Die Mutter hat einen kleinen Vogel lebendig gemacht

Die Mutter hat einen kleinen Vogel lebendig gemacht – eine Erzählung von Gustav Freytag

Im Pastorgarten sah ich vor mir auf der Erde etwas Nacktes, ein Sperlingskind, das aus dem Nest gefallen war. Ich hob es auf, und als ich ein Herzchen zucken fühlte, wurde mir weh zumute, und ich trug es, selbt zitternd und in Tränen, nach Hause. Die Mutter behandelte den Unfall mit sicherer Überlegenheit, verfertigte ein Nest aus Watte, kochte ein Ei und brachte etwas von dem zerhackten Inhalt mit einem Federkiel in das winzige Geschöpf. Dies gewann neuen Lebensmut und wurde durch fortgesetzte richtige Behandlung dem irdischen Dasein erhalten. Ich aber empfand einen glückseligen Schauer, als ich ihm die nächste Nahrung eingeben durfte und beobachtete, wie sich almählich der nackte Leib mit Flaum und kleinen Kielen bekleidete. Matz wuchs und erhielt sein Federkleid, er flatterte mir auf den Kopf, saß auf meiner Schulter und wurde bald mein vertrauter Geselle, der alle Scheu verlor und in der Stube den ganzen Tag um mich herumhüpfte. Als er ziemlich herangewachsen war, mahnte die Mutter, den Kleinen wieder ins Freie zu bringen. Ich trug ihn traurig in den Pastorgarten und setzte ihn auf einen Baum. Dort aber duckte er sich kläglich zusammen und fand bei dem Spatzenvolk des Gartens schlechten Willkommen; denn dies wilde Gesindel kam herangeflogen und schrie so zornig gegen mein armes Findelkind, daß dieses entsetzt immer wieder zu mir zurückflog. Endlich wurde beschlossen, daß ich den Vogel behalten durfte, und ich trug ihn seelenvergnügt in unsere Stube zurück. Dort blieb er den ganzen Sommer mein Spielkamerad. Aber ihn erwischte im Winter das Schicksal. Durch einen Spalt der Türe sprang die Katze des Nachbarn herein; Matz war im Nu in ihren Krallen und gemeuchelt. Ich stürzte auf die Mörderin zu – ich sehe noch jetzt die wilden Augen – und entriß ihr den Vogel; aber er war tot. Das war der erste große Schmerz meines Lebens…

entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952