Im Hinterwald – Kapitel 1: Wie´s mit der Schule war – [Online – lesen]

Wie´s mit der Schule war, Kapitel 1 aus „Im Hinterwald“ von Johanna Spyri

Kapitel 1 – Wie´s mit der Schule war

Hinterwald heißt ein kleines Dorf in der Schweiz, dessen Häuser verstreut an dem Weg liegen, der zur Passhöhe hinaufführt. Da droben weht nicht nur ein rauher Wind, da waren auch die Sitten und Gebräuche der armen Holzfällerfamilien recht rauh. Zum Glück hat sich in den letzten Jahrzehnten in Hinterwald vieles geändert. Die Armut ist zwar noch keinem ausgesprochenen Wohlstand gewichen, aber die Leute haben ihr Auskommen, seit dieser stille Ort fern von den lauten Städten im Sommer gern von Menschen aufgesucht wird, die ihre Ruhe haben wollen und nichts weiter. Selbst im Winter kommen Gäste, meist junge Leute, denen der meterhohe Schnee gerade recht zum Skifahren ist.

Die erfreuliche Wende im Leben der Hinterwäldler brachte die erste Lehrerin, die vor vielen Jahren ins Dorf kam und schon längst pensioniert ist. Sie hat den Dorfbewohnern nicht nur das Schreiben und das Lesen beigebracht, sondern auch Berichte über die Zustände des Dorfes verfasst, die an hohe Regierungsstellen weitergeleitet wurden. Sie entdeckte auch den bekannten Maler Chel, dessen junge Freunde später so gern das stille Bergdorf aufsuchten und in der Stadt von den Vorzügen der Einsamkeit dort droben erzählten, bis auch andere in den abgelegenen Ort kamen.

Wenn es heute manchmal noch heißt, jemand benähme sich wie ein Hinterwäldler, so ist diese Redensart eigentlich nicht berechtigt. Die Buben und Mädchen sind hier nicht schlimmer als anderswo, und von den rauhen Sitten, die einstmals herrschten, wissen nur noch die ältesten Einwohner zu erzählen. Und niemanden gibt es hier, der sich die alten Zeiten zurückwünscht. Nur die Kinder denken bisweilen, dass es vielleicht gar nicht so übel war, als die Buben und Mädchen im Sommer nicht zur Schule gehen konnten, weil sie daheim helfen mussten, und im Winter oftmals auch nicht, weil der Schnee zu hoch lag, um durchzukommen. Es gab sogar einmal eine Zeit, als das Dorf überhaupt keinen Lehrer hatte, weil keiner Lust verspürte, unter diesen Umständen zu unterrichten. Doch wie wenig schön diese Zustände in Wirklichkeit waren, erzählt diese Geschichte:

Zuallererst gab es in Hinterwald überhaupt keine eigene Schule. Dann aber beschlossen die Angehörigen des Gemeinderates, eine Schule zu errichten, denn es brachte allerlei Unannehmlichkeiten mit sich, wenn im Dorf niemand recht lesen und schreiben konnte. Groß war die Schulstube in den neuen Gebäude ja nicht, die Bänke mussten eng zusammengerückt werden, aber dadurch war es im Winter um so wärmer. Über der Schulstube war eine Wohnung für den Lehrer eingerichtet. Unter der Küche dieser Wohnung befand sich ein Raum, den die Väter der Gemeinde einstimmig für nötig gehalten hatten. Der hatte keine Fenster und nur einen Lehmboden, war stockfinster und ungemütlich und sollte dazu dienen, widerspenstige Buben aufzunehmen. Ohne eine solche Strafkammer wären Buben wie die ihren nicht in Ordnung zu halten, – meinten die Väter.

Eines Tages saßen in der Schulstube zusammen mit dem Gemeindevorsteher sechs Männer, denn der Raum diente nicht nur Unterrichtszwecken, – er war auch für Versammlungen aller Art geeignet, zumal meist gar ein Unterricht stattfand. Die Besprechung betraf diesmal die Schule selbst, denn der alte Lehrer war gestorben. Waren die Kinder von Hinterwald schon immer ein verwildertes Völklein gewesen, so bot jetzt die langandauernde Ferienzeit erst recht Gelegenheit für mancherlei Unarten. Nun riefen Väter und Mütter immer dringender nach einem neuen Lehrer.

Aber alles Rufen blieb ohne Erfolg. Es war, als gäbe es keine Lehrer mehr. Natürlich gab es welche, aber wenn einer hörte, die Stelle in Hinterwald sei zu besetzen, so sagte er, dass er keine lust habe, unter die Wilden zu gehen.

Endlich, als man die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte und zu dem Entschluss gekommen war, die Kinder wieder in das einige Kilometer entfernt gelegene größere Dorf zu schicken, meldete sich eine Lehrerin. Aber von einer Frau als Schulmeisterin wollten die Väter auch nichts wissen. Der Gemeindevorsteher sagte: „Was soll ein Weiblein mit Buben anfangen, die so sind wie die hiesigen, und mit Mädeln, die sich betragen wie anderswo die Buben.“

„Eine Frau ist besser als gar kein Lehrer“, meinte der Ober-Metzler, der Nachbar des Gemeindevorstehers. Und der Unter-Metzler fügte hinzu: „Lesen und schreiben wird sie ja können, das ist die Hauptsache.“

„Es ist ja auch noch das Strafloch da, um mit den Kindern fertig zu werden“, erinnerte der Metzler vor dem Bach. Er hatte selbst drei Buben, die zu den wildesten gehörten, und das Strafloch schien ihm an der Schule das beste zu sein.

„Man kann es ja probieren“, einigten sich die Väter schließlich.

Dann war in der Gemeinderatssitzung noch etwas zu klären: Es handelte sich um die Unterbringung des Buben von Hecken-Hannes. Wo man in der Gemeinde auch angefragt hatte, überall erhielt man dieselbe Antwort. Den Buben wollte keiner aufnehmen, nicht einmal gegen Unterhaltsgeld. Die einen sagten, ihre Kinder seien schon ungezogen genug, sie wollten nicht einen im Haus haben, der sie noch schlimmer mache. Die anderen meinten, mit dem sei man keinen Augenblick sicher, dass er einem nicht das Haus über dem Kopf anzünde. Es war bekannt, dass der Bub nicht nur tagelang, sondern auch ganze Nächte verschwand. Kein Mensch wusste, wohin. Manche waren der Ansicht, dieser junge sei noch mehr zu fürchten als der Alte.

„Wenn das so ist“, sagte der Gemeindevorsteher Wächter, „so bleibt nur eins übrig: der Bub erhält sein Essen einen Tag lang da und einen anderen dort. Und wo er isst, hilft er bei der Arbeit.“

„Wo soll der Bub den schlafen?“ fragte der Unter-Metzler ein wenig knurrend, denn der Vorschlag gefiel ihm nicht.

Das war eine schwierige Frage. Man konnte demjenigen, der den Buben zum Essen hatte, nicht zumuten, für eine Nacht ein Lager zurechtzumachen. Da kam dem Unter-Metzler ein Gedanke. Er sagte, über seinem Geißenstall sei eine gute Diele, auf der er die Streu für seine Tiere untergebracht habe. Da aber nie viel auf einmal davon da sei, könne man daneben gut ein Lager für den Buben einrichten. Im Winter sei es schön warm dort von den Geißen her, und im Sommer sei es luftig, wenn man alle Löcher aufmache, die in der kalten Zeit mit Stroh zugestopft seien.

Die Männer waren sich sogleich einig, diesen Vorschlag anzunehmen. Denn den Buben wollten sie alle unter Aufsicht wissen. Vor dessen Vater hatte man sich genug gefürchtet; jetzt wollten alle ihre Ruhe haben.

In den Acht Tagen, seit man den Hecken-Hannes begraben hatte, rechneten die Bewohnern von Hinterwald nicht mehr jeden Tag mit einer Feuersbrunst oder einer schrecklichen Gewalttat. Dabei hatte der Hecken-Hannes diese Dinge nie ausgeführt, aber er warf jedem solche Drohungen entgegen, mit dem er Streit hatte, und den hatte er immerfort mit jedermann. Wovon er lebte, wusste man nicht, denn er ging keiner Arbeit nach. Aber keiner wagte, ihn zur Rede zu stellen. Erst bei seinem Tode war herausgekommen, was der Hecken-Hannes trieb, denn er war von einem Grenzwächter auf Schmuggelwegen erschossen worden.

Nur an die blasse, stille Frau des Hecken-Hannes erinnerte man sich im Dorf noch gern. Sie war gestorben, als der Bub noch keine fünf Jahre alt war. Die Frau hatte nie geklagt, und doch wusste jeder, dass sie viel zu klagen gehabt hätte. Sie war fromm und rechtschaffen gewesen und hätte bestimmt aus ihrem Buben noch einen ordentlichen Menschen gemacht.

Seit dem Tode der Mutter hatte sich keiner mehr um das Kind gekümmert, denn der Vater duldete es nicht. Wie er Bub ohne jede Pflege heranwachsen und trotzdem gesund sein konnte, begriff niemand im Dorf, wo doch die, die arbeiteten, schon nicht recht satt wurden.

(Quelle: In Hinterwald von Johanna Spyri, Neuer Jugendschriften-Verlag, 1962)


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Inhaltsverzeichnis: Im Hinterwald

Kapitel 1: Wie´s mit der Schule war
Kapitel 2: Die erste Lehrerin
Kapitel 3: Der Angeklagte
Kapitel 4: Noch kein Licht
Kapitel 5: Die Entdeckung
Kapitel 6: Aufruhr und Frieden in Hinterwald