Helenchen und der Kettenhund

Helenchen und der Kettenhund – eine Erzählung von Heinrich Seidel.

Im Sommer wurden von Onkel Nebendahl auf sein Gut eingeladen, das er gepachtet hatte. Er hatte einen ungemein bösen Kettenhund namens „Wasser“, er einzig und llein vor dem Onkel und dem Mann, der die Kühe fütterte und auch ihn mit Nahrung versorgte, Achtung hatte. Die übrige Menschheit ohne alle Ausnahme biß er in die Waden, wenn er ihrer habhaft werden konnte. Diese böen Naturanlagen hatten ihm die dauernde Anstellung als Kettenhund eingetragen. Die ewige Gefangenschaft, die solcher Beruf mit sich brachte, hatte sein Gemüt nur noch mehr verdüstert. So lebte er denn in seiner Hütte einsam als ein Sonderling und Menschenfeind.
Er kannte keine andere Freude, als, sobald ein fremder Mensch den Hof betrat, an der rasselnden Kette, einem Teufel gleich, herumzutoben und zu rasen und seinem sinnlosen Zorn und Ingrimm durch ein wütendes Gebell und durch Beißen in die Steine Luft zu machen. Deshalb war ings um seine Hütte ein tiefausgetretener Kreis beschrieben, und in diesen wagte sich weder Mensch noch Tier, mit Ausnahme der Sperlinge, die vor nichts in der Welt Achtung haben.
Nun ward am zweiten Tag unserer Anwesenheit auf dem Gute bald nach Tisch bemerkt, daß unsere Helene verschwunden war. Man suchte und rief sie im Hause und im Garten, alles es kam keine Antwort. Endlich sah jemand zwei zierliche Kinderstiefel neben dem Kopfe des bösen Kettenhundes, der scheinbar tückisch brütend in seiner Hütte lag. Ein tödlicher Schreck befiel uns alle, als dies bekannt wurde. Meine Frau ward leichenblaß, und selbst der Onkel verfärbte sich. Er ging allein auf die Hütte zu, indem er uns anwies, im Hintergrunde zurückzubleiben. Der Hund richtete sich auf, als er seinen Herrn sah, fletschte die Zähne und knurrte bedenklich. in iesem Augenblick vermochte sich meine Frau nicht mehr zu halten und rief mit lauter Stimme: „Helene, Helene!“
Da rappelte sich in der Hütte etwas empor, und neben dem zottigen Kopfe des Hundes erschien das rosige Antlitz des kleines Mädchens. Es rieb sich anfangs ein wenig verschlafen die Augen und sah dann, vor Glück strahlend, auf uns hin.
Die Mutter wagte nicht ehr zu rufen, sondern winkte nur eindringlich mit der Hand. Da sagte die kleine Helene zu ihrem Nachbarn: „Adjö, Hund, nun muß ich wieder zu meiner Mama“, und dabei tätschelte sie ihm den zottigen Kopf, während der Hund gerührt winselte, ihr die Hand zu lecken versuchte und mit dem Schwanz wedelte, wie man es an dem Klopfen gegen die Wand der Hütte vernehmen konnte. Dann, als sie ruhig und seelenvergnügt zu uns ging, folgte ihr der Hund bis an den Kreis, der die Grenzen seines Reiches bezeichnete, und winselte ihr nach.
Nachher erzählte Helene: „Ich war so traurig über den Hund, daß er immer so allein ist und an der Kette, und daß er gar nicht rumspringen kann wie Karo und Fips und Bergmann. Und da bin ich hingegangen und hab ihm viele schöne Blumen gepflückt. Die mag er aber gar nicht leiden und hat sich gar nicht gefreut. Und da war eine Wasserschale ganz leer, und er hatte immer die Zunge raus und den Mund auf und machte immer so.“ Sie ahmte das Jichern eines Hundes nach. „Und dann bin ich an den Trog gegangen und hab ihm Wasser in seine Schale gefüllt. Und das hat er all ausgetrunken und seine Zunge wie einen Löffel dabei gemacht, und er hat im schlapp, schlapp, schlapp gesagt. Und a sind wir beide in sein Haus gegangen, und da hab ich ihm die Geschichte von dem Wauwau und dem Mählamm erzählt. Die mocht er wohl gern leiden und hat immer mit dem Schwanz an seine Hütte geklopft. Und dann haben wir beide ein bißchen geschlafen. Und dann hat mich Mama gerufen. Und nun ist die Geschichte aus.“

Helenchen und der Kettenhund aus dem Buch:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952


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