Das Nusszweiglein

Das Nusszweiglein ist ein Märchen von Ludwig Bechstein

Es war einmal ein reicher Kaufmann, der mußte in seinen Geschäften in fremde Länder reisen. Da er nun Abschied nahm, sprach er zu seinen drei Töchtern: „Liebe Töchter, ich möchte euch gerne bei meiner Rückkehr eine Freude bereiten, sagt mir daher, was ich euch mitbringen soll!“ Die älteste sprach: „Lieber Vater, mir eine schöne Perlenhalskette!“ die andere sprach: „Ich wünsche mir einen Fingerring mit einem Diamant.“ Die jüngste schmiegte sich an des Vaters Herz und flüsterte: „Ich wünsche mir ein schönes grünes Nußzweiglein, Väterchen.“ – „Gut, meine lieben Töchter!“ sprach der Kaufmann, „ich will mir´s aufmerken. Und nun lebet wohl!“
Weit fort reiste der Kaufmann und machte große Einkäufe, gedachte aber auch treulich der Wünsche seiner Töchter. Eine kostbare Perlenkette hatte er bereits in seinen Koffer gepackt, um seine Älteste damit zu erfreuen, und einen gleich wertvollen Diamantring hatte er für die mittlere Tochter eingekauft. Einen grünen Nußzweig aber konnte er nirgends finden, wie er sich auch darum bemühte. Auf der Heimreise ging er deshalb große Strecken zu Fuß und hoffte, da sein Weg ihn vielfach durch Wälder führte, endlich einen Nußbaum anzutreffen; doch dies war lange vergeblich, und der gute Vater fing an betrübt zu werden, daß er die harmlose Bitte seiner jüngsten und liebsten Kindes nicht zu erfüllen vermochte.
Endlich, als er so betrübt seines Weges dahinzog, der ihn just durch einen dunklen Wald und an dichtem Gebüsch vorüberführte, stieß er mit seinem Hut an einen Zweig; wie er aufsah, war´s ein schöner grüner Nußzweig, daran eine Traube goldener Nüsse hing. Da war der Mann sehr erfreut, langte mit der Hand empor und brach den herrlichen Zweig ab. Aber in demselben Augenblick schoß ein wilder Bär aus dem Dickicht und stellte sich grimmig brummend auf die Hintertatzen, als wollte er den Kaufmann gleich zerreißen.
Mit furchtbarer Stimme brüllte er: „Warum hast du meinen Nußzweig abgebrochen, du? Warum? Ich werde dich auffressen!“ Bebend vor Schreck und zitternd sprach der Kaufmann: „O, du lieber Bär, friß mich nicht und laß mich mit dem Nußzweiglein meines Weges ziehen, ich will dir auch einen großen Schinken und viele Würste dafür geben!“ Aber der Bär brüllte wieder: „Behalte deinen Schinken und deine Würste! Nur wenn du mir versprichst, mir dasjenige zu geben, was dir zu Hause am ersten begegnet, so will ich dich nicht fressen.“ Darauf ging der Kaufmann gerne ein, denn er gedachte, dass sein Pudel gewöhnlich ihm entgegenlaufe, und diesen wollte er, um sich das Leben zu retten, gerne opfern. Nach derbem Handschlag tappte der Bär ruhig ins Dickicht zurück.
Der goldene Nußzweig prangte herrlich am Hut des Kaufmanns, als er seiner Heimat zueilte. Freudig hüpfte das das jüngste Mägdlein ihrem lieben Vater entgegen; mit tollen Sprüngen kam der Pudel hintendrein, und die ältesten Töchter und die Mutter schritten etwas weniger schnell aus der Haustüre, um den Ankommenden zu begrüßen. Wie erschrak nun der Kaufmann, als seine jüngste Tochter die erste war, die ihm entgegenflog! Bekümmert und betrübt entzog er sich der Umarmung des glücklichen Kindes und teilte nach den ersten Grüßen den Seinigen mit, was ihm mit dem Nußzweig widerfahren.
Da weinten nun alle und wurden betrübt, doch zeigte die jüngste Tochter den meisten Mut und nahm sich vor, des Vaters Versprechen zu erfüllen. Auch ersann die Mutter bald einen guten Rat und sprach: „Ängstigen wir uns nicht, meine Lieben, sollte der Bär kommen und dich, mein lieber Mann, an dein Versprechen erinnern, so geben wir ihm anstatt unserer Jüngsten die Hirtentochter, mit dieser wird er auch zufrieden sein.“ Dieser Vorschlag galt, und die Tochter waren wieder fröhlich und freuten sich recht über die schönen Geschenke.
Aber eines Tages rasselte ein dunkler Wagen durch die Straßen vor das Haus des Kaufmanns, der häßliche Bär stieg heraus und trat brummend vor den erschrockenen Mann, die Erfüllung seines Versprechens begehrend. Schnell und heimlich wurde die Hirtentochter, die sehr häßlich war, herbeigeholt, schön geputzt und in den Wagen des Bären gesetzt. Und die Reise ging fort. Draußen legte der Bär sein wildes, zottiges Haupt auf den Schoß der Hirtin und brummte:

„Kraule mich, krabble mich
Hinter den Ohren zart und fein,
Oder ich fress´ dich mit Haut und Bein!“

Und das Mädchen fing an zu krabbeln; aber sie machte es dem Bären nicht recht, und er merkte, dass er betrogen wurde; da wollte er die geputzte Hirtin fressen, doch diese sprang rasch in ihrer Todesangst aus dem Wagen.
Darauf fuhr der Bär abermals vor das Haus des Kaufmanns und forderte furchtbar drohend die rechte Braut. So mußte denn das liebliche Mägdlein herbei, um nach schwerem Abschied mit dem häßlichen Bräutigam fortzufahren. Draußen brummte er wieder, seinen rauhen Kopf auf das Mädchens Schoß legend:

„Kraule mich, krabble mich
Hinter den Ohren zart und fein,
Oder ich fress´ dich mit Haut und Bein!“

Und das Mädchen krabbelte ihn so sanft, dass es ihm behagte und dass sein furchtbarer Bärenblick freundlicher wurde. Die Reise dauerte gar nicht lange, denn der Wagen fuhr ungeheuer schnell, als brause ein Sturmwind durch die Luft. Bald kamen sie in einen sehr dunklen Wald, und dort hielt plötzlich der Wagen vor einer finster gähnenden Höhle. Diese war die Wohnung des Bären.
O, wie zitterte das Mädchen! Und zumal der Bär brummend sprach: „Hier sollst du wohnen, Bräutchen, und glücklich sein, so du drinnen dich brav benimmst, dass mein wildes Getier dich nicht zerreißt.“ Und er schloß, als beide in der dunklen Höhle einige Schritte getan, eine eiserne Tür auf und trat mit der Braut in ein Zimmer, das voll von giftigem Gewürm angefüllt war, welches ihnen gierig entgegenzüngelte. Und der Bär brummte seinem Bräutchen ins Ohr:

„Sieh´ dich nicht um!
Nicht rechts, nicht links!
Geradezu, so hast du Ruh´!“

Da ging auch das Mädchen, ohne sich umzublicken, durch das Zimmer, und es regte und bewegte sich kein Wurm. Und so ging es noch durch zehn Zimmer, und das letzte war von scheußlichen Kreaturen angefüllt, Drachen und Schlangen, giftgeschwollenen Kröten und Lindwürmern. Und der Bär brummte in jedem Zimmer:

„Sieh´ dich nicht um!
Nicht rechts, nicht links!
Geradezu, so hast du Ruh´!“

Das Mädchen zitterte und bebte vor Angst wie Espenlaub, doch es blieb standhaft, sah sich nicht um, nicht rechts, nicht links. Als sich aber das zwölfte Zimmer öffnete, strahlte beiden ein glänzender Lichtschimmer entgegen, es erschallte drinnen eine liebliche Musik, und es jauchzte überall wie Freudengeheul, wie Jubel. Ehe sich die Braut nur ein wenig besinnen konnte, noch zitternd vom Anblick des Entsetzlichen und nun wieder dieser überraschenden Lieblichkeit – tat es einen furchtbaren Donnerschlag, dass sie dachte, es breche Erde und Himmel zusammen.
Aber bald war es wieder ruhig. Der Wald, die Höhle, die Gifttiere, der Bär – waren verschwunden; ein prächtiges Schloß mit goldgeschmückten Zimmern und schön gekleideter Dienerschaft stand dafür da, und der Bär war ein junger Mann geworden, war der Fürst des herrlichen Schlosses, der nun sein liebes Bräutchen an das Herz drückte und ihr tausendmal dankte, dass sie ihn und seine Diener, das Getier, so liebreich aus seiner Verzauberung erlöst hatte.
Die nun so hohe Fürstin trug noch immer ihren schönen Nußzweig, der die Eigenschaft hatte, nie zu verwelken, und trug ihn jetzt nur um so lieber, da er der Schlüssel ihres holden Glückes geworden. Bald wurden die Eltern und Geschwister von diesem freundlichen Geschick benachrichtigt und für immer von dem Bärenfürsten auf das Schloß genommen.

(Quelle: Meine schönsten Märchen, W. Fischer Verlag, Göttingen, ohne Jahr)