Der Schneemann

Der Schneemann ist eine Erzählung von Sophie Reinheimer.

Das Schönste am Winter war doch der Schneemann, den die Kinder im Garten aufbauten, gerade vor der alten Laube, als stehe er Schildwache davor. Es war ein prächtiger Schneemann; er mußte jedem gefallen, und er gefiel auch allen.

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„Ein netter Kamerad, der wir bekommen haben“, sagten die Zaunpfähle. „Hoffentlich versteht er sich aufs Erzählen, damit wir ein wenig Unterhaltung haben.“

Es wagte aber niemand, den Schneemann anzureden. Glücklicherweise fing dieser selbst an. „Guten Morgen!“ sagte er. „Guten Morgen!“ antwortete es von allen Seiten.

„Es ist schönes Wetter heute“, sagte der Schneemann. Etwas Besseres fiel ihm gerade nicht ein.

„Ja – aber heute Nacht hat es geschneit.“ „Hm“ – machte der Schneemann, „natürlich hat es geschneit – stünde ich sonst hier? – Nein, dann hätte ich sicher mit der Wolke noch ein gut Stück weiterreisen können und hätte noch viel von der Welt gesehen.“

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„Ei“, sagten die Sträucher, „du hast gewiß schon schöne Reisen gemacht, willst du uns nicht davon erzählen?“ und er erzählte:

„Ihr habt die Kinder auf dem Schlitten fahren sehen? Das war ein Vergnügen, nicht wahr? Was würden sie wohl erst für ein Vergnügen haben, wenn sie in dem Lande wohnten, von dem ich mit der Schneewolke hergereist bin. Da liegt nämlich das ganze Jahr hindurch Schnee, so dass man immer Schlitten fahren muß. Das ist lustig, nicht wahr? Die Schlitten werden dort von großen Hirschen gezogen, man nennt sie Rentiere. Die armen Tiere! Der Schnee deckt ihnen oft alles Futter auf der Erde zu. Sie müssen es sich erst unter dem Schnee hervorholen. Ich habe sie mit ihren großen Geweihen den Schnee fortschaufeln sehen. In diesem Lande ist es bitter kalt. Die Leute haben immer dicke Pelze an.

Habt ihr vielleicht schon einmal ein Haus aus Schnee gesehen? Nein, aber ich habe eins gesehen – ja, ja, eine richtige kleine Hütter war´s mit Fenstern und Tür und Schornstein, auch Leute wohnten drin. Meint ihr vielleicht, die Leute hätten in ihren Schneehütten gefroren? O nein, der Schnee hielt sie schön warm. Der Schnee macht überhaupt schön warm. Einmal sah ich einen Mann, der hatte sich seine Nase rot und blau gefroren. Was glaubt ihr, was er tat? Er hob Schnee von der Erde auf und rieb sich seine Nase damit, und als er dies ein paarmal getan hatte, da war die Nase wieder heil, und der Mann war dem Schnee sehr dankbar dafür.

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Ich habe auf meiner Reise noch mehr Leute gesehen, die sich freuten, dass es geschneit hatte, manchen aber auch, der sich gar nicht über den Schnee freute, z.B. der Tannenbaum im Walde, der an der Schneelast auf seinen Zweigen schwer zu tragen hatte, oder die Leute, denen der Schnee eine hohe Mauer vor der Tür gebaut hatte, so dass sie gar nicht heraus konnten, und dann die, denen vom Dach eine Schneelawine auf den Kopf fiel, und die, denen der Sturm so viel Schnee in die Augen blies, dass sie kaum noch sehen konnten.“

(Quelle: Vor den Toren, August Babel Verlag, Düsseldorf, 1952)

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