Die sieben Tannenbäume – Gorch Fock

Die sieben Tannenbäume – eine Erzählung von Gorch Fock.

Weitab von den Landstraßen und noch weiter von Dörfern und Höfen steigt ein kleiner Berg aus der weiten, braunen Heide auf. Er liegt in Einsamkeit da und wenn auch manchmal ein Schäfer mit Hund und Heidschnucken vorbeigeht, so treiben doch gewöhnlich nur Krähen und Hasen auf ihm ihr Wesen.

Einst war´s anders. Da war er nicht kahl, sondern trug auf seinem Gipfel sieben Tannenbäume, so dass man meinen mochte, er hätte sich eine dunkelgrüne Mütze über die Ohren gezogen. Und in dem Berge hauste ein Zwerg, den sie das rote Männchen hießen, weil er immer in einem feuerroten Röcklein zutage kam. Ihm gehörten die sieben Tannenbäume, er hatte sie selbst angepflanzt, hatte sie gerichtet und gepflegt, hatte an manchem warmen Sommernachmittag aus der kühlen Tiefe des Berges Wasser getragen – und freute sich nun, dass er sie so weit gebracht hatte dass sie sich selbst helfen konnten. Und ihm selbst mussten sie auch auf manche Art helfen. Mit ihren feinen Wurzeln hielten sie den Sand est, dass in seiner Höhlenwohnung nicht die Decke niederrieselte, sie sogen den Regen auf bis auf den letzten Tropfen, dass es nicht herunterleckte, sie wehrten die Sonnenstrahlen ab, dass es ihm nicht zu heiss wurde. Jedem hatte er einen Namen gegeben: Wegweiser, Regenschirm, Sonnendach, Windbeutel, Gesangsmeister, Stiefelknecht und Spielvogel.

Wegweiser war der größte und höchste und wies dem roten Männchen den Weg, wenn es über „Geest“ war. Regenschirm war am dichtesten bezweigt, unter ihm lag der Zwerg, wenn es von den Wolken tröpfelte. Sonnendach war breitgeästet und musste das Männlein deshalb vor der brennenden Sonne beschützen. Windbeutel war besonders kräftig und stämmig; er stand an der äußersten Ecke und drängte den kalten, scharfen Ostwind beiseite, den der Alte nicht vertragen konnte. Gesangsmeister hatte die beweglichsten Zweige und war der lustigste von allen: Bei dem leisesten Windzug strich er mit den Nadeln über das dürre Gras und das Kraut, so dass eine herrliche Musik für Zwergohren vernehmlich wurde, auch lud er Mücken, Grillen, Brummer, Bienen zu Gast, an hohen Festen sogar eine Meise oder einen Finken: An Gesumme und Gezirpe und Gezwitscher war kein Mangel. Stiefelknecht hatte einen krummen Stamm, den benutzte das Männlein jeden Abend beim Stiefelausziehen. Spielvogel war noch zu klein und konnte noch nichts tun; er spielte wie ein Kind mit Wind und Sonne.

Es wurde nach und nach Herbst und Winter. Die Bienen flogen nicht mehr, die Grillen starben, die Sonne saß hinter grauem Gewölk, kalt und feucht wurde es auf dem Berg und in den Tälern. Da verkroch sich das rote Männchen tief in seine Höhle, verstopfte den Eingang mit Moos und Steinen und wartete, dass die Sonne und der schöne Sommer wiederkommen sollten. Die sieben Tannenbäume ließ es in Wind und Wetter allein und quälte sich nicht weiter um sie. Das einzige, was es tat, war, dass es morgens bald den einen, bald den andern bei den Wurzeln fasste, als zöge es ein Kind an den Füßen.

    „Bäumchen mein:
    Sonnenschein?“

fragte es dann, und antwortete das Bäumchen wahrheitsgetreu:

    „Zwerglein, nein!

so legte es sich auf sein Bett von Heidekraut und verschlief den Tag wie ein Murmeltier. So ging es wochenlang, da riß es wieder an den Wurzeln, umd zu wissen, wie das Wetter sei – und bekam mit einemal keine Antwort mehr. Es zog stärker, ja, es ließ sich an den Wurzeln baumeln, es fragte mit gräßlich lauter Stimme:

    „Bäumchen mein:
    Sonnenschein?“

aber es antwortete ihm niemand. Sehr erbost, aber auch ein bißchen besorgt, stieß es die Tür auf – o weh, wie erschrak es! – alle sieben Tannenbäume waren verschwunden. Nur Stammstümpfe standen da -, der Berg war kahl wie ein Pfannkuchen. Da lief das Mänchen umher, als wüßte es nicht, was es tun sollte, guckte herum, schlug die Hände zusammen, rief, fragte, weinte und grämte sich um seine Tannenbäume. Die Hasen kamen angehüpft und erzählten ihm von den großen Menschen, die gekommen wären am hellen Mittag, und die Bäume abgesägt hätten; auf einen großen Wagen hätten sie sie geworfen, und im Trab seien sie mit ihnen weggefahren. Die Krähen kamen geflogen und wollten trösten. Aber das rote Männchen wollte keinen Trost, es wollte seine Bäume wiederhaben. Es wollte in die Welt hinein und sie suchen. „Du findest sie nicht“, sagten die Krähen, „die Welt ist zu groß.“ Das Männlein jammerte wieder. Da nahmen die Krähen all ihren Verstand zusammen und dachten nach, wie sie ihm helfen könnten, und wirklich – sie fanden es.

„Wenn der Mond aufgeht“, sagten sie, „wollen wir ihn bitten, dass er sich zum Spiegel der Welt mache. Dann guckst du hinauf und suchst deine Tannenbäume.“

Das war dem Männchen eine willkommene Botschaft, und da es noch nicht dämmerte, lud es die Krähen zu Gast und setzte ihnen Buchweizengrütze, Honig und Brot vor; darüber fielen die hungrigen Brüder mit heißen Schnäbeln her. Als sie noch so saßen und von ihren Reisen erzählten, da guckte der Mond groß und rötlich über die Geest.

Endlich, nach langen Warten, war es so weit. Der Mond stand groß und klar über dem Heiderande.

Rauschend flogen die Krähen auf und krächzten oben in der Luft:

    „Blanker, gelber Mond am Heben
    spiegle alles Erdenleben!“

Und sieh: Der Mond wurde größer und größer, leuchtete taghell auf und wie in einem Spiegel zeigte sich auf ihm die Welt mit allem, was darin war: Wasser und Berge, Städte und Wälder, Häuser und Menschen und Bäume, alles wr deutlich zu erkennen. Das rote Männchen machte große Augen und suchte. Dann wies es mit beiden Händen nach einer Gegend.

„Was für eine große Stadt ist das?“ rief es zitternd.

„Hamburg“, gaben die Krähen leise zur Antwort.

„Da sind alle sieben, alle meine Tannenbäume!“ rief es wieder. „Ich sehe sie alle: Wegweiser in einer großen Kirche, Regenschirm in einem prächtigen Herenhause, Sonnendach vor einer Dombude, Windbeutel in einer kleinen Stube, Gesangsmeister in einer armseligen Dachkammer, Stiefelknecht an der Straßenecke, Spielvogel oben auf dem Schiffsmast. O – wie müssen sie sich nach mir und dem Berg zurücksehen, wie mögen sie jammern! Ich will nach Hamburg und sie holen. O – bringt mich nach Hamburg! Hasen und Krähen, liebe Freunde, helft mir!“

Das wollten sie. Das Männchen machte sich reisefertig, zog Handschuhe an, setzte sich auf den Hasen, hielt sich an dessen langen Ohren fest und – hast du nicht gesehen! – ging´s über die Geestberge, dass die Heide wackelte. Als sie aber unter die Lichter von Hamburg gerieten, warf das Hasenross den Reitersmann ab und trabte angstbeklommen nach Hause zurück. Das Männchen schwang sich kurzgefaßt auf den breiten Rücken der größten Krähe und ließ sich über die Elbe nach dem glänzenden, funkelnden Hamburg tragen.
Auf dem Kirchendache landete das Rabenschifflein mit seinem Fahrgast, der sich an dem Blitzableiter hinabgleiten ließ und durch eine Luftrhre in die Kirche stieg. Vor all der Helle und Pracht konnte er kaum die Augen offenhalten. Orgelton und Gesang durchbrausten den Raum, in dem kein unbesetzter Platz vorhanden war. Neben dem Altar stand ein großer, hoher Tannenbaum, über und über mit Lichtern bedeckt: es war der Wegweiser. Das Männchen erkannte ihn und schlich sich unter den Bänken entlang zu ihm.

„Armer Wegweiser!“ schluchzte es.

Der große Baum aber schüttelte leise die Krone, dass die Lichter flackerten: „Arm?“ fragte er „ich bin nicht arm, ich bin der schönste Baum auf der Erde, ich bin der Weihnachtsbaum. Sieh´ meine Pracht und mein Leuchten!“

„Ist nur ein Traum, armer Wegweiser, nur ein Traum. Wenn du erwachst, sind deine Lichter erloschen und du liegst vergessen im Winkel. Und stirbst. Komm mit auf den Berg, ehe es zu spät ist.“

Der Baum rüttelte wieder seine Krone: „Ich weise andere Wege“, flüsterte er wie im Traum, „Wege zu Gott, Wege zur Freude, Wege zum Kinderland, ich bin beglückt, wen ich nur zwei Kinderaugen glänzen machen kann. Und hier glänzen tausend. Mußt mir mein Glück schon gönnen, rotes Männchen, und mich stehen lassen.“ Brausend erscholl Orgelton dazwischen.

„Und deine sechs Brüder?“ fragte das Männchen.

„Die sind alle Weihnachtsbäume geworden“, sagte der Wegweiser, „tragen Lichter und Nüsse und Äpfel, erfreuen arm und reich, großes und kleines Volk. Um sie klingen Weihnachtslieder und alle Kinder lachen. Keiner geht zurück in den Wald. Einen Abend Weihnachtslichter tragen, ist die Sehnsucht aller Tannenbäume. Ist die erfüllt, dann verdorren sie gern. O Weihnacht!“

Als der Baum so gesprochen hatte, sah das Männchen ein, dass es ihn nicht überreden konnte.

„Weihnachten und die Menschen sind dir in die Krone gefahren“, sagte es und stahl sich hinaus. Die Krähe wetzte ihren Schnabel auf dem Dach, das Männchen bestieg den Rücken, und weiter ging es. Zu Regenschirm, der über und über mit Gold und Silber bedeckt war und sich nach der Musik um sich selbst drehte wie ein junges Mädchen im Tanzsaal. Zu Sonnendach, das mit elektrischen Glühlampen besteckt von dem Karussel auf den Schwarm der Dombesucher herableuchtete. Zu Windbeutel, der, spärlich behängt, eine kleine Arbeiterwohnung erhellte. Zu Gesangsmeister, der in der Dachkammer stand, ein einziges Licht und einen Hering trug; ein grauer Kater saß daneben und wollte sich an den Hering machen, aber jedesmal stach Gesangsmeister ihn mit den Nadeln, dass er miauschreiend zurückspringen musste.

Alle vier bat das rote Männchen, aber alle antworteten, ebenso wie ihr großer Bruder, sie waren glücklich, Weihnachtsbäume geworden zu sein und dachten nicht daran, wieder nach dem kalten, dunklen Berg zu wandern.

Traurig schwebte der Zwerg wieder durch die Luft, bis er vor Stiefelknecht stand. Der lag auf einem großen, dunklen Platz in einem Haufen anderer Tannenbäume. Wegen seines alten Fußleidens hatte ihn niemand kaufen wollen.

„Deinen Brüdern will ich es gar nicht mal so sehr verdenken“, sagte der Alte zu ihm, „sie tragen Lichter und sind Weihnachtsbäume – aber du bis keiner.“

„Doch – ich bin ein Weihnachtsbaum, so gut wie die andern“, sagte Stiefelknecht „der schönste Baum auf Erden. Ich sehe viele glückliche Menschen vorbeigehen: ist das nicht Glück genug? Und vielleicht, nein, gewiß kommt heute abend, ganz spät, noch jemand und nimmt mich mit, steckt mir Lichter an und schmückte mich. Nach der Heide will ich nicht zurück.“

Das Zwerglein bat und bat, aber Stiefelknecht sah nach den Kindern, die jubelnd vorbeistürmten und hörte nichts.

Dann ging es wieder zu seinem schwarzen Rößlein und ließ sich nach dem Hafen fliegen. Der Spielvogel, an dem sein Herz am meisten hing, würde ihm treu bleiben, das hoffte er von seinem Lieblingsbäumchen. Aber am Hafen war kein Spielvogel mehr zu entdecken. Das Schiff wäre schon in See gegangen, erfuhr der Krähe von einigen weitläufigen Verwandten, weißen Möwen, die über dem Wasser schwebten. „Dann seewärts“, befahl das rote Männchen. Die Krähe flog westwärts über Wasser und Deiche und Schiffsmasten hin, aber als sie bis Cuxhaven gekommen war, setzte sie sich nieder, denn auf die große, endlose See zu fliegen, getraute sie sich nicht. Doch rief sie eine große Seemöwe herbei, die breitete ihre weißen Schwingen und trug das Männchen stolz und schnell über das dunkle, schäumende Meer, bis weit hinter Helgoland. Da tauchte ein einsames Schiff in den Wogen auf und ab und wurde von einer Seite nach der andern geworen. Der Wind blies gewaltig in die großen, braunen Segel. Auf dem Topp, der höchsten Spitze des Großmastes, tanzte ein kleines Tannbäumchen im schneidenden Wind auf und ab: das war Spielvogel. Er lachte hellauf und schüttelte die Zweiglein vor Lust, wen eine Sprühwelle zu ihm heraufspritzte. Und guckte einer der Matrosen zu ihm hinauf so nickte er ihm freudig zu.

„Armer Spielvogel!“

„He, he, Männlein klein bist du´s?“ rief Spielvogel. Hier ist es lustig, nicht?“

„Komm mit nach der Geest!“

„Nein nein, nein! Ich bin Weihnachtsbaum, der schönste Baum auf Erden. Und was kann schöner sein, als Weihnachten auf See. Grüß die Heide! Ich muss singen!“

Und Spielvogel sang, so laut er konnte, dass die Matrosen mitsingen mussten und Träume von Land und Licht träumten.

Da sah das rote Männchen ein, dass es eine sieben Tannenbäume verloren hatte, es dache daran dass es nun ohne Wegweise über die Geest irren müsse, dass niemand mehr da sei, der es vor Regen, Sonne und Wind schützen könne, der ihm vorsinge, der ihm beim Stiefelausziehen helfe, der es durch sein Kinderspiel erfreue – der Berg war so kahl, Regen drang in seine Wohnung -, armes Männlein! Mit einemal breitete es die Arme aus, rutschte von den Möwenflügeln und stürzte sich in das dunkle Wasser hinab.

Seit jener Nacht schwimmt ein seltsamer, leuchtender Fisch in der See. Die Fischer nennen ihn das Petermännchen und hlten es für etws Besonderes, wenn sie ihn fangen.