Heilewog

Heilewog – eine Erzählung von Herman Eris Busse

Im Winter 1813, kurz vor der Weihnacht, wurde bei der jungen Frau Getrud Mentelin in Straßburg heftig an die Tür gepocht. Sie fuhr aus dem Schlag und lauschte, ob der Lärm vielleicht noch zu ihrem wilden Traum gehört hatte; aber da pochte es erneut und sehr ungeduldig, so dass sie unverzüglich aus dem Bett sprang und ans Fenster eilte. Die Nacht war mondhell, Gassen und Brunnen standen klar wie in der Taghelle. Drunten auf der Staffel warteten zwei Männer, Soldaten, wie ihr schien, der eine stützte sich wankend gegen den andern. Ein tiefer Schrecken packte die Frau, sie riss das Fenster auf und fragte hinunter, wer da sei. Sie konnte vor Zittern kaum sprechen.
Da hob der eine, der Aufrechte von den beiden, das Gesicht, lächelte und sagte: „Erschrecket nit so arg, Madame, es ist Euer Mann. Er ist aber krank.“
Das Mondlicht lag so hell über dem schmalen, jungen Gesicht des Fremden, dass Gertrud alle Linien sehen konnte, während sie hinabstarrte. Es durchrieselte sie einen Augenblick lang sonderbar, dann aber fasste sie sich und rief hinab: „Ich kumm sofort.“
Der Mentelin war stumm geblieben, er hatte nicht einmal den Kopf gehoben.
In großer Eile kleidete die Frau sich an, sprang vor die Kammer der Magd und klopfte sie heraus, der Meister sei da und ein Kamerad: „Schnell Feuer in den Herd und Wasser aufgesetzt.“
Die Magd schrie vor Verwunderung, aber die Frau verwies es ihr: „Sei still, mach schnell, so schnell du kannst.“
Sie ging an die Haustür, hob den Riegel ab, der nachts die Tür verschloss, dass sie von außen niemand öffnen konnte; denn es waren unsichere Zeiten und leuchtete mit der Laterne den Ankömmlingen ins Gesicht.
„Herjere, was ist mit meinem Mann?“ jammerte sie, als sie sah, dass er von dem Kameraden heimgebracht wurde wie ein Kind.
„Er ist verwirrt vom Fieber“, sagte der Fremde, „weiset mir das Bett, Madame, ich lupf ihn hinein.“
Und sie schafften den Schlaffen in die Kammer, zogen ihm die verschmutzten und zerrissenen Kleider ab, ohne dass er auch nur einen Laut von sich gab. Sein Gesicht war mager zum Erschrecken, braunrot verbrannt die Haut vom Fieber, die Lippen zersprungen und blutig. Die Augen starrten leer ohne Bewusstsein.
„Seid froh, Madame, dass ihr ihn wiederhabt. War ein langer Weg aus Russland. Wenn Ihr ihn gut pflegt, steht er Euch wohl auch bald wieder auf. Nun lasst ihn erst warm werden, legt ihm ein kaltes Tuch auf den Kopf, am besten wäre Eis. Und holt in der Früh den Medicus.“
„Wollt Ihr nicht hier bleiben in der Gastkammer?“ fragte die Frau.
„Für diese Nacht wohl, wenn es Euch lieb ist.“
Gertrud lud ihn in die Stube ein. Er müsse auch etwas Warmes haben und dann Bericht geben. Sie habe ihren Mann längst tot geglaubt, ja einer der zurückgekehrten Soldaten der großen Armee habe ihr gesagt, der Mentelin sei gerade mitten auf der Brücke gewesen, als sie in de Beresina gestürzt sei. Sie habe trotzdem immer noch gewartet und Hoffnung gehegt.
Madame sprach ganz ruhig. Der Fremde schaute sie mit großen Augen an. Sie stand schön wie eine Erscheinung in der warmen, erhellten Stube, den Umhergetriebenen umfing das Schöne wie ein Traum. Er begann jedoch plötzlich zu zittern. Die Frau sprang hinzu und rückte ihm einen Stuhl nach. Da fiel er hinein wie ein völlig Erschöpfter. Die Frau eilte in die Küche, nahm roten Burgunderwein, goss ihn in einen Becher, tat Nägelein, Zimt und Kandiszucker dazu und füllte auf mit kochendem Wasser. Die Magd klagte leise über die Heimkehr des Herrn, über diese traurige Heimkehr; aber die Frau schwieg. Sie trug den Würzwein hinein zu dem Fremden und bat ihn zu trinken, legte Brot dazu, eine Suppe wurde auch gewärmt. Und der Fremde erholte sich rasch.
Die Frau ging wieder zur Magd hinaus. Sie legten dem Meister einen warmen Krug an die erstarrten Füße und einen kühlen Umschlag auf die Stern und die Magd setzte sich neben das Bett, zu wachen und zu beten, während die Frau dem Gast das Essen gab und ihn berichten ließ.
Demnach waren sie beide unzertrennliche Kameraden gewesen, Soldaten im Zug Napoleons gegen Russland. Der Ältere, Kaspar Mentelin, hatte den Jungen, als er erschöpft am Wegrand zusammengebrochen war, gepflegt, ihm die Füße mit Hirschtalg eingerieben und ihm auch ein Stück weit das Gepäck getragen. Sie hatten sich von Stund an nimmer getrennt. In den eisigen Fluten der Beresina hatten sie einander beigestanden, einander befreit von Ertrinkenden, die sich bald dem einen, bald dem andern würgend an den Hals hängten, und hatten schließlich ihr Leben gerettet. Krank, hungrig, frierend hatten sie sodann sich mit den furchtbaren Flüchtlingsbanden der großen Armee durchgeschlagen bis an die Grenze. In Deutschland wurde Mentelin auf den Tod krank, er brachte ihn in ein Spital, wo er wochenlang lag. Ihn selbst hatte man als Knecht behalten. Schließlich hätten sie sich dann wieder auf die Wanderschaft gemacht. Der Mentelin hab´ heimbegehrt mit allen Fasern, obschon er hinfällig geblieben von seiner Krankheit und nachts, so müd´ er war, nicht einmal schlafen konnte, weil ihn der Husten so plagte. Aber heim hab´ er wollen und müssen! Er hab´ immer von seinem Buben gefaselt, der den Vater doch einmal sehen müsse, er sei ja um seinetwillen in den Krieg gezogen. Alle Vorväter seien im Krieg gewesen, er hab´ die Reihe nicht unterbrechen wollen.
Die Frau brach plötzlich in Tränen aus, warf den Kopf auf die Arme, die bisher ruhig auf der Tischplatte gekreuzt gelegen hatten. Sie weinte sich fast das Herz aus dem Leib. Der Gast wollte sie trösten, aber sie hörte nicht auf seine Worte und spürte auch nicht, dass er ihr über den Kopf streichelte. Er merke dabei erstaunt, wie jung die Frau war und begriff, dass sie deshalb so stürmisch weinen konnte, wie es reifen Frauen nicht mehr gegeben war. Schließlich ließ er ihren Schmerz austoben und setzte sich wieder in seinen Stuhl.
Eine Zeitlang weinte Madame noch, bis sie endlich mit einem harten Seufzer den Kopf hob, mit der hellen Schürze übers Gesicht wischte und danach still vor sich hinschaute. Dann, als die Katze plötzlich vom Knie des Gastes heruntersprang, weil sie draußen die Schritte der Magd gehört haben mochte, hob die Frau den Kopf und sagte leise: „Ich hab ja gar keinen Buben, es war ein Mädchen und das ist gleich gestorben.“
„Oh“, sagte der Fremde, froh über ihre beruhigte Stimme, „da habt Ihr viel Kummer gehabt, Madame.“
Und die Frau, von seiner Teilnahme mild angerührt, erzählte ihr Schicksal. Es war ein kleines Schicksal, am großen Geschehen der Zeit gemessen, aber es griff doch irgendwie in die Speichen des Geschehens ein. Sie war eine Soldatentochter aus dem Elsass, ihre Mutter eine Bauerntochter, im Badischen, am Kaiserstuhl, dem Weingebirge, daheim. Als sie früh Waise geworden, weil ihre Eltern von der Cholera weggerafft wurden, kam Gertrud in das Haus des Tuchmachers Mentelin, ein gutes, wohlhabendes Haus. Sie sollte der Frau an die Hand gehen, die halb gelähmt war von einem Unfall. Es ging ihr gut, sie machte keine Magdarbeiten, sondern saß zumeist mit einer Näherei bei der Frau, wurde im weiträumigen Haus angehalten nach dem Rechten zu sehen, war also gleichsam das wachsame Auge der Kranken. Und der Tuchmachermeister sah, dass da ein feines Ding herumlief gesund und sauber, und kämpfte heiß mit sich gegen seine aufstürmende Neigung. Auch gefiel es ihm, dass sie eines Soldaten Kind war. Er selber wäre einmal gern Soldat geworden, wie seine Vorfahren, aber er hatte seiner Mutter Erbe antreten müssen nach des Vaters frühem Tod und war Tuchmacher geworden. Der Vater war Hauptmann in fremden Diensten gewesen, hatte auf allen Kriegsschauplätzen seiner Zeit gekämpft und zuletzt als Invalide die Tuchmacherin geheiratet; aber er hatte sich nicht im Bürgerlichen zurechtgefunden und war eines Tages selbst in den Tod gegangen.
Die sieche Frau Kaspar Mentelin starb zum Glück, ehe der Mann seiner Leidenschaft zu Getrud nachgegeben hatte.
Kaum drei Monate nach der ersten Frau ließ sich Mentelin, der Vierzigjährige, die zwanzigjährige Gertrud antrauen. In ihrer Angst vor der Fremde, die sie schon vor sich gesehen hatte nach dem Tod der Frau, nahm sie gern den Meister zum Mann und blieb im warmen, guten Haus, das ihr bisher schon lieb wie eine Heimat gewesen.
Der Kaspar war ein merkwürdiger Mensch, rasch im Wesen, unruhig im Geist, dabei fleißig im Geschäft und auch warmherzig in seiner Liebe zu der jungen Frau. Er trieb dabei einen förmlichen Kult mit seinen Vorfahren, kannte die Namen der ganzen Sippe, wusste von den einzelnen, was es überhaupt zu wissen gab und vorab ihr Soldatisches blieb ihm gegenwärtig, es war sein Steckenpferd. Die Geschichte der Kriege kannte er au weitläufige Weise, ihre Feldherren, ihre Strategie, ihre Siege und Niederlagen und er haderte mit seinem Geschick, das ihm verwehrt hatte, Offizier zu werden.
Getrud nahm nicht sehr tiefen Anteil an seinem Kummer, er erschien ihr abseitig und absonderlich, obschon sie selbst Soldatentochter war. Sie mahnte ihn manches Mal, wenn er gar zu hitzig gegen sein Schicksal anlief, doch zufrieden zu sein, weit vom Schuss gäbe alte Mannen, sie wollte ihn doch noch recht lange haben, besonders wenn sie mit Kindern bedacht würden. Sie wisse ja, wie hart es sei, als Waise plötzlich in der Welt zu stehen. Halbwaise sei so gut oder so schlimm wie Wise. Er solle also ruhig froh sein bei seinen Webstühlen und die kriegerischen Weltläufe von weitem betrachten, zumal er ja auch nicht mehr der Jüngste sei.
Da aber begehrte er auf: Der jüngste sei er wohl grad nicht mehr, doch um mit dem großen Napoleon zu ziehen, dünke er sich noch fähig genug und nun erst recht, wenn es wahr sei, dass sie einen Buben erwarten, nun erst recht müsse er Soldat werden, irgendwo eine Feuertaufe bestehen wie die Vorväter alle.
Ob es ein Bub würde, das wisse vorher niemand, meinte beschwichtigend die Frau. Der Mann jedoch in seiner unruhigen Leidenschat träumte nur von einem Jungen.
Damals rüstete Napoleon zum Zug gegen Russland und nach vielen inneren Kämpfen und Überlegungen entschloss sich Kaspar Mentelin unter die Freiwilligen zu gehen. Er verschwand eines Tages ohne Abschied, schrieb der Frau, als er bereits eingekleidet war, einen schönen, um Verzeihung bittenden Brief, worinnen auch Worte der Liebe standen, die er sonst nicht über die Lippen brachte und wünschte der Frau Heil und Segen in ihrer schweren Stunde.
Nicht lange danach brach die Armee auf und Mentelin zog mit, ohne die Frau noch einmal gesehen zu haben. Gertrud war zuerst traurig und zornig zugleich über diesen Streich ihres Mannes, dann aber, als sie sich wider Erwarten leicht und nicht ohne Freude im Haus und Geschäft zurechtfand, merkte sie, dass der Mentelin eigentlich keine Lücke bei ihr hinterließ. Sie dachte ohne Sehnsucht an ihn, auch ohne Sorge, ja, sie gestand es sich auch gelegentlich sauber ein, dass er eher noch ausbleiben könnte als heimzukehren. Sie trug auch ohne Nöte das Kind unterm Herzen, erwartete es in Ruhe und erst zuletzt, als sich die Geburtsstunde näherte, ergriff sie eine einsame Bängnis, die ihr freilich schier den Atem nahm.
Das Mädchen, das dann zur Welt kam, starb rasch wieder hinweg und ein paar Wochen danach war Getrud nichts von der Mutterzeit übriggeblieben als eine traurige Unruhe im Gemüt, ein leises Heimweh nach dem Kind, ein sinnendes Tasten nach dem Leben außerhalb ihrer Umwelt, die ihr auf einmal schal und nüchtern vorkam. Sie wurde launisch gegen ihre Magd, gegen ihre Leute im Geschäft, gegen ihre wenigen Bekannten, gegen sich selbst.
Sie kleidete sich bisweilen am gewöhnlichen Werktag gut an und wanderte in der Stadt umher, mischte sich unter die flanierende Jugend Straßburgs und erwiderte Blicke, die ihr die Männer zuwarfen, weil sie so hübsch und jung war. Drin erschöpfte sich jedoch ihre ganze Kühnheit.
Daheim geriet sie in ein seltsames Grübeln und dumme Träume und war eigentlich in all diesem Tun voller Untreue gegen den fernen Mann, ohne dass sie ihm wirklich etwas angetan hätte. Solche Umtriebe machen launisch. Tagelang geriet sie daher in ein Schaffen voller Rastlosigkeit, ohne eine Minute Zeit für lässiges Dahinsinnen und war dann auch so ehrlich gegen sich selbst, ihr Leben nüchtern zu betrachten und es von Plicht und Dankbarkeit her zuchtvoll anzupacken.
So verstrichen die Monate, viele schwere und grausame Kunden kamen ihr zu Ohr über die Leiden der Versprengten aus der großen Armee. Napoleons Stern sank, die Preußen siegten, die Geschichte Europas hatte einen Gipfel überschritten, die großen Ereignisse schlugen noch stürmische Wellen am Rhein.
Die einsame Frau im Mentelinschen Bürgerhaus wusste nicht viel von den Zusammenhängen, sie dachte ohne Hoffnung noch an den Mann und erst als er nun so unversehens vor der Haustüre stand, merkte sie, dass sie eigentlich nicht mehr auf den Verschollenen gewartet hatte.
Der Fremde hieß Sebald Falkner, eines Rheinschiffers Sohn, aber doch heimatlos, denn der Vater war bei einem Sturm mit seinem Lastschiff umgekommen und die Mutter hatte sich abermals verheiratet mit einem Schiffer und war dadurch zu vielen Kindern gekommen bei dem ihr lieberen Mann. Da löste sich Sebald von zu Hus und stieß zum Kriegsvolk, gleich wo es kämpfen sollte; denn Soldat zu sein, dünkte ihn der schönste Beruf für Heimatlose.
Der Mentelin aber hatte ihm oft gesagt: „Nein, der schönste Dienst für einen Soldaten ist es, für seine Heimat zu kämpfen, für Frau und Kind, für Haus und Herd. Der Heimatlose kämpfe um des Kampfes willen, das hat keine Religion in sich.“
Das hat keine Religion in sich, so hat es der spröde Mentelin auszudrücken verstanden. Und dem jungen Sebald Falkner wurde danach schwer zumute, er trug eine Art Heimwehsucht in sich, die Liebe zu irgendeiner Stelle, wo man immer wieder hinkommen konnte, um Licht, Wärme und Fürsorge zu finden.
Mentelin hat ihm dann in den Stunden überstandener Not gesagt: „Sebald, wo ich daheim bin, sollst du es auch sein, so oft du magst. Du bist mein Herzbruder für alle Zeiten und meine Frau Gertrud wird nicht dagegen sein. Sie hat ein mildes Wesen und ein gutes Herz.“
Nun saß er da in der warmen, hellen Stube. Es duftete nach Lebkuchen. Auf dem Kaminsims stand in zinnernem Krug ein Mistelbüschen mit vielen weißen Beeren, auf der Fensterbank eine Holzschale voller Martinskracherle.
„Wo wollt Ihr Euch hinwenden von hier aus?“ fragte Frau Getrud in das Schweigen, das in die Stube gefallen war. Sie lud ein paar dicke Buchenklötze in den Kamin, denn es war kalt draußen.
„Das weiß ich nicht, Madame.“
„Dann könnt Ihr ruhig hierbleiben, bis Ihr Euch ein wenig erholt habt und auch sehen, ob Mentelin sich bessert. Ich habt es doch um uns verdient, hier ein Heim zu haben über Weihnacht – und so lang Ihr wollt.“
Sebald verneigte sich stumm auf seinem Platz. Ihm zitterte das Kinn, er hatte keine Gewalt über seine Sprache.
„Ihr wolltet doch nur eine Nacht bleiben, das würde Mentelin nicht dulden“, fügte sie hastig hinzu.
„Wohl, ja, ich bleibe gern“, stotterte er.
Der Kaspar Mentelin erholte sich bald ein wenig. Seufzend schlug er noch in dieser Nacht gegen Morgen die Augen auf, sah Getrud, welche die Magd abgelöst hatte, am Bett sitzen, lächelte mühsam, streckte sich in der Weiche und Wärme seines Bettes und fiel in Schlaf.
Gertrud dachte unablässig an den fremden Gast. Sie sah dem abgehärmten Kranken ins Gesicht und dachte an den Falkner. Sie wurde traurig und erregt. Sie war einsamer und hilfloser als je zuvor.
So gingen Tage herum und lange, bange Nächte, in denen der Kranke oft fieberte, nach Sebald rief, nach Getrud schrie. Sie standen beide an seinem Bett, schauten sich ernst und traurig an.
Die Magd, die sehr an dem Meister hing, sagte eines Morgens, am Morgen vor der Heiligen Nacht, zur Frau: „Heilewog müsst man holen. Dem Meister auf die Stirn geben, die Lippen netzen. Es hat Kraft, das Wasser in dieser Nacht. Unbeschauen müsst Ihr´s holen, Frau.“
Die Magd sprach dringlich, wie eine Beschwörung. Die Frau meinte, das sei Aberglaube.
Je näher aber die Heilige Nacht kam, um so tiefer bohrte sich in das Gemüt der Frau die Frage: Sollst du es nicht holen, das gesegnete Wasser? Du willst wohl nicht! Du willst ihm nicht helfen, darum sagst du, es sei Aberglauben. Heilewog hast du doch auch für dich geholt, für das Kind unterm Herzen, hast den Leib genetzt damit, gut sei´s für die Wehen. Und jetzt Aberglauben?
So kämpfte es in ihr. So kämpften Leidenschaft und Liebe in ihr. Sie war voller Geflüster Gut gegen Böse, Gewissen gegen heimliche Wünsche, Barmherzigkeit gegen Aufbegehren, Engel gegen Teuel.
Sebald Falkner saß in der Stube drunten und schnitzte an einem Bierbecher herum mit Bildern aus dem Krieg. Er war blass und still, fast finster geworden. Nach der Weihnacht würde er gehen, gehen müssen um des Freundes willen und um der geliebten Frau die Ruhe wiederzugeben. Schweigend gehen, ohne sich zu verraten.
Nachts, als er nicht schlafen konnte, schlich er leise hinaus auf den Platz, trat in eine Gasse und schaute unverwandt zum Haus hinüber wie ein Träumer. Da huschte, Schlag zwölf Uhr, Madame aus der Haustür. Er wollte zu ihr eilen, glücklich wähnend, sie habe ihn entdeckt und käme zu ihm; aber seine Füße waren wie gebannt. Die Frau schritt langsam zum Brunnen, er sah sie gut in der lichten Nacht, senkte den Krug hinab, blieb eine Weile stehen, wandte sich und ging langsam wieder ins Haus. Heilewog hat sie geholt. Das Wunderwasser, das heilte in dieser Nacht. Heilewog oder Heiligwog nannten es die Leute seit alters her.
Getrud trug ohne Säumen das Wasser in die Krankenstube und netzte damit dem Kranken Stirn und Mund.
Da trat der Gast herein, mit großem, stillem Blick sah er sie an. Nun entschied sie das Schicksal. Er wusste es, ohne dass er ihren Kampf geahnt hatte.
Der Kranke rührte sich, schlug die Augen auf, war hellwach.
„Ihr beide“, sagte er leise, „Ihr gehört doch zusammen. Ich habe dir die Heimat versprochen, Sebald, Kriegskamerad. Nimm sie dir mit allem. Ich brauch sie nicht mehr.“
„Mann, Mentelin“, schluchzte die Frau plötzlich auf, „Ihr werdet gesund, ich hab Euch das Wasser geholt.“
„Heiligwog, Frau, danke, es hat mich noch einmal geweckt, um euch zu sehen und zu segnen. Es ist alles gut.“
„Heiligwog, Gottesgob, Glück ins Haus, Unglück raus“, murmelte die Magd, nahm der Frau den Krug aus den bebenden Händen.
Doch Gertrud brach zusammen.
Die Entscheidung, um die es in ihr so heftig gekämpft hatte, musste an ihrem Innersten allzu grausam gerüttelt haben. Sie hatte sich zum Leben des Mannes entschieden und das heilende Wasser geholt, ihn zu retten. Er aber nahm es, um alle Last von ihr zu nehmen, die Last der Erkenntnis, die Last des verschatteten Gemütes.
Indessen – sie war eine gesunde Frau, jung und biegsam noch. Sie war rein im Gewissen geblieben. Sebald Falkner wurde ihr Mann. Heilewog holte sie in jeder Weihnacht, jahrelang holte sie es für Kind um Kind mit reinem Gewissen.