Das Waldspinnlein

Das Waldspinnlein – Erzählung von Peter Rosegger

Als ich im sommerlichen Wald auf der ausgebreiteten Wolldecke lag, da lief plötzlich etwas sehr rasch über mein Bein herauf. Meine Hand schnellte hin; es war aber nicht mehr da, nur ein graubraunes Kügelchen lag auf der Decke. Ich mußte sehr scharf und genau darauf hinblicken, bis ich sah, dass es ein Tier war, das sich fest zusammenkauerte und seine Beine so nahe an den Leib zog, dass sie von diesem kaum zu unterscheiden waren. Ich rührte es an, es bewegte sich nicht. Ich suchte es in Bewegung zu bringen; es kollerte ein wenig über das Tuch hin und blieb liegen, unbeweglich und starr wie ein dürres Stückchen Baumrinde. Ich glaubte endlich auch, es sei nicht jenes Tier, welches über das Bein gelaufen wr, sondern wirklich ein Stückchen Holz oder dergleichen. Andererseits aber sah es doch wieder tierhaft aus, so kam mir der Gedanke: Halt, kleines Ding, vielleicht bis du nur listig, stellst dich nur so, damit ich mich wieder von dir wende und du deinen Angriff auf mich im günstigen Augenblick neuerdings machen kannst! Warte, necken wir dich ein wenig!
Ich stupste es mit einem Grashalm; es blieb leblos und starr. Nun ließ ich es vom Tuche auf ein grünes Blatt rollen; da ging es in die Falle. Das Blatt machte es für seinen freien Boden halten. Allsogleich sprangen die Beinchen auseinander, und das Wesen – eine Waldspinne war´s – lief. Als ich es hierauf mit dem Finger berührte, war es wieder das regungslose Kügelchen. Kein Glied, kein Kopf, keine Auge war zu sehen, keine Ähnlichkeit mit einem lebendigen Wesen.
Da denkst sie: Au, hier ist ein Ungeheuer, das den Spinnen nachstellt. Ich stelle micht tot, sonst macht es micht tot. Nur ruhig, es ist noch immer da – ein schreckliches Ungetüm.
So will ich doch sehen, dachte ich wieder, ob deine Vorstellungskraft größer ist als deine Raubgier. Was meinst du zu einem Mücklein? Sieh, da treib´ ich dir eines zu. Mich dünkt, ein appetittlich Ding! Bedien dich!
Aha, denkt die Spinne, jetzt will er mich ködern. Wenn du glaubst, dass ich so dumm bin und jetzt aufspringe und die Mücke fresse, so ist es traurig für dich. Ich weiß mir besseren Fang, ist nur erst wieder meine Zeit. Jetzt bleibe ich liegen und bin mausetot.
Wohlan, meine liebe Spinne, wenn du mausetot bist, so muß man dich in einen Sarg legen. Da habe ich eine leere Streichholzschachtel bei mir; darin will ich dich wegtragen und sehen, wer es länger treibt, du oder ich.
Da denkt die Spinne: Auch gut – und kollert in die Schachtel.
Ich stand auf, ging nach Hause und war begierig zu erfahren, was mein Spinnlein daheim auf dem Tisch machen würde. Vielleicht wird es sich noch immer totstellen. Vielleicht wird es wirklich tot sein, obwohl ich darauf achtete, dass es in seinem Verlies nicht ersticken konnte.
Die Spinne aber dachte in ihrem Steichholzschächtelchen: hier ist es sehr finster. Ich habe acht Augen, und keines sieht etwas. Und es schaukelt, dass einem übel werden könnte, wenn man´s nicht von den wackelnden Halmen und Ästen her gewohnt wäre. Ich will mir aber eilig Fäden spinnen; man kann nicht wissen, in welche Lage man gerät. Das Ungeheuer scheint mir feind zu sein. Stärker ist es als ich – wenn ich nicht gescheiter bin!…
Ich komme heim, versammle meine Kinder um den Tisch, erzähle ihnen die Geschichte von der schlauen Spinne und fordere sie auf zu beobachten, was nun geschehen würde, wenn ich das Schächtelchen öffne.
Und was geschah?
Kaum das die Schachtel geöffnet war, flog die Spinne heraus – flog. Es war, ich wußte nicht wie, auf einmal ein Faden durch die Luft gespannt, und auf dem lief sie hin wie eine, die das Seiltanzen gelernt hat. – Oho! Spinne, so haben wir nicht gewettet. Ich zerstörte den Faden. Da fiel sie auf den Tisch und lief rat- und planlos hin und her. Jetzt sprang sie auf ein Buch, gleichsam, als wolle sie von dem erhöhten Gegenstand eine Aussicht gewinnen. Aber die Aussicht auf die nahen Ungetüme und auf die fernen Fenster schien ihr trostlos gewesen zu sein; denn augenblicklich lag wieder ein Kügelchen da, leblos und erstarrt. So lag sie über eine Stunde, und wir hielten Rat, was nun mit ihr zu machen sei. Meine Stimme war die einzige, die sie vor Ärgerem schützte.
Nach zwei und drei Stunden lag noch immer das regungslose Kügelchen da, so dass wir glaubten, nun wäre sie wirklich tot, vielleicht vor Schreck gestorben. Unsere Pflichten riefen uns. Wir vergaen einen Augenblick das Tierchen, und als wir wieder hinsahen – war es nicht mehr da.
Bot ich das Haus auf, um die Flüchtige zu verfolgen? Nein, ich freute mich, dass sie glücklich entkommen war.

(Kompaß – ein Lesewerk, Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1965)