Der fliegende Koffer

Der fliegende Koffer ist ein Märchen von Hans Christian Andersen.

Es war einmal ein Kaufmann, der war so reich, dass er die ganze Straße und fast noch eine kleine Gasse dazu mit Silbergeld pflastern konnte. Als er starb, erbte der Sohn nun all dieses Geld, lebte lustig und verschwenderisch. Zuletzt besaß er nicht mehr als vier Groschen und hatte an Kleidern nur noch ein paar Schuhe und einen alten Schlafrock. Nun kümmerten sich seine Freunde nicht mehr um ihn, nur einer, der gutmütig war, sandte ihm einen alten Koffer mit der Bemerkung: „Packe ein!“ Er hatte aber gar nichts einzupacken, so setzte er sich selbst in den Koffer.
Es war ein merkwürdiger Koffer. Sobald er an das Schloß drückte, flog er sogleich mit dem Koffer durch den Schorntein hoch über die Wolken hinauf, weiter und weiter fort. So kam er nach dem Lande der Türken. Den Koffer verbarg er im Wald und ging in die Stadt hinein. Da begegnete er einer Amme mit einem kleinen Kinde. „Höre, du Türkenamme“, sagte er, „was ist das für ein großes Schloß hier dicht bei der Stadt, wo die Fenster so hoch sitzen?“
„Da wohnt die Tochter des Königs“, erwiderte die Frau. „Es ist prophezeit, dass sie über einen Geliebten sehr unglücklich werden würde, und deshalb darf niemand zu ihr kommen, wenn nicht der König und die Königin mit dabei sind!“
„Ich danke“, sagte der Kaufmannssohn, ging hinaus in den Wald, setzte sich in seinen Koffer, flog auf das Dach des Schlosses und kroch durch das Fenster zur Prinzessin hinein. Sie lag schlafend auf dem Sofa und war so schön, dass der Kaufmannssohn sie küssen mußte. Da erwachte sie und erschrak gewaltig, aber er sagte, er sei der Türkengott, der durch die Luft zu ihr heruntergekommen sei, und das gefiel ihr.
Dann freite er um die Prinzessin, und sie sagte sogleich ja! „Aber Sie müssen am Sonnabend herkommen“, sagte sie. „Da sind der König und die Königin bei mir zum Tee! Sie werden sehr stolz darauf sein, dass ich den Türkengott bekomme. Sehen Sie auch zu, dass Sie ein recht hübsches Märchen wissen, denn das lieben meine Eltern außerordentlich. Meine Mutter will es erbaulich und vornehm und mein Vater belustigend haben, dass man lachen kann!“
„Ja, ich bringe keine andere Brautgabe als ein Märchen!“, sagte er und so schieden sie. Aber die Prinzessin gab ihm einen Säbel, der war mit Goldstücken besetzt, und die konnte er gerade gebrauchen. Nun flog er fort, kaufte sich einen neuen Schlafrock und daß dann draußen im Walde und dichtete ein Märchen. Es sollte ja bis Sonnabend fertig sein, und es ist doch nicht leicht. Gerade zum Sonnabend wurde er damit fertig.
Der König, die Königin und der ganze Hof erwarteten ihn zum Tee bei der Prinzessin. Er wurde sehr freundliche empfangen. „Wollen Sie uns nun ein Märchen erzählen“, sagte die Königin, „eins, das tiefsinnig und belehrend ist?“
„Aber worüber man doch lachen kann!“ sagte der König.
„Gern“, erwiderte er, und begann sogleich: „Es war einmal ein Bund Streichhölzer, die waren sehr stolz auf ihre Herkunft. Ihr Stammbaum, die große Fichte, von der ein jedes von ihnen ein kleines Teilchen war, hatte als großer alter Baum im Walde gestanden. Die Streichhölzer lagen nun in der Mitte zischen einem Feuerzeug und einem alten, eisernen Topf, und diesem erzählten sie von ihrer Jugend.
„Ja, als wir noch im Baum steckten“, sagten sie, „da waren wir glücklich auf einem grünen Zweig. Jeden Morgen und Abend gab es Diamanttee, das war der Tau. Wir waren reich, denn die Laubbäume waren nur im Sommer bekleidet, aber unsere Familie konnte sich grüne Kleider Sommer wie Winter leisten. Doch da kam der Holzhauer, und unsere Familie wurde zersplittert. Der Stammherr erhielt eine Stelle als Hauptmast auf einem prächtigen Schiff, das die Welt umsegeln konnte. Die Zweige kamen nach verschiedenen Orten, und wir haben nun das Amt, den Leuten das Licht anzuzünden. Deshalb sind wir vornehmen Leute hier in die Küche gekommen!“
„Mein Schicksal sieht anders aus“, sagte der Eisentopf, an dessen Seite die Streichhölzer lagen. „Seit ich auf die Welt kam, bin ich viele Male gescheuert worden. Ich bin der erste hier im Hause. Meine einzige Freude ist, nach Tisch rein und sauber auf meinem Platz zu stehen und ein vernünftiges Gespräch mit meinen Kameraden zu führen. Mit Ausnahme des Wassereimers, der hin und wieder einmal in den Hof hinunterkommt, leben wir immer innerhalb der Küche. Unser einziger Neuigkeitsbote ist der Marktkorb, aber der spricht mir zu unruhig.“
„Du redest zu viel!“ warf das Feuerzeug ein. „Wollen wir uns nicht einen lustigen Abend macht?“
„Wir wollen lieber davon sprechen, wer der Vornehmste ist!“ sagten die Streichhölzer.
„Nein, ich rede nicht gern von mir selbst“, wandte der Topf ein.
„Ich ärgere mich nur“, sagte der Marktkorb. „Ist das eine Art, den Abend hinzubringen? Wäre es nicht vernünftiger, Ordnung herzustellen? Ein jeder müßte auf seinen Platz kommen, und ich würde das ganze Spiel leiten. Das würde etwas anderes werden!“
„Ja, laßt uns Lärm machen!“ riefen alle begeistert. Da ging die Tür auf. Das Dienstmädchen kam herein, und da standen sie alle still.
Das Dienstmädchen nahm die Streichhölzer und machte Feuer damit an. Wie sie sprühten und in Flammen gerieten!“
„Nun kann doch jeder sehen“, dachten sie, „dass wir die Vornehmsten sind. Welcher Glanz wir haben, welches Licht!“ Und schon waren sie ausgebrannt.“ –
„Das war ein herrliches Märchen!“ sagte die Königin. „Ich fühle mich ganz in die Küche versetzt zu den Streichhölzern. Ja, nun sollst du unsere Tochter haben.“
„Jawohl!“ sagte der König. „Du sollst unsere Tochter am Montag haben!“ Da er nun zur Familie gehörte, sagten sie „Du“ zu ihm. Die Hochzeit wurde nun festgesetzt und am Abend vorher die ganze Stadt beleuchtet. Zwieback und Brezeln wurden ausgeteilt. Die Straßenbuben riefen und pfiffen auf den Fingern. Es war außerordentlich prachtvoll.
„Ja, ich muß wohl auch etwas tun“, dachte der Kaufmannssohn und kaufte Raketen, Knallerbsen und alles erdenkliche Feuerwerk, legte es in seinen Koffer und flog damit in die Luft.
Das gab einen Lärm, als er eine Rakete abbrannte! Alle Türken hüpften in die Höhe, dass ihnen die Pantoffeln um die Ohren flogen. Eine solche Lufterscheinung hatten sie noch nie gesehen. Nun begriffen sie auch, dass es der Türkengott selbst war, der die Prinzessin haben sollte.
Sobald der Kaufmannssohn wieder mit einem Koffer herunter in den Wald kam, dachte er: „Ich will in die Stadt gehen, um zu erfahren, wie es sich ausgenommen hat.“
Nein, was doch die Leute erzählten! Ein jeder, den er danach fragte, hatte etwas anderes gesehen. Aber schön hatten es alle gefunden.
„Ich sah den Türkengott selbst!“, sage der eine, „er hatte Augen wie glänzende Sterne und einen Bart wie schäumendes Wasser!“
„Er flog in einem Feuermantel“, sagte ein anderer. „Die lieblichsten Engelskinder blickten aus den Falten hervor.“
Und am folgenden Tag sollte die Hochzeit sein. Er ging, stolz auf seinen Erfolg, in den Wald zurück, um sich in seinen Koffer zu setzen. Aber wo war der nur? Der Koffer war verbrannt. Ein Funke des Feuerwerks war zurückgeblieben, der hatte Feuer gefangen und der Koffer lag zu Asche verbrannt am Boden. Nun konnte der Kaufmannssohn nicht mehr fliegen und nicht mehr zu seiner Braut gelangen
Sie stand den ganzen Tag auf dem Dach und wartete. Sie wartet wahrscheinlich heute noch. Er aber durchwandert die Welt und erzählt Märchen. Doch sind sie nicht mehr so lustig wie jenes von den Streichhölzern.

(Quelle: Meine schönsten Märchen, W. Fischer Verlag, Göttingen, ohne Jahr)


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