Die sieben Raben

Die sieben Raben ist ein Märchen von Ludwig Bechstein.

Es geschehen in der Welt gar viele wunderliche Dinge So trug sich´s auch einmal zu, dass eine arme Frau sieben Knäblein auf einmal gebar; und diese lebten alle und gediehen alle. Nach etlichen Jahren bekam sie auch noch ein Töchterchen. Ihr Mann war gar fleißig und tüchtig in seiner Arbeit. Die Leute, welche Handarbeiter brauchten, nahmen in deshalb gerne in Dienst, wodurch er nicht nur seine zahlreiche Familie auf ehrliche Weise ernähren konnte, sondern so viel erwarb, dass bei genauer Einrichtung eine brave Hausfrau auch noch einen Notpfennig zurücklegen konnte.
Doch dieser treue Vater starb in seinen besten Jahren, und die arme Witwe geriet bald in Not, denn sie konnte nicht so viel erschaffen, um ihre acht Kinder zu ernähren und zu kleiden. Dazu wurden die sieben Knaben immer größer und brauchten immer mehr, und wurden aber auch zur größten Betrübnis ihrer Mutter immer unartiger, ja, sie wurden sogar wild und böse. Die arme Frau vermochte kaum zu ertragen, was sie alles bekümmerte und drückte. Sie wollte doch ihre Kinder gut und fromm erziehen, aber ihre Strenge und Milde fruchtete nichts, der Knaben Herzen waren und blieben verstockt.
Darum sprach sie eines Tages, als ihre Geduld ganz zu Ende war:“ O, ihr bösen Raben-Jungen, ich wollte, ihr wäret sieben schwarze Raben und flöget fort, dass ich euch nimmer wieder sähe.“ Und alsbald wurden die sieben Knaben zu Rabenvögeln, fuhren zum Fenster hinaus und verschwanden.
Nun lebte die Mutter mit ihrem Töchterchen recht stille und zufrieden, sie verdienten sich mehr noch, als sie brauchten. Und die Tochter wurde ein hübsches, gutes und sittsames Mädchen. Doch nach etlichen Jahren bekamen beide, Mutter und Tochter, gar herzliche Sehnsucht nach den sieben Brüdern und sprachen oft von ihnen und weinten: wenn doch die Brüder wiederkämen und brave Burschen wären, wie könnten wir durch unsere Arbeit uns so gut stehen und untereinander so viel Freude haben.
Und weil die Sehnsucht nach den Brüdern im Herzen des Mägdleins immer heftiger wurde, sprach es einst zur Mutter: „Liebe Mutter, laß mich fortwandern und die Brüder aufsuchen, dass ich sie umlenke von ihrem bösen Wesen und sie dir zuführe zur Ehre und Freude deines Alters.“ Die Mutter antwortete: „Du gute Tochter, ich kann und will dich nicht abhalten, die fromme Tat zu vollführen, wandere fort, und Gott geleite dich.“ Sie gab ihr darauf ein kleines goldenes Ringlein, das sie schon als kleines Kind am Finger getragen, als die Brüder in Raben verwandelt wurden.
Da machte sich die Tochter sogleich auf und wanderte fort, gar weit, weit fort, und fand lange keine Spur von ihren Brüdern; aber einmal kam sie an einen sehr hohen Berg, auf dessen Höhe ein kleines Häuschen stand. Das kam ihr bald vor wie ein Vogelnest. Sie dachte: ob nicht da droben deine Brüder wohnen? Und als sie endlich sieben schwarze Raben aus dem Häuschen fliegen sah, bestätigte sich ihre Vermutung noch mehr. Sie machte sich freudig auf, um den Berg zu ersteigen; doch der Weg, der hinaufführte, war mit spiegelglatten Steinen gepflastert, dass sie allemal, wenn sie mit großer Mühe eine Strecke hinan war, ausglitt und wieder herunterfiel.
da sah sie eine schöne weiße Gans und dachte: wenn ich nur deine Flügel hätte, so wolle ich bald droben sein. Dann dachte sie wieder: kann ich mir denn ihre Flügel nicht abschneiden? Ei, dann wäre mir ja geholfen! Und sie fing rasch die schöne Gans, schnitt ihr die Flügel ab und auch die Beine und nähte sich dieselben an. Und siehe, wie sie das Fliegen probierte, ging es so schön, so leicht und gut, und wenn sie müde war vom Fliegen, lief sie ein wenig mit den Gänsefüßen und glitt nicht einmal wieder aus. So kam sie schnell und gut an das langersehnte Ziel. Droben ging sie hinein in das Häuschen, doch war es sehr klein; drinnen standen sieben winzig kleine Tischchen, sieben Stühlchen, sieben Bettchen, und in der Stube waren auch sieben Fensterchen, und in dem Ofen standen sieben Schüsselchen, darauf lagen gebratene Vögelchen und gesottene Vogeleier.
Die gute Schwester war von der weiten Reise müde geworden und freute sich, nun einmal ordentlich ausruhen zu können; auch fühlte sie Hunger. Da nahm sie die sieben Schüsselchen aus dem Ofen und aß von einem jeden ein wenig und setzte sich jedes Stühlchen ein wenig und legte sich in jedes Bettchen ein wenig, und in dem letzten Bettchen schlief es ein und blieb darinnen liegen, bis die sieben Brüder zurückkamen. Diese flogen durch die sieben Fenster herein in die Stube und sahen erstaunt das schlafende Mädchen liegen.
Da sprach einer um den andern: „Wenn es doch unser Schwesterchen wäre!“ Und wieder rief einer um den andern voll Freude: „Ja, das ist unser Schwesterchen, ja, das ist es! Solche Haare hatte es, und solch ein Mündlein hatte es, und solch ein Ringlein trug es damals an seinem größten Finger, wie es jetzt am kleinsten eins trägt!“ Und sie jauchzten alle und küßten das Schwesterchen alle; aber dieses schlief so fest, dass es lange nicht erwachte.
Endlich schlug das Mädchen die Äuglein auf und sah die sieben schwarzen Brüder um sein Bett sitzen. Da sagte es: „O, seid herzlich gegrüßte, meine lieben Brüder, Gott sei gedankt, dass ich euch endlich gefunden habe. Ich habe euretwegen eine lange mühevolle Reise gemacht, um euch wieder aus eurer Verbannung zurückzuholen, wenn ihr nämlich einen besseren Sinn in euren Herzen gefaßt habt, dass ihr eure gute Mutter nie mehr ärgen wollt.“ Während dieser Rede hatten die Brüder bitterlich geweint und sprachen nun: „Ja, herzige Schwester, wir wollen gut sein und nie wieder die Mutter beleidigen, ach, als Raben haben wir ein elendiges Leben, und ehe wir uns dieses Häuschen erbaut, sind wir vor Hunger und Elend fast umgekommen. Dazu kam die Reue, die uns Tag und Nacht folterte.“
Die Schwester weinte Freudentränen, dass ihre Brüder sich bekehrt hatten und so voll frommen Sinnes sprachen. Als nun die Brüder mit dem Schwesterlein heimreisen wollten, sprachen sie erst, indem sie ein hölzernes Kästchen öffneten: „Liebe Schwester, nimm hier diese schönen goldenen Ringe und blitzenden Steinchen, die wir draußen so nach und nah fanden, in dein Schürzchen und trage es mit nach Hause, denn dadurch können wir als Menschen reich werden. Als Raben trugen wir sie nur um des schönen Glanzes willen zusammen.“
Das Schwesterchen tat so, wie die Brüder wollten, und hatte selbst Freude an dem schönen Schmuck. Auf der Heimreise trugen die Rabenbrüder einer um den andern das Schwesterchen auf ihren Flügeln, bis sie an die Wohnung ihrer Mutter kamen; da flogen sie zum Fenster hinein und baten ihre Mutter um Verzeihung und gelobten, fortan stets gute Kinder zu sein. Auch die Schwester half bitte und flehen, und die Mutter war voll Freude und Liebe und verzieh ihren sieben Söhnen. Da wurden sie wieder Menschen und gar schöne blühende Jünglinge, einer so groß und so anmutvoll wie der andere.
Und bald darauf nahmen alle sieben Brüder sich junge sittsame Frauen, bauten sich ein großes schönes Haus, denn sie hatten für ihre Kleinodien sehr viel Geld bekommen, und des neuen Hauses erste Weihe war der Brüder siebenfache Hochzeit. Dann nahm auch die Schwester einen braven Mann, mußte aber auf der Brüder Flehen und Bitten bei ihnen wohnen bleiben.
So hatte die gute Mutter noch viel Freude an ihren Kindern und wurde von denselben bis in ihr spätes Alter liebevoll gepflegt und hoch verehrt.

(Quelle: Meine schönsten Märchen, W. Fischer-Verlag, Göttingen, ohne Jahr)


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