Dornröschen

Dornröschen ist ein Märchen von Ludwig Bechstein.

Es waren einmal ein König und eine Königin, die bekamen nach langem vergeblichen Warten endlich ein Kind. Es war ein Mägdlein, über alle Maßen schön, und der König hatte darüber die größte Freude, weil sein liebster Wunsch erfüllt war, und er richtete ein großes Fest aus.
Nun lebten in dem Lande auch weise Frauen, die waren begabt mit Zauber- und Wundermacht. Die lud der König auch ein, und sie sollten von goldenen Tellern essen. Dieser König hatte nur zwölf, und da konnte er auch nur zwölf weise Frauen einladen. Es waren aber dreizehn, und so wurde die dreizehnte nicht eingeladen, was sie sehr übelnahm.
Die weisen Frauen beschenkten das Königskind mit köstlichen Gütèrn. Nicht mit Schönheit, denn die besaß es schon, sondern mit Liebenswürdigkeit, Heiterkeit, Anmut, Sanftmut, Bescheidenheit, Frömmigkeit, Sittsamkeit, Tugend, Aufrichtigkeit, Verstand und Reichtum, und eben wollte die zwölfte weise Frau auch ihren Wunsch aussprechen, als die dreizehnte, die nicht eingeladen worden war, in das Zimmer trat und zornig ausrief: „In fünfzehn Jahren soll die Königstochter sich an einer Spindel stechen und tot hinfallen!“
Mit diesen Worten war die böse Alrune wieder verschwunden, und die anderen standen starr vor Schrecken, denn die weisen Frauen machten keine vergeblichen Worte. Ein Glück, dass die zwölfte weise Frau ihren Wunsch noch nicht ausgesprochen hatte. Sie konnte zwar das, was einmal eine weise Frau gedroht hatte, nicht abändern, aber ihm doch eine mildernde Wendung geben und rief: „Die Königstochter soll nur in einen tiefen Schlaf fallen, der soll hundert Jahre dauern und nicht einen Tag länger.“
Der König ließ sogleich einen Befehl ergehen, kraft dessen alle Spindeln überall abgeschafft und dafür Spinnräder eingeführt wurden. Die schöne Königstochter erwuchs zu einem Fräulein, das an Schönheit, Holdseligkeit, Freundlichkeit, Milde, Demut, Züchtigkeit, Herzensgüte, Tugend und Verstand seinesgleichen suchte, und so wurde es fünfzehn Jahre alt, und von allen, die es kannte, geliebt.
Eines Tages bekam die Prinzessin gerade Lust, sich im Schloß ein bißchen umzusehen, ging durch mehrere Gemächer und kam an eine Treppe, die zu einem alten Turm führte. Diese stieg sie hinan und kam an eine niedrige Kammertür, in deren Schloß ein alter verrosteter Schlüssel steckte, und neugierig, wie die ganz jungen Mädchen sind, drehte die Prinzessin an dem Schlüssel, und die Tür ging leicht auf.
Da saß ein uraltes Spinnweiblein und spann emsig mit einer Spindel. Es mochte wohl des Königs Gesetz nicht gehört haben. Die umhertanzende, auf und nieder wirbelnde Spindel machte der jungen Königstochter viel Freude, sie haschte nach der Spindel, wollte auch spinnen und stach sich damit, denn es war gerade der Tag, an dem die Prophezeiung der erzürnten weisen Frau in Erfüllung gehen sollte.
Und die Königstochter fiel nieder in einen tiefen Schlaf. Da überkam derselbe Schlag auch den König und die Königin und das ganze Schloß. Der ganze Hofstaat schlief ein, vom Hofmarschall bis zum Küchenjungen, den der Koch wegen eines Versehens gerade an den Haaren zauste, um ihm eine Ohrfeige zu geben, und Koch und Kellner, Kammerfrau und Kammerjungfer, Kind und Kegel, Hund und Katze, ja die Tauben und die Sperlinge auf dem Dache, die Pfauen und Papageien und selbst die Fliegen an der Wand, sie schliefen alle. Und das Feuer auf dem Herd legte sich und schlief ein, und der Wind legte sich auch, und alles wurde so still, dass man kein Mäuschen im ganzen Schloß mehr knuspern hörte, denn die Mäuslein schliefen auch.
Da kam kein Mensch mehr in das verzauberte Schlummerschloß, um das rund herum eine mächtige Dornenhecke emporwuchs, jedes Jahr einige Meter höher, bis sie den höchsten Turm überwachsen hatte, dass man nicht einmal die Fahne und den Wetterhahn mehr sah, und so dicht, dass kein menschliches Wesen eindringen konnte.
Und da wurde das Schloß allmählich ganz vergessen, und es ging nur die Sage, hinter den Dornen stehe ein Schloß, darin schlafe das Dornröschen, die verzauberte Prinzessin. Zwar kamen von Zeit zu Zeit Königssöhne, die wollten hindurchdringen durch die Hecke, allein sie war allzu dicht. Die Prinzen konnten es nicht schaffen, sie blieben wohl gar in den Dornen stecken und kamen elendiglich darin um.
Sie waren nun hundert Jahre vergangen, und die Zeit war da, dass Dornröschen wieder erwachen sollte, es wußte dies aber niemand genau. Da kam wieder ein Königssohn, der die Mär von dem schlafenden Dornröschen gehört hatte. Und das geschah gerade am hundertsten Jahrestag, seit das Dornröschen in seinen Zauberschlaf gefallen war.
Die Dornenhecke stand über und über voll Rosen, das war seit Menschengedenken nicht mehr der Fall gewesen, auch konnte der Königssohn frei durch die Dornenhecke gehen, kein Dorn berührte sein Gewand, aber gleich hinter ihm schloß sich die Hecke wieder. Der Königssohn besah das schlafende Schloß mit großer Verwunderung, er ging hinauf in dem Turm und kam in die Kammer, wo das süße Dornröschen lag und so sanft schlief, umflossen vom Heiligenschein seiner Unschuld und vom Glanze seiner Schönheit. Da beugte der Prinz sich nieder und küßte das Dornröschen, und alsbald schlug es die Augen auf. Der Königssohn sagte ihm, wie alles sich zugetragen, und führte es hinab in das Schloß.
Da erwachte alles, König und Königin, Zwerg und Zofe, Hunde und Pferde, Feuer und Wasser, Wind und Wetterhahn, und der Koch gab dem Küchenjungen die Ohrfeige, die er ihm vor hundert Jahren schuldig geblieben war, und alles ging wieder einen Gang. Es wurde eine stattliche Hochzeit ausgerichtet, den Dornröschen heiratete den Königssohn, der es aus dem Schlummer erlöst hatte, und sie lebten glücklich und zufrieden miteinander bis an ihr Ende.

(Quelle: Meine schönsten Märchen, W. Fischer Verlag, Göttingen, ohne Jahr)


[eapi keyword=“Märchen Ludwig Bechstein“ eapi type=standard n=“5″]]