Die ersten Veilchen

Die ersten Veilchen – eine Erzählung von Sophie Reinheimer.

Eben schlug ein kleines Veilchen zum ersten Male seine blauen Augen auf.
„Hurra – willkommen!“ riefen die grünen Grashalme des Rasenplatzes und machten sämtlich eine tiefe Verbeugung. „Das ist aber zu schön, dass das erste Veilchen bei uns aufgeblüht ist!“
Und im Nu wußte es der ganze Garten. Die Sträucher mit den grünen Blattknöspchen nickten Grüße, der Frühlingswind kam, die Sonnenstrahlen, Amsel, Buchfink und Starmatz brachten gleich ein Ständchen, und sogar die hohen Bäume im Garten winkten gnädig mit den Ästen ein Willkommen von oben herab.
Das kleine Blauveilchen wußte gar nicht, wie ihm geschah. So viel Ehre, so viel Wärme, so viel Licht… es senkte tief, tief sein Köpfchen und wäre am liebsten wieder in den Boden zurückgekrochen.
Aber der Frühlingswind faßte es sanft unters Kinn, hob ihm das Gesichtchen wieder hoch und sagte: „Was brauchst du dich zu schämen? Guck doch auf – du bist ja ein wichtiges Persönchen!“ „Das erste Veilchen!“ jubelten die Sonnenstrahlen und küßten es. „Nun weiß man doch, dass es Frühling ist; denn man hat dir ja in die Augen gesehen – Frühlingskind!“
„Paßt nur gut auf“, sagten sie dann noch zu den Grashalmen, „dass ihm nichts geschieht! Wenn die Menschen kommen und es pflücken wollen, dann bedeckt es gut.“ Da standen alle die Grashalme wie Wachtposten. Nicht lange darauf kamen richtig ein paar Kinder in den Garten. Sie liefen um den Rasenplatz herum, fingen sich und schrien und setzten sich auch wohl mal ein Weilchen auf den Rasen.
„Oa – ein Veilchen! Ein Veilchen!“ rief plötzlich das eine, „Das muß ich dem Vater bringen!“ Und schon streckte es die Hand aus, um das Veilchen zu pflücken.
Die Grashalme neigten sich vor und streckten ihre Spitzen. Wie die im Sonnenschein blitzten! Ach – aber was konnten sie machen? Sie waren doch viel zu schwach!
Da kam aber schon ein anderes kleines Mädel gesprungen. „Nicht pflücken, nicht pflücken!“ schrie es. Und blitzschnell kniete es auf dem Rasen nieder, machte mit seinen Händen ein kleines Dach und legte es schützend über das Veilchen.
„Vater hat gesagt, wenn wir das erste Veilchen sehen, dann sollen wir ihn hinführen!“ sagte es. „Er hat nicht gesagt, dass wir´s pflücken sollen. Er will es lieber im Garten sehen.“
Nein – was waren die grünen Graswächter da so froh! Sie präsentierten die Gewehre vor dem kleinen Mädchen, und die Sträucher sagten:
„So ist´s recht! Nun haben wir doch auch noch was von der Frühlingsfreude.“

entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952


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