Glitsch

Glitsch – Erzählung von Hermann Löns

Knickschen, die Wasseramsel, saß mitten im Bache auf dem gischtumsprühten Felsblocke und sang.
Was machte es ihr aus, dass Schnee die Ufer verhüllte und die Wellen im Bache am Bandeise klimperten? Sie sang, wenn es ihr paßte, und nicht wie die anderen Vögel zu den von der Natur festgesetzten Zeiten.
Mit einem Male brach sie ihr niedliches Liedchen in der Mitte ab, schnurrte über die wilden Wellen, fiel auf einer anderen Klippe ein, knickste dort in einem fort und schimpfte ärgerlich, denn bei ihrem Lieblingsplatz tauchte Glitsch auf.
Glitsch hatte ihr zwar noch nie etwas getan, aber darum traute sie ihm doch nicht, wie allen, was keine Federn am Schwanze hatte und größer als eine Maus war. Und obgleich Glitsch, wie er da so auf dem Steinblocke saß und sich die Mittagsonne auf den Balg scheinen ließ, ein Gesicht machte, als nähre er sich von grünem Grase, Knickschen wußte, dass das nicht der Fall war.
Glitsch, der Otter, reckte sich und streckte sich, kratzte sich hier und da und gähnte von Herzen; aber dann verschwand er blitzschnell in dem Strudel, gerade rechtzeitig genug, dass der Schrotschuß, den der Jäger ihm zugedacht hatte, dahin traf, wo Glitsch sich eben gerekelt hatte. Aber als der Jäger, der zufällig des Weges gekommen war, noch dastand und ein dummes Gesicht machte, war der Otter schon unter Wasser ein ganzes Ende bachauf geronnen (Anmerkung: Jägersprache = schwimmen), hatte, wenn ihm die Luft ausging, unter dem hohlen Ufer die Nasenspitze herausgehalten und schließlich einen Graben angenommen, der in den Bach mündete. Dieser Graben war breit und tief, dicht mit Büschen bestanden und roch ausgezeichnet, nämlich nach Forellen; von allen Fischen schätzte Glitsch diese am meisten. So schwamm er weiter, tauchte ab und zu auf, um zu atmen, wodurch er hier den Eisvogel ärgerte, der auf einer Weidenrute saß und auf Erlritzen (Anm. = kleine Karpfenfische) paßte, und da eine Krähe, die am Ufer auf eine Maus lauerte und beinahe auf den Rücken fiel, als der Otter vor ihr aufging, so dass sie vor Schreck fast vergaß, dass sie Flügel hatte, um endlich unter dem Schreckensgequarre: „Gewalt, Gewalt!“ von dannen zu taumeln, worüber Glitsch entsetzt untertauchte und erst dann wieder aufkam, als das Wasser ihm ganz nahe Forellenwitterung zutrug.
Da schlüpfte er in einen dichten Weidenbusch, schnüffelte erst lange nach allen Richtungen, ob es nicht irgendwo nach Mensch oder nach Hund röche, schütelte sich darauf und sog gierig und sehnsüchtig den Duft ein, der von dem Quellteiche kam. Nach Forellen roch es, nach schönen fetten Regenbogenforellen und nach den noch leckereren Bachfohren (Anm. = Bachforellen). Glitsch liefen silberne Geschmacksfäden aus den Mundwinkeln, denn in den letzten Tagen war es mit dem Fange schlecht gewesen, weil wegen der Schneeschmelze in den Bergen sowohl die Forellen wie die Äschen (Anm. = forellenähnliche Lachsfische) sich vor dem Trübwasser in die tiefsten Uferlöcher gesteckt hatten. Der hungrige Freifischer meinte, es sei eigentlich noch etwas zu früh, um zu rauben; aber da sein Magen allzusehr drängte, gab er seinem Herzen einen Stoß und sprang auf den Damm.
Es paßte ihm wenig, dass ein paar Krähen, die auf dem Eise umherwatschelten, mit viel Getöse seine Ankunft verkündeten, und darum rannte er schnell den Damm entlang der Stelle zu, wo er offenes Wasser roch, plumpste in die eisige Flut hinein, schoß in ihr entlang, trieb die starken Zuchtforellen vor das Ablußgitter, fing die dickste, fraß sie auf, indem er sich unter dem Eise am Ufer festhielt, machte es mit einem Dutzend ihrer Genossen ebenso, schlüpfte dann aus dem Eise heraus, machte sich ein Lager in einem Haufen dürren Schilfes und schlief vor Müdigkeit bis in den hellichten Morgen hinein.
Er wurde erst wach, als Tritte den Boden erschütterten und eine Hundeschnauze in dem Schilfe herumschnüffelte. Noch ganz dumm vor Schlaf, fuhr er aus dem Lager heraus und dem Hunde, einem kleinen Teckel, entgegen, der ihm an den Hals wollte, aber jaulend zurückfuhr, als Glitsch ihn in das Maul biß. Und dann brüllte eine Mannesstimme: „Schnell, schnell, Herr Müller, ein Otter, schnell, schnell!“ So hurtig wie ein Wiesel warf sich der Otter von dem Damm in den trockenliegenden Streckteich, rannte in ihm entlang und fuhr, als das Getrampel und Gekläffe immer näher kam, in einen Durchlaß. Aber da ging es auch schon: „Hu faß, Männe, so schön, Männe, hu faß, faß!“ Und hinter ihm her schliefte (Anm. Jägersprache = kriechen, schlüpften) der Teckel ein. Eilig wollte Glitsch an der anderen Stelle heraus, da fuchtelte ein Stock darin herum, und Transtiefel versperrten die Öffnung, während von der anderen Seite Männe ihn in die Keulen zwickte. Vor Wut und Angst besinnungslos, drehte der Otter sich um, wollte den Hund überrennen, und als das nicht ging, biß er zu, daß die Knochen knackten, und schoß über den jämmerlich winselnden Hund ins Freie. Zwei Schrotschüsse knallten hinter ihm her – und ein Fluch, denn kein Schuß hatte getroffen.
Während der Teichaufseher und der Arbeiter schimpfend den Teckel untersuchten, dem ein Ohr fast abgerissen und dessen Rute an der Wurzel glatt durchgebissen war rannte Glitsch, so schnell er konnte, dahin, wo er das nächste Buschwerk witterte, fand einen Graben, schwamm in ihm entlang und war bald im Walde. Dort verkroch er sich in einem Busche, verschnaufte eine Weile, suchte sich dann ein Versteck unter dem hohlen Wurfboden einer umgewehten Fichte, lag dort im Halbschlafe, bis die Amseln mit Gezeter schlafen gingen und die Eule auf Raub ausflog. Da witterte er nach allen Windrichtungen und lief dann dahin, von wo ihm Wasserdunst in die Nase zog.
Es dauerte auch nicht lange, und er langte bei dem Bache an. Aber ehe er in ihn hineinglitt, wußte er schon, dass für seinen Magen nichts darin sein würde als winzige Elritzen und kümmerliche Weißfischbrut. Er fing davon, was ihm in den Weg kam, und rann dann bachaufwärts, denn seine Ahnung sagte ihm, dass er auf diese Weise an ein Fischwasser kommen würde, wo er den Hunger, der ihn sehr quälte, stillen könne. So kam er zu einer Stelle, wo der Bach sich in dem Wiesengelände zu einem verkrauteten Kolke (Anm. = Wasserloch) ausweitete. Schon wollte er hindurchschwimmen, da gab es ihm einen Ruck, und er tauchte eiligst bis auf die Nasenspitze unter, denn er hörte es in der Luft klingeln und sah drei Schatten über dem Wasser kreisen, die sich immer tiefer senkten. Sobald sie in das Wasser hineinplatschten, faßte er zu, und während die beiden Enten mit Angstgequarre von dannen klapperten, zog er den Erpel unter Wasser, biß ihm den Kragen durch und trug ihn in das Gebüsch, wo er ihn rupfte und auffraß. Halbwegs gesättigt, rannte er neben dem Bache her. Aber es wurde schon hell, als er fühlte, dass er sich dem Flusse näherte, und da er dem Tage nicht mehr traute, so kroch er in einer Uferhöhlung unter und vergaß im Schlafe seines Magens Mahnen.
Als die Nacht auf das Land fiel, schlüpfte Glitsch aus seinem Notbau, schwamm ein Viertelstündchen in dem Bache entlang und war dann bei dem Flusse. Unwillig schüttelte er sich,als er dort ankam. Das Wasser roch nach Fabrikabflüssen. Also gab es nur Aal und Weißfisch. Beide schätze er wenig. Aber Hunger beißt, und so schoß er von Ufer zu Ufer, holte hier einen Aal aus dem Schlamm, griff dort einen Weißfich, prallte aber entsetzt zurück, als weiter unten eine stinkende Lauge ihm entgegenkam, und war froh, als er den Einfall eines quicken (Anm. = lebenig, munter) Baches fand, in dem er hinaufrann, denn sein Wasser roch nach Forellen und einem Fisch, den Glitsch noch nicht kannte, der aber mindestens ebenso schmecken mußte wie diese.
So eilig, wie er konnte, strebte er fürbaß, an wildumstrudelten Klippen vorbei, unter hohlen Ufern her, über seichte Stellen, ab und zu zu Lande, wenn der Bach einen zu großen Bogen machte; in ihm weiterschwimmend, wurde ihm das Gelände bei dem hellen Mondschein zu offen; hier und da schnell eine Forelle raubend, roch er eine, die sich unter dem hängenden Ufer barg, bis schließlich die immer stärkere Fischwitterung der Wellen ihm angab, dass er sich einem Otterparadiese näherte. Und dann kam er vor eine Schleuse, die in einer ungeheuren, im Mondlichte silbern schwimmenden Mauer war, mußte einen steilen Hang empor, kam auf einen Damm, und da saß er und atmete tief und zufrieden; denn vor ihm lag ein weiter, breiter See, von steilen, mit Fichten bewachsenen Klippenhängen eingefriedigt, ein See, der streng nach Forelle und dem guten fremden Fisch roch, wenn er auch fast ganz übergefroren war, und um den es totenstill war, bis auf das Kläffen eines Fuchses drüben an der Wand.
Glitsch hob die Nase und witterte hin und her, und sofort wußte er, wo es in dem Eise einen Einstieg gab. Just wollte er darauf zu, da kam ihm ein anderer Duft entgegen, der vom Ufer her zu ihm drang. Und nun wußte er auch, dass er nicht einsam und allein hier am Talsperrensee sein würde, dass er Gesellschaft finden würde, sehr angenehme Gesellschaft. Einen kurzen, scharfen Pfiff stieß er aus, schlüpfte den Damm hinunter, rannte über die verschneite Eisedecke nach der Lume (Anm. = Öffnung im Eise) hin, die über der warmen Quelle war, schnüffelte dort lange, pfiff noch einmal, und als er keine Antwort bekam, glitt er in das eisige Wasser.
Als er endlich erschien, einen starken Bachsaibling (Anm. = Lachsfisch in Gebirgswassern) zwischen den Fängen, planschte es abermals in der Lume, und mit einer alten Mutterforelle im Maule tauchte eine hübsche, schlanke Otterin aus der Flut auf. Einen Augenblick stutzte sie, und als Glitsch sich ihr freundlich näherte, ließ sie den Fisch fallen und kluckste unter. Sofort war er ebenfalls verschwunden; aber nach einer Weile tauchte erst die Otterin an einer offenen Stelle auf dem Eise auf und hinter ihr, silbern im Mondschein glitzernd, Glitsch. Es gab ein wildes Gerenne und Gehüpfe auf dem Eise, so dass die Eule ganz erstaunt näher flog und mit dumpfen Unkentönen über dem Pärchen rüttelte (Anm.: in der Luft „stehen“ bei Vögeln). Schließlich schwebte sie enttäuscht davon.
Der Otter und die Otterin aber freundeten sich schnell an, fraßen sich an Forellen, Saiblingen und Krebsen nudeldick, spielten die halbe Nacht im Wasser und auf dem Eise und schliefen schließlich, satt und müde, in einen alten, verlassenen, tief zwischen den Klippen gelegenen Fuchsbau ein, um den Tag zu verschlafen, den bösen, lauten, gefährlichen Tag, der Glitsch nichts als Not und Angst gebracht und ihn gelehrt hatte, dass die Nacht für das Otterngeschlecht milder und gütiger sei.
Und so hielt er sich danach und lebte mit seiner Otterin noch viele Jahre an dem einsamen Kunstsee zwischen den grünen Wäldern, dort oben unter dem hohen Berge.
(Quelle: Kompaß – ein Lesewerk, Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1965)