Winterwald

Wir mußten einen schweren Winter überstehen. So weit die ältesten Menschen zurückdachten, gab es nie so viel Schnee. Vier Wochen waren wir einmal ganz eingehüllt in ein fortdauerndes graues Gestöber, das oft vom Wind getrieben wurde, oft ein ruhiges, aber dichtes Niederschütteln von Flocken war. Als das vorüber war, stand der blaue, klare Winterhimmel über der Menge von Weiß. Morgens rauchte es beim Sonnenaufgange von Glanz und Schnee, und nachts war der Himmel dunkler als sonst, und es standen viel mehr Sterne in ihm als zu allen Zeiten. Das dauerte lange – aber einmal fiel gegen Mittag die Kälte so schnell ab, dass man die Luft bald warm nennen konnte, die reine Bläue des Himmels trübte sich, von der Mittagseite des Waldes erschienen am Himmel Wolkenballen, gedunsen und fahlblau, in einem milchigen Nebel schwimmend, wie im Sommer, wenn ein Gewitter kommen soll – es regnete.

In der Nacht war wieder Kälte eingefallen.

Als wir am nächsten Tag durch den Taugrund in den Wald fuhren, hörten wir plötzlich ein Geräusch, das sehr seltsam war und das keiner von uns je vernommen hatte – es war, als ob viele Tausende oder gar Millionen von Glasstangen durcheinander rasselten und in diesem Gewirre fort in die Entfernung zögen. Als wir an die Stelle kamen, wo wir unter die Wölbung des Waldes hineinfahren sollten, sahen wir vor uns eine sehr schlanke Fichte, zu einem Reige gekrümmt stehen und einen Bogen über unsere Straße bildend, wie man sie einziehenden Kaisern zu machen pflegt. Es war unsäglich, welche Pracht und Last von den Bäumen hing. Wie Leuchter, von denen unzählige umgekehrte Kerzen in unerhörten Größen ragten, standen die Nadelbäume. Die Kerzen schimmerten alle von Silber, die Leuchter waren selber silbern und standen nicht überall gerade, sondern manche waren nach verschiedenen Richtungen geneigt.

Das Rauschen, das wir früher in den Lüften gehört hatten, war uns jetzt bekannt; es war nicht in den Lüften, jetzt war es bei uns. In der ganzen Tiefe des Waldes herrschte es ununterbrochen fort, wie die Zweige und Äste krachten und auf die Erde fielen. Es war um so fürchterlicher, da alles unbeweglich stand; von dem ganzen Geglitzer und Geglänze rührte sich kein Zweig und keine Nadel, außer wenn man nach einer Weile wieder auf einen gebogenen Baum sah, dass es von den ziehenden Zapfen niederer stand.

Plötzlich hörten wir einen Fall. Ein helles Krachen, gleichsam wie ein Schrei, ging vorher, dann folgte ein kurzes Wehen, Sausen oder Streifen und dann der dumpfe, dröhnende Fall, mit dem ein mächtiger Stamm auf der Erde lag. Der Knall ging wie ein Brausen durch den Wald und durch die Dichte der dämpfenden Zweige; es war noch ein Klingeln und Geschimmer, als ob unendliches Glas durcheinander geschoben und gerüttelt würde – dann war es wieder wie vorher, die Stämme standen und ragten durcheinander, nichts regte sich, und das stillstehende Rauschen dauerte fort.

Winterwald ist eine Erzählung von Adalbert Stifter.
Quelle: Kompaß, ein Lesewerk erschienen im Ferdinand Schönig Verlag, Paderborn, 1965