall aus alle dem heraus. Diese weiße Türe, diese Fensterkreuze, sie schrien nach frischem Anstrich, eine Scheibe hatte einen großen Sprung, der Spiegel über dem Sofa war der Neuvergoldung dringend bedürftig, am Mahagonischränkchen war eine Ecke abgebrochen.
Das kam ihm so nach und nach vor die Augen, während die Baronin immer in ihn hineinsprach. Als er eine Einladung zum Kaffee angenommen hatte, lief Elvi hurtig aus dem Zimmer. Nach einer Weile erschien eine nichts weniger als saubere Magd mit dem Kaffeegeschirr und breitete auf dem Sofatisch ein fleckiges Leinen aus.
„Aber Anna,“ riefen die drei Damen gleichzeitig entrüstet aus, und Sophie riß das Leinen mit heftiger Bewegung weg.
„´s ist kein anderes da,“ gab die Magd trocken Bescheid. Zornige Blicke trafen sie, und die Baronin sagte, hochrot im Gesicht, gegen den Grafen gewendet:
„Sie entschuldigen, lieber Graf! Ich habe heute morgen den Schlüssel zum Wäscheschrank verloren, und jetzt weiß sich das Mädchen nicht zu helfen.2
Die Magd wurde angerufen:
„So bringen Sie eben Servietten!“ Gleichzeitig erhielt Elvi einen Wink mit den Augen. Sie entfernte sich und kam, wieder mit der Mutter Blicke austauschend, mit zwei frischen Servietten zurück, die den Tisch nur teilweise bedeckten.
An der Zuckerdose fehlte ein Henkel, auf dem Deckel der Kaffeekanne der Zierknopf. Während Sophie einschenkte, fragte die Baronin den Grafen aus, ob er den Winter in München zubringe und ob er sich „natürlich“ um die Würde eines Kammerjunkers bewerben werde.
Das führte sie bequem zu ihrem Lieblingsgesprächsstoffe, den Wiener Hofverhältnissen zu ihrer Jugendzeit.
Der Graf wußte längst, dass sie dabei nicht aus eigener Erfahrung, sondern nur aus den Erzählungen von Verwandten schöpfte. Sie gab sich aber mit großer Sicherheit den Anschein, als sei sie selber in diesen österreichischen Hofkreisen heimisch gewesen. Sophie nährte durch Zwischenreden die Erzählungslust der Mutter.
War ihr doch auch aus ihrem Aufenthalt im Wiener Sacré-Coeur-Kloster dieser oder jener klingende Name bekannt. Dem Grafen tat es leid, dass gerade sie diese Komödie der Mutter mitmachen mußte, während Elvi teilnahmslos dabei saß.
War das eine Charakterübereinstimmung, die der physischen Ähnlichkeit entsprach? Baronin Ried war fast ganz weiß im Haare, noch aber erkannte man sie als Blondine. Ihre Augen hatten nicht ganz das leuchtende Blau, auch nicht den tiefen Ernst derer Sophiens, aber die kleine, ein wenig gebogene Nase mit den etwas gebleichten Flügeln war ihnen genau gemeinsam und auch der Mund mit der Krümmung der Winkel, die aber der Mutter mehr etwas Wehmütiges als Stolzes ließ.
Elvi kam offenbar mehr auf den Vater heraus mit dem dunkeln Haar, den blitzenden braunen Augen. Sie hatte aber keineswegs seine Habichtsnase, sondern ein zierliches Stumpfnäschen, der volle Mund krümmte sich nicht hochmütig oder wehmütig, sondern war die Lippen kußbereit auf. So was wie bei Elvi konnte man öfter sehen, eben ein hübsches, frisches Ding, von aufblühender Sinnlichkeit.
Sophie war ein kompliziertes Wesen. Eine solche Unschuldsmiene und dann immer wieder etwas, was berechnet aussah. Das gab keinen reinen Klang und doch wollte er gerade ihr nicht unrecht tun in seinem Urteil.
Es kam zu keinem besseren Gespräch mehr, sondern als er sich nch Franz, dem im Kadettenkorps befindlichen Sohn, erkundigte, begann nur eine neue Flunkerei, dass man ihr zur Kavallerie bringen wolle, und er zog sich verstimmt zurück.
Von dem Schlafstübchen aus, das sie mit Elvi teilte, konnte Sophie den trabenden Reiter eine gute Weile beobachten. Herrlich war er gewesen, wie ein junger Held, als er da im Walde ihr entgegengeritten kam, der echte Aristokrat, das Bild edelster Rasse.
Das war ihresgleichen, und in der Ärmlichkeit, in dem täglichen Jammer war es eine Wohltat, eine Stärkung, dass man mit ihm geplauderte hatte. Man fühlte sich wieder als etwas Besseres, vergaß die Empfindung des Verkommenen.
Es war doch nicht alles Lüge; man war und blieb adelig. Sein Vater hatte es ihm wahrscheinlich verboten, dass er ferner mit ihnen verkehre. Das war ein beschämenderes Gefühl als alles andere, was man durchzumachen hatte. Ausgestoßen war man von seinesgleichen. Heute hatte es die Probe gegolten, ob er, der jetzt Herr seines Willens war, die ihm auferlegte böse Meinung des Vaters selber teile. Ein angstvoller Augenblick war es gewesen. Und war wirklich schon ein Sieg errungen? Würde er freiwillig, ohne eine solche Anregung kommen?
Darauf kam es jetzt an.
Die Mama war sehr guter Laune, ohne indessen mehr zu äußern als:
„Er ist wirklich ein reizender Mensch!“
Als dann Sophie von dem fatalen Zwischenfall mit der Kaffeedecke sprach, meinte sie: „Ach, Gott! Das ist ja auch nicht so schlimm! Junge Männer achten auf so etwas nicht so genau wie Damen.“
Am späten Abend kam der Baron von einer Tour nach Haltenburg zurück. Er war sehr übler Laune. Die Nachricht von dem Besuch des Grafen heiterte ihn gar nicht auf. Er sagte vielmehr zu Sophie:
„Deine Aufforderung war sehr überflüssig. Und solange die Damen euch nicht in anderer Weise entgegenkommen, sind die Besuche des Herrn Grafen sogar von sehr zweifelhaften Werte. Wenn ihr zwei hübsche Försterstöchter wärt, käme er vielleicht auch. Um die Damen handelt es sich. Bleibt mir vom Halse mit diesen Standesgenossen, die gleich immer am Nasenrümpfen sind, wenn man nur einige Taler weniger hat als sie. Der junge Mensch gefällt sich vielleicht darin, euch als der kleine Bezirkspotentat, der er ja wirklich ist, zu imponieren. Mir imponiert er noch lange nicht.“
Grimmig verbissenen Tones hatte der Vater gesprochen, und Sophie war sehr betroffen von seinen Worten. Es klang aus ihnen etwas heraus, was ihr nicht unmöglich schien und das doch ihren Stolz noch weit mehr verletze als des Grafen bisherigen Fernbleiben.
Sehr bedrückt ging sie mit Elvi zu Bett. Es war wirklich nicht besser als eine Dienstbotenkammer, dieses Schlafstübchen. Sie hatte als die ältere die Mahagonibettlade. Elvi schlief in einem ganz gewöhnlichen Eisengestell.
Als Elvi sich auszog, bemerkte Sophie, dass deren Beinkleid auf der einen Seite ganz zerrissen war, und mahnte dies. Elvi zuckte die Achseln und antwortete:
„Ich habe ja überhaupt nur drei Hosen, und die zwei anderen sind in der Wäsche. Als ich´s Mama heute morgen sagte, meinte sie, bei dem warmen Wetter kann man auch ohne Hosen gehen. Gerade wie die Bauernmädel.“
Sich weiter auskleidend, fuhr sie fort:
„Ich glaube, wir kommen immer mehr herunter. Wenn´s gar nicht mehr geht, dann werde ich Schauspielerin.“
„Pfui! Was du für Worte führst!“ sagte jetzt Sophie.
„Na, da bekommt man doch am ehesten einen reichen Mann.“
„Du hast wirklich ordinäre Ideen!“
„Ich bin auch nicht im Sacré-Coeur gewesen,“ entgegnete Elvi schnippisch. „Da hast du was davon!“ setzte sie hinzu und kletterte in ihr Bett.
Als sie sich dort zurecht gerichtet hatte, sagte sie:
„Gute Nacht! Wir sind halt die verwunschenen Prinzessinnen von der Froschburg!“
„Gute Nacht!“ antwortete Sophie matt.