Peter Klaus, der Ziegenhirt – Sage nach Otmar.
Peter Klaus, der Ziegenhirt aus Sittendorf, der seine Heerde gern recht hoch am Kyffhäufer hinauftrieb, pflegte sie des Abends auf einem von altem Gemäuer umschlossenen Platze ausruhen zu lassen, wo er die Musterung über sie hielt. Seit einigen Tagen hatte er bemerkt, daß eine seiner schönsten Ziegen bald, nachdem er auf diesen Platz gekommen war, verschwand und erst spät der Herde nachkam. Er beobachtete sie genauer und sah, daß sie durch eine Spalte des Gemäuers hindurch schlüpfte. Er kroch ihr nach und traf sie in einer Höhlung, wo sie begierig Haferkörner auflas, die von der Decke herabfielen. Er blickte in die Höhe, schüttelte den Kopf über den Haferregen, konnte aber nichts weiter entdecken. Da hörte er plötzlich über sich das Wiehern und Stampfen mutiger Hengste, deren Krippen der Hafer entfallen mußte. Plötzlich kam ein Knappe und winkte ihm zu folgen. Der Hirt stieg einige Stufen in die Höhe und kam über einen ummauerten Hof an eine Vertiefung, die von hohen Felsenwänden umschlossen war und in die durch überhangende, dichtbelaubte Zweige einiges Dämmerlicht fiel. Hier fand er auf einem Rasenplatze 12 ernste Ritter, deren keiner ein Wort sprach, beim Kegelspiel. Man winkte ihm die Kegel aufzustellen. Peter Klaus gehorchte mit schlotternden Knieen, indem er nicht ohne Angst von Zeit zu Zeit auf die langen Bärte und die seltsam aufgeschlitzten Wämser der ernsten Ritter blickte. Allmählich wurde er dreister, überschaute alles mit festerem Auge und wagte es endlich aus einer Kanne zu trinken, die neben ihm hingestellt war und aus der ihm der herrlichste Wein entgegenduftete. Er wurde wie neubelebt, und, so oft er Ermüdung spürte, schöpfte er aus dem nieversiegenden Trunke neue Kräfte. Endlich übermannte ihn der Schlaf. Als er er wachte, fand er sich auf dem umschlossenen grünen Platze wieder, auf welchem er seine Ziegen gewöhnlich ausruhen ließ, manches aber schien ihm daselbst anders wie sonst. Er rieb sich die Augen, konnte aber nirgends Hund und Ziegen entdecken und statt derselben gewahrte er im Umkreise auffallend hohes Gras, Bäume und Sträuche, die er sonst nie bemerkt hatte. Kopfschüttelnd ging er weiter und suchte auf allen Wegen und Stegen, die er täglich mit seiner Heerde zu durchwandern pflegte, aber nirgends fand er eine Spur von seinen Ziegen. Unter ihm lag Sittendorf und er stieg endlich hinab, um dort nach seinen Tieren zu fragen. Leute, die ihm im Dorfe begegneten, waren ihm unbekannt und anders gekleidet, auch sprachen sie nicht wie seine Bekannten; alle starrten ihn an, wenn er nach seinen Ziegen fragte und faßten sich an das Kinn. Als er fast unwillkürlich dasselbe that, fand er, seinen Bart einen ganzen Fuß länger. Die ganze Welt kam ihm wie verzaubert vor und doch erkannte er den Berg, den er herabgestiegen war, als den Kyffhäuser, auch waren ihm die Häuser mit ihren Gärten und Vorplätzen wohl bekannt. Er suchte seine Hütte auf; dieselbe war sehr verfallen und vor ihr lag ein fremder Hirtenknabe mit zerrissenem Kittel, neben ihm ein abgezehrter Hund. In der Hütte fand er alles wüst und verödet, vergeblich rief er Weib und Kind, und als ihm niemand antwortete, wankte er wieder zur Hinterthür hinaus. Bald umdrängten den suchenden Mann mit dem langen, eisgrauen Barte Weiber und Kinder und forschten, was er suchte. Vor seinem eignen Hause nach seiner Frau und seinen Kindern oder gar nach sich selbst zu fragen, schien ihm so sonderbar, daß er, um die Fragenden los zu werden, die nächsten Namen nannte, die ihm einfielen. „Kurt Steffen!“ sagte er also. Die meisten Leute schwiegen und sahen ihn verwundert an, endlich aber sprach eine bejahrte Frau: „Der wohnt seit 12 Jahren unter der Sachsenburg, dahin werdet ihr heute nicht kommen.“ „Velten Meier!“ sagte er weiter. „Gott hab‘ ihn selig!“ — sagte ein altes Mütterchen an der Krücke — „der liegt schon seit 15 Jahren in dem Hause, das man nimmer verläßt!“ Der Hirt erschrak, und als er ringsum seine alt gewordenen Nachbarinnen erkannte, verging ihm die Lust weiter zu fragen. Da drängte sich plötzlich durch die Menge ein junges, flinkes Weib mit einem einjährigen Knaben auf dem Arme und einem vierjährigen Mädchen an der Hand, die alle drei seiner Frau wie aus den Augen geschnitten waren. „Wie heißt ihr?“ fragte er staunend die Frau. „Maria.“ „Und euer Vater?“ „Gott hab‘ ihn selig! Peter Klaus; es sind nun zwanzig Jahre her, daß wir ihn Tag und Nacht auf dem Kyffhäuser suchten, seine Heerde kam ohne ihn zurück; ich war damals sieben Jahr alt. Länger konnte sich der Ziegenhirt nicht mehr halten. „Jch bin Peter Klaus und kein anderer!“ — rief er — und nahm seiner Tochter den Knaben vom Arm. Alle standen wie versteinert, bis endlich eine Stimme um die andere ausrief: „Ja, das ist Peter Klaus! Willkommen, Nachbar, nach zwanzig Jahren!“ —
Quelle: Deutscher Sagenschatz, herausgegeben von Dr. J. W. Otto Richter, Verlag von Otto Mähnert, Eisleben, 1877