Heimatgassen um Weihnacht

Heimatgassem um Weihnacht – Erzählung von Franz Lüdtke

Immer spüre ich noch, über die vielen Jahrzehnte hinweg, den Wintersturm, der über die Weichsel fuhr. Es war der Wind aus dem Osten, aus Rußland. Der „polnische Wind“, wie wir ihn auch nannten. Er brachte den harten Frost, dass der Brahefluß, der Hafen, der Bromberger Kanal und selbst der mächtige Strom zu Eis gefroren und die Schollen sich stauten zu kalten, weißen Gebirgen. Dann kam der Schnee. Ja, das war doch noch ein Schneien! Erst das Wirbeln, das wilde Tanzen und Drehen im pfeifenden Ost, aber dann das Fallen, das Gleiten und Niedersinken, unaufhörlich, bis die dicke Schneedecke alles Land verhüllte, Wälder und Felder, über die nur mit heiserem Schreien die großen Krähenschwärme ins Grau des sinkenden Abends stießen, auch unaufhörlich. War alles Leben tot? Wenn wir über die Eisfläche tasteten, irgend einem Ziele zu, dann hörten wir tief unten das Rinnen der Flut, geheimnisvoll und schreckhaft. Dann kehrten wir um. Es war nicht recht geheuer in dieser Wüste von Eis und Schnee. Wir kehrten um und heim – denn nun, wenn es dunkel wurde, lockte doch die Stube zu Hause mit ihrer Wärme und ihrem milden, traulichen Lampenlicht.
Immer spüre ich noch den Duft der Bratäpfel in der Ofenröhre, die unsere Mutter für ihren verfrorenen, hungrigen Jungen bereit hielt. Natürlich, einer der dicken Wollhandschuhe war mindestens verloren gegangen, oder der dicke Schal, und Mutter war recht bekümmert, denn nun hieß es wieder stricken und stricken. Doch sie sagte nicht viel, denn der Vater durfte es nicht wissen, und so waren Mutter und Sohn trotz aller meiner kleinen Untaten heimliche Verschworene. Die eisstarrenden, frostgeröteten Finger freilich, die spüre ich auch noch. Aber was war da zu machen!
Und immer spüre ich noch in der Zeit um Weihnachten den Geruch des Pfefferkuchens, des Marzipans, der guten, nahrhaften und so köstlichen Stollen, die Mutter buk. Der Knaster aus Vaters langer Pfeife konnte diesen herrlichen Duft nicht verdrängen. Immer ist mir´s um Weihnachten, als müsse jedes Haus von solchem Duft erfüllt sein, dazu vom Geleucht der Kerzen und vom Knistern der Holzscheite im Ofen, die so seltsame Lieder sangen.
Immer auch sehe ich noch die Gassen meiner Heimatstadt, die Buden des Weihnachtsmarktes, die Wunder dieser wahrlich „hohen Zeit“. Wir stapften durch den tiefen Schnee, bis uns die Lichter des Weihnachtsmarktes umfingen, ds bunte Treiben der festlich gestimmten Menschen, der ganze Zauber von Tannenmäumen und Lebkuchen, der Lärm der Brummteufel und Knarren, die Erwartung von tausend geträumten und geschauten Herrlichkeiten ringst um uns her. Die Schule, ach, die war vergessen, die Ferien, die köstlichsten Ferien des ganzen Jahres waren ja da, und das schönste aller Feste hielt seinen Einzug. Und immer noch brauste über die Weichsel der Sturm, der Sturm aus dem osten, der Sturm unserer Heimat, und immer noch schimmerte daheim das friedvolle Licht der Petroleumlampe, das in die Winterabende unserer Jugend schien…
Viel Sturm ist seither über die Welt gefahren, viel Not über das Land an Weichsel und Warthe, an der Brahe und an dem Kanal, den der lte ritz einst hier graben ließ. Es kam der polnische Haß, es kam die fremde Gewalt, es kam der Blutsonntag meiner Bromberger Vaterstadt. Nun aber ist dies deutsche Land wirklich deutlich, nun rieseln die Flocken wieder über deutsche Erde, nun rauscht der Strom durch deutsche Gaue; und nun dürfen die Menschen spüren, was ich durch alle diese Jahrzehnte gespürt: den Duft meiner Heimat, das Winterglück des Ostens, ds Wunder der Heimatgassen zur weihnachtlichen Zeit…