Sommernacht

Sommernacht – Gedicht von Gottfried Keller

Es wallt das Korn weit in die Runde,
und wie ein Meer dehnt es sich aus;
doch liegt auf seinem stillen Grunde
nicht Seegewürm noch andrer Graus;
da träumen Blumen nur von Kränzen
und trinken der Gestirne Schein,
o goldnes Meer, dein friedlich Glänzen
saugt meine Seele gierig ein!

In meiner Heimat grünen Talen,
da herrscht ein alter, schöner Brauch:
Wann hell die Sommersterne strahlen,
der Glühwurm schimmert durch den Strauch,
dann geht ein Flüstern und ein Winken,
das sich dem Ährenfelde naht,
dann geht ein nächtlich Silberblinken
von Sicheln durch die goldne Saat.

Das sind die Burschen, jung und wacker,
die sammeln sich im Feld zuhauf
und suchen den gereiften Acker
der Witwe oder Waise auf,
die keines Vaters, keiner Brüder
und keines Knechtes Hilfe weiß,
ihr schneiden sie den Segen nieder,
die reinste Lust ziert ihren Fleiß.

Schon sind die Garben fest gebunden
und rasch in einen Ring gebracht;
wie lieblich flohn die kurzen Stunden,
es war ein Spiel in kühler Nacht!
Nun wird geschärmt und hell gesungen
im Garbenkreis, bis Morgenluft
die nimmermüden braunen Jungen
zur eignen schweren Arbeit ruft.

(Quelle: Kompaß – ein Lesewerk, Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1965)