Spitzenchristel

Spitzenchristel ist eine Erzählung von Robert Reinick.

Im zweiten Stockwerk eines Hauses an der Bürgerwiese in Dresden hatte den Sommer über eine wohlhabende Familie aus Hamburg, eine Mutter mit mehreren Töchtern und einem fünfjährigen Knaben, gewohnt. Sie war eben im Begriff, eine weitere Reise anzutreten. Schon hatte man in der Wohnung alles aus den Schränken geräumt und einen Teil der Sachen bereits in Koffer gepackt, während noch vieles ungeordnet umherlag. Morgen ganz in der Frühe sollte es fortgehen.

Der Abend fing an zu dämmern, als an der Glocke der Wohnung leise geklingelt wurde. „Gewiss wieder ein Bettler!“ sagte die Frau. „Traurige Zeiten, wo die Not täglich so viele Leute zwingt, auf solche Weise ihr kümmerlich Brot zusammenzuholen!“ – „Lass mich aufmachen, Mutter!“ bat der Knabe. Seine größte Freude war es, Armen etwas geben zu können. Er öffnete die Tür.

Draußen stand ein ärmlich aber reinlich gekleidetes Mädchen von etwa zehn Jahren, es hatte eine Pappschachtel in der Hand. – „Kaufen Sie Spitzen?“ fragte das Mädchen mit schüchternem Ton. „Wir brauchen keine,“ rief aus der Stube die Frau, die es durch die offenstehende Tür gehört hatte. Aber das arme Kind ließ sich nicht abweisen. „Ach, nehmen Sie mir doch was ab, wenn´s auch nicht für Geld ist, wenn es nur alte Kleider sind, die Sie mir für die Spitzen geben. – Ich hab heute noch nichts verdient.“

„So geh doch! geh!“ schalt das Dienstmädchen, die dazu kam. „Wir brauchen nichts, du hast es ja gehört!“ Mit diesen Worten wollte sie die Tür zuwerfen. Aber das Kind fing an bitterlich zu weinen, und erst, als es zu wiederholten Malen gefragt worden, warum es denn gar so kläglich tue, stotterte es die Worte heraus: „Meine Mutter ist so krank und kann nichts verdienen und wenn ich keinen Pfennig nach Hause bringe, was soll sie da anfangen?“

Der Dame tat das Kind leid, sie ließ es in die Küche treten und gab ihm zu essen. Anfangs war es scheu und zaghaft; erst als jene ihm einiges von seiner Ware abgekauft und ihm herzlich und freundlich zugeredet, bekam es Vertrauen. So ward es auch nach und nach immer dreister und offener, und der natürliche, unbefangene Ausdruck einer kindlichen Heiterkeit kehrte in sein klares, blühendes Gesicht zurück, dem die Sorge um die Mutter und selbst Armut und Hunger bis jetzt ihre traurigen Spuren noch nicht hatten ausdrücken können.

Zuletzt löste sich denn auch die sonst so lebendige Zunge des Kindes, und nun erzählte es, wie es vor vier Tagen nach der Stadt gekommen sei aus seinem Dorfe im Erzgebirge, wo die Leute fast alle mit Weben und Spitzenklöppeln sich ernährten. Früher hätten sie damit ihr gutes Brot verdient, jetzt aber verarmten die meisten beim besten Willen zu arbeiten. Das käme aber daher, weil die Städter jetzt wenig Spitzen mehr kaufen wollten. Nun sei ihr Vater gestorben, ihre Mutter noch angegriffen von einer schweren Krankheit, wisse kaum, wo sie ihr täglich Brot für sich und ihre zwei Kinder hernehmen solle, denn sie habe auch noch ein jüngeres Brüderchen daheim. – Auch erwähnte sie, dass sie schon am Sonntage hier gewesen wäre, sie hätte aber niemand im Hause angetroffen. „Nehmen Sie mir´s doch nur ja nicht übel, wenn ich so zudringlich bin,“ schloss das Mädchen, „ich würd´ es nicht tun, wär´s nicht um der Mutter willen!“

Nun erst vermochte Spitzenchristel – denn so wurde das Kind, wie es selbst sagte, überall genannt – sich an Speise und Trank zu sättigen, und als ihr gar die Leute versprachen, noch manche alte Kleidungsstücke für sie und ihre Mutter auszusuchen (sie solle nur bis morgen um sechs Uhr in der Frühe die Sachen abholen, da war sie überglücklich. Zum Abschied reichte sie jeden von der Familie ihre derbe, runde Hand, sprang dann flink wie ein Reh die Treppe hinunter und guckte im Fortgehen noch vom Hofe lachend nach den Fenstern der Wohnung hinauf, wo der Knabe ihr lustig nachrief: „Ade, Spitzenchristel! Komm aber nicht zu spät, denn wir reisen um sechs Uhr fort!“

Am Morgen des nächsten Tages, es mochte halb sieben Uhr sein, kam Spitzenchristel in voller Eile die Bürgerwiese dahergelaufen, aber die Wohnung der Hamburger Familie, wo sie die ihr versprochenen alten Kleider abholen wollte, fand sie verschlossen. Es ahnte ihr schon, sie würde zu spät gekommen sein.

Das Kind hatte nämlich bei den Leuten, die ihm für die Nacht eine Schlafstelle gewährt, die Pforte verriegelt gefunden und nicht gewagt, die kränkliche Wirtin zu wecken.

Noch gab Christel aber nicht alle Hoffnung auf, wenn auch die Familie abgereist war. Erst pochte sie an die Tür, – drinnen war alles still. – Sie legte das Ohr an die Tür, da klapperte etwas! – Es mochte wohl ein offenstehendes Fenster gewesen sein, – aber Christel meinte, es könnte ja doch noch jemand anders in der Wohnung sei, der ihr die alten Kleider einhändigte. Sie klingelte, erst leise, dann stärker. Sie achtete gar nicht darauf, als eine alte Frau hinter ihr die Treppe hinunterging und sie längere Zeit von weitem beobachtete.

Endlich versuchte die Kleine durchs Schlüsselloch in die verschlossene Wohnung zu sehen. Da erblickte sie ein versiegeltes Zettelchen, das im Schlüsselloch steckte. Erst nach langem Zögern wagte sie, dasselbe herauszunehmen. Sie las die Aufschrift: „An Spitzenchristel.“ – Erstaunt und hocherfreut durchflogen ihre Blicke den Inhalt. In dem Briefe ward ihr von der bereits abgereisten Hamburger Dame ein verborgener Winkel unter einer Treppe im Keller bezeichnet, wo ein Bündel mit alten Sachen für sie bereit liege. In der Eile der Abreise hatte man dieses Mittel gewählt, um der verspäteten Christel die Sachen zukommen zu lassen. Zwar wäre noch ein andrer Weg dazu möglich gewesen: man hätte das Bündel dem Hausmann mit dem Auftrag übergeben können, dass er es dem Kinde, wenn es käme, einhändigen möge. Der Mann war aber als ein neidischer Geizhals bekannt und man fürchtete, er würde den Auftrag vielleicht nicht ausführen.

Dieser Hausmann war ein alter Flickschneider, der mit seiner zänkischen Frau im Nebengebäude wohnte und dessen Amt es war, die Türen des Hauses zu öffnen und zu schließen, Hof und Garten rein zu halten und dergleichen mehr.

Kaum hatte Christel den Brief an sie gelesen, so sprang sie auch schon in schnellen Sätzen in den Keller hinunter. Erst nach vielem Herumtappen durch einen schmalen Gang, der an einigen verschlossenen Holz- und Kohlenverschlägen vorbeiführte, fand sie die bezeichnete Treppe. Unter ihr in einem dunklen Winkel sollte das Päckchen liegen. Nicht weit davon fiel durch eine kleine Öffnung ein Lichtstrahl in den Keller; um so düsterer war der Winkel. Da stand ein alter, zerbrochener Kinderwagen, Scherben und Gerüll lagen auf einem Haufen umher. Christel suchte darin herum, endlich fühlte sie etwas Weiches, es war das Bündel. Aber daneben hatte sie beim Herumfühlen in dem Schutt noch etwas anderes gefunden, es war ein altes verschlossenes Pappkästchen – Das alles konnte doch wohl für niemand als für sie bestimmt sein.

Im ersten Augenblick wollte sie sämtliche Sachen, ohne sie vorher zu besehen, auspacken und damit nach Hause gehen. Die Begier aber, die ihr zugedachten Geschenke auf der Stelle in Augenschein zu nehmen, war doch zu groß. Zwar war es dunkel genug in dem Kellerloch, aber in der Nähe fiel ja der Lichtstrahl auf den Boden. Da trug sie schnell ihre Schätze hin.

Zuerst öffnete sie das Päckchen mit den Kleidern. Da fand sich ein Rock und Wäsche für die Mutter darin und sogar ein Kleid für sie selbst. Sie konnte es sich nicht enthalten, es sich anzupassen; es passte, als wäre es für sie gemacht, sie war voller Freuden. Was aber mochte wohl die Pappschachtel enthalten? Die sah altmodisch und ärmlich aus und war mit einem verblassten, schmutzigen Bande zugebunden. – Erst nachdem sie die Kleider wieder zusammengeschnürt, nahm Christel das geheimnisvolle Kästchen auf, um es zu öffnen; sie wog es in der Hand. Da kam es ihr vor, als hörte sie in der Holzkammer nicht gar weit von sich etwas rauschen. Sie horchte. – Es war weiter nichts zu hören, aber als sie sich umsah, ward ihr recht unheimlich zu Mute. Der Keller war öde und dumpfig, eine Totenstille um sie her. Nur ganz unten, wo es weit in das Dunkel hineinging, fielen einzelne Tropfen von durchsickerndem Wasser in gleichmäßigen Pausen vom Gewölbe herunter, – sonst kein Laut.

Bald siegte doch ihre kindische Neugierde und ließ sie alle Angst vergessen. Sie versuchte das Band aufzuknüpfen, das die Schachtel verschloss; in ihrer Hast zog sie den Knoten nur um so fester zusammen. – Da klang es wieder, als hustete jemand leise in ihrer Nähe. – Auch jetzt stutzte Christel für einige Augenblicke, dann aber ließ sie sich nicht weiter stören und versuchte mit Gewalt das Band zu zerreißen. Es gelang, doch zu gleicher Zeit glitt auch das Kästchen dem Kinde aus der Hand. Der Deckel löste sich im Falle, und klirrend fiel der Inhalt auf den Fußboden nieder. Sie erschrak. Da lag vor ihren Füßen eine große silberne Taschenuhr mit altmodischer Stahlkette, ein ebensolcher Halsschmuck von bunten Glaskorallen mit einem silbernen Kreuzchen daran und wohl zwei Dutzend silberne Löffel.

Das Eine fühlte sich gleich beim ersten Anblick des Schatzes, diese Dinge konnten unmöglich für sie bestimmt sein. Eine rechte Angst befiel das arme Mädchen; es war ihr, als müsste sie alles, selbst das Bündel mit Kleidern, dort zurücklassen und schnell die Treppe hinauf ans liebe freie Tageslicht laufen, um so rasch wie möglich nach Hause zu kommen. Aber die schönen Sachen dort liegen zu lassen, war auch wieder bedenklich; wer weiß, ob sie nicht gestohlen werden konnten! Endlich ermannte sie sich und kniete am Boden nieder, um die Schätze wieder einzusammeln; was sie dann damit machen würde, wusste sie selbst noch nicht. Behalten hätte sie sie auf keinen Fall, darüber war sie mit sich einig.

Een hob sie die Uhr vom Boden auf. Da schrie eine kreischende Stimme hinter ihrem Rücken: „Diebe! Spitzbuben! Diebe!“ Christel warf in der Angst ihres Herzens die Uhr in den Schutthaufen, ergriff ihr Kleiderbündel und wollte damit fortlaufen; aber als sie kaum ein paar Schritte durch den Gang getan, griff eine Hand sie an den Arm, Leute kamen die Kellertreppe herunter gelaufen, auch die packten sie und führten sie zurück zu der Stelle, wo noch das Silberzeug am Boden lag.

„Hab ich dich endlich, du Spitzbube!“ schrie ein altes, hässliches Weib. Es war die Hausmannsfrau, dieselbe, die sie zuerst ergriffen. Der Mann der dazu gekommen, hob eine Bohnenstange, die dort in der Nähe stand, empor und würde, das Kind in seiner Wut blindlings geschlagen haben, hätte nicht ein Holzhacker, der mit ihm vom Hofe, wo er eben Holz gesägt, auf das Geschrei der Alten herunter geeilt war, ihn zurückgehalten.

„Mann, flink! lauf zum Polizeiwachtmeister!“ schrie die Frau, die noch immer das Kind festhielt. „Bring ihn her, dass er gleich hier am Orte die Bescherung sehen kam. Aber du gehst auf der Stelle! Hörst du? Wer weiß, was das Diebsgesicht hier noch alles versteckt hat!“ – Der Mann lief fort, und nun überschüttete die Frau das erschrockene Kind mit einer wahren Flut von Schimpfworten. Sobald es nur den Mund auftun wollte, um sich zu rechtfertigen, wurde es mit Stößen zur Ruhe verwiesen. „Ich werde dich lehren,“ schrie sie, „mir künftig meine und und mein Silber zu stehlen, du Rabe du! Und wo hast du das Bündel da her? Jakob, sie doch einmal nach, was da drin ist!“ Der Holzhacker tat, was ihm die Frau befahl. Das Kind wollte sagen, wie es zu den Kleidern gekommen, aber die Alte ließ es nicht zu Worte kommen. „Ei, sieh da! die Kleider sollt´ ich ja kennen. Also auch die Leute da oben, die eben abgereist sind, hat sie bestohlen? Seht doch, wie pissig das junge Ding schon ist. Erst wird geklopft und dann geklingelt und dann das Ohr an die Tür gelegt, – o, ich hab´ alles gesehen! – und wenn man merkt, dass niemand da ist, geht´s wie der Wind in den Keller, um das gestohlene Gut aus dem Diebeswinkel abzuholen. Aber warte nur, wenn du erst wirst eingesperrt sein, wird dir bei Wasser und Brot dein Handwerk schon gelegt werden. – Ja, heule und schrei nur immer zu, die Krokodilstränen kennen wir schon. Alles Heuchelei, alles Lügen!“ So schrie die Alte immer fort, dass dem armen Kinde Hören und Sehen verging. Auf seinen Knieen bat es, man möchte es doch frei lassen, es wäre ja ganz unschuldig. Da halft kein Bitten, kein Flehen.

Bald war auch der Hausmann wieder da mit dem Polizeidiener. „Da haben wir sie endlich,“ sprach er und zeigte auf das Kind; „das ist die Brut, die uns vorgestern unsere Sachen gestohlen hat und das am lieben heiligen Sonntag Nachmittag, als ich gerade mit meiner Frau zum Vogelschießen nach Blasewitz gegangen war!“

Alle Versuche des Mädchens, sich zu rechtfertigen, waren vergebens; auch der Brief der Hamburger Dame wollte sich nicht finden. Wie die Sachen standen, war es die Pflicht des Polizeidieners, das des Diebstahls verdächtige Kind mit sich zu nehmen. Und so geschah es auch.

Als sie über den Hof fingen, lief dort ein junger Hund umher, der in lustigen Sprüngen ein Stück Papier zernagte und zerriss, dass die Fetzen davon im Winde umherflogen. Keiner bemerkte es als Christel. „Das ist am Ende mein Brief, den ich verloren habe,“ dachte sie bei sich, aber Scham, Schrecken und Angst schnürten ihr die Kehle zu. Sie wagte kein Wort zu sprechen. Ohne sich weiter zu sträuben, ging sie neben dem Polizeidiener her, der sie auf ihre Bitte losgelassen. Sie verdeckte ihr Gesichtchen mit der Schürze; kaum vermochte sie noch etwas zu denken.

3.

In einem Dorfe, tief im Grunde des Erzgebirges, läuteten die Abendglocken. Die Sonne ging im vollen Glanze hinter den Bergen unter. Weber und Spitzenklöpplerinnen saßen vor ihren Häusern und ruhten von der Arbeit aus, Feldarbeiter kamen mit Gesang aus den Tälern heim; unter den breitästigen Linden, die auf dem freien Platze vor der Kirche standen, spielten die Kinder des Dorfes. Alles war so friedlich und still und die Schönheit der Natur an dem frischen, heiteren Herbstabend ließ die Leute für kurze Zeit all ihre Sorge, Not und die bittere Armut vergessen.

Eine Seele aber war da, die diese Ruhe nicht finden konnte.

Am Ende des Dorfes, wo der Hohlweg an dem verfallenen Gemäuer eines alten Schlossturmes vorbeiführt, saß Frau Anna, die Mutter Spitzenchristels, in der Kürbislaube vor ihrem kleinen Hause und sah sehnsüchtig den Weg hinunter nach ihrem Töchterchen aus. In der Haustür neben ihr spielte der kleine Hans, ihr Söhnchen, mit drei jungen Kätzchen und freute sich an ihren lustigen, zierlichen Sprüngen. Das fröhliche Kind ahnte nicht die Sorgen, die eine arme Mutter drückten. Nur von Zeit zu Zeit fragte es: „Mutter, ist noch nichts von Christel zu sehen?“ Aber eben diese Worte waren es, die der besorgten Mutter jedes mal einen neuen Stich ins Herz gaben. So schwer es ihr auch ward, sie musste zuletzt dem Kinde die immer wiederkehrende Frage verbieten. Zwei Tage waren nun schon verstrichen, seit sie die Rückkehr ihrer Christel bestimmt erwartet und immer noch war nichts von ihr zu sehen. Die Krankheit, die sie im Bette zurückgehalten hatte, als ihre Tochter mit dem Spitzenkasten nach Dresden gegangen war schneller gewichen, als sie selbst es erwartet hatte. Sie konnte den schönen Herbstabend doch wieder in freier Luft genießen.

Wie sie so da saß und in ihrer Sorge um ihr Kind gar nicht merkte, dass kalte Neben schon aus den Tälern aufstiegen, sah sie auf der Straße, die in den Mühlengrund hinabführte, ganz von weitem den langen Andreas daher kommen. Er war des Nachbars Sohn, der von Zeit zu Zeit Botengänge nach Dresden zu machen pflegte. – Gern wäre sie ihm entgegen gegangen, um ihn zu fragen, ob er in Dresden nichts von ihrem Kinde gehrt habe, aber dazu fühlte sie sich doch noch zu schwach.

Sie verwandte keinen Blick von ihm; da gewahrte sie, wie der Dorfschulze, der zufällig auf derselben Straße dem Andreas entgegenkam, an ihn herantrat. Beide schienen, so weit sich´s von ferne sehen ließ, sehr eifrig miteinander zu sprechen, ja, sie glaubte sogar zu erkennen, wie der Schulze bedenklich und erschrocken mit dem Kopfe schüttelte.

„Wenn die beiden nur nicht von einem Unglück sprechen, das meiner Christel passiert ist,“ sprach Frau Anna leise vor sich hin. – „Soll ich den Andreas her holen?“ fragte Hans. – „Er wird schon von selbst kommen,“ bemerkte die Mutter, „spiel du nur ruhig mit deinen Kätzchen.“ Sie wollte das Kind nicht auch noch beunruhigen.

Endlich kam der Schulze daher, Andreas folge ihm in einiger Entfernung nach. – „Ums Himmelswillen,“ rief Frau Anna ihm entgegen, „Ihr seht mich so bejammernswürdig an. Sagt mir, ist meiner Christel in Dresden ein Unglück geschehen?“ – Der Dorfschulze reichte ihr die Hand und sprach: „Liebe Frau, ich weiß, Ihr habt manche Sorge und manches Leid in Eurem Leben erfahren und dabei immer einen kräftigen Sinn bewährt. Ihr werdet es auch jetzt tun. Es sich allerdings etwas sehr Trauriges mit Eurem Kind zugetragen.“

„Ist sie tot? – Verschweigt mir nichts! Quält ein Mutterherz nicht, sagt mir alles, wie es steht, Ihr müsst es mir ja doch sagen!“

„Euer Kind lebt, Frau Anne, es ist nicht tot und hoffentlich stellt sich das, was der Andreas erzählt, als ein Irrtum heraus. Ich kenne Eure Christel, ich weiß…“

„Sie hat gestohlen!“ rief Andreas, der nun auch dazu getreten war, in seiner rohen, tölpelhaften Weise. „Ja, und sie haben sie auf die Polizei gebracht und da sitzt sie noch, weil sie goldene Uhren und Löffel und Kleider und viele tausend Thaler gestohlen hat!“

Frau Anna drückte ihr Gesicht in beide Hände, der kleine Hans, der bisher mit offenen Munde wie erstarrt dagestanden, sprang hinzu und suchte mit einen Händchen den Kopf der Mutter aufzurichten. „Mutter bist du krank?“ rief er einmal über das andre.

Der Schulze suchte die gebeugte Frau zu trösten, sie hörte nicht, was er sprach. Plötzlich aber hob sie den Kopf empor, fasste mit ihren beiden Händen die Hand des braven Mannes und mit einem innigen, vertrauenden Blick zum Himmel rief sie: „Ich danke Gott, dass meinem Kinde nichts Schlimmeres begegnet ist. So gewiss, wie dort der lichte Mond am Himmel steht, weiß ich: meine Tochter ist unschuldig, meine Christel kann nicht stehlen!“

Die Frau hatte diese Worte mit einer solchen Überzeugungsstärke gesprochen, dass der Schulze nichts mehr hinzufügen konnte und ihr nur mit inniger Teilnahme die Hand drückte. Er bat sie nun ihrer Kränklichkeit wegen die nebelfeuchte Luft zu verlassen und im Hause mit ihm alles Nötige zu besprechen, was man für das Kind tun könne. Dem Andreas aber gebot er streng, im Dorfe auch nicht das Geringste von der Sache zu erzählen, um so mehr, da doch vieles in dessen Bericht übertrieben schien. Er selbst beschloss, morgen in der Frühe nach Dresden zu fahren, um nähere Erkundigungen einzuziehen und womöglich mit dem Kinde selbst zu sprechen.

4.

Nachdem Christel ins Gefängnis geführt worden, brachte sie die erste Zeit in ihrer Gefangenschaft in einer Art fieberhaften Zustandes zu. Der Gedanke an die Schande, die sie erlebt, als sie an der Seite des Polizeidieners durch die Straßen gegangen, die bösen Reden des Hausmanns und seiner Frau drückten sie so nieder, dass, als der Gefangenwärter die Türe hinter sich verriegelte und sie allein in der öden Zelle ließ, sie sich platt auf den Fußboden niederwarf und das glühende Gesicht auf den kalten Stein drückte. Erst nach längerer Zeit trug das Gefühl der Unschuld etwas dazu bei, sie zu beruhigen. Sie erhob sich von der Erde und warf sich auf das Strohlager. Aber bald kamen ihr andre Gedanken, die von neuem ihr das Herz zuschnürten.

„Ach,“ so jammerte sie vor sich hin, „meine Mutter, meine arme, kranke Mutter! Wer wird sie nun pflegen und für sie sorgen! – Wüsste sie nur zu Hause, dass ich noch lebe und wo ich geblieben bin! – Nein! nein!“ rief sie dann wieder, „das dürfen, das sollen sie nicht wissen! Wenn die Mutter das hörte, dass ihre Christel im Gefängnis sitzt und wenn sie ihr gar erzählten, dass ich gestohlen haben soll, die Mutter müsste ja umkommen vor Schreck und Jammer!“ – Ein Strom von Tränen machte ihrem Herzen endlich Luft.

Allmählich kehrte Ruhe in die Seele des Kindes zurück und es sank in einen langen, tiefen Schlummer. Auch der folgende Tag verging unter Kummer und Gram. Noch vermochte Christel auf nichts um sich her zu achten.

Am dritten Tage, als sie auf ihrem Strohbette erwachte, fiel ein lichter, heller Sonnenstrahl durch das kleine Fenster. Die Sonnstäubchen schwammen darin so glänzend umher und selbst die Spinnweben in den Fensterecken glitzerten, als wären sie von Silber. Tief blau schaute der Himmel in die dunkle Kammer. Da kam ein Vogel angeflogen, setzte sich auf das Eisengitter draußen und sang ein fröhliches Morgenlied.

Dem gefangenen Kinde war es, als hätte es oft denselben Vogel zu Hause in der Kürbislaube singen gehört, wenn die Mutter dort ihre Spitzen geklöppelt und sie selbst auf der Hundsbude daneben mit ihrem Strickzeug gesessen. Das waren schöne Tage gewesen! Auch kam es ihr vor, als wollte der Vogel ihr allerlei von Zu-Hause erzählen; ach, ach, wer nur des Vogels Sprache verstanden hätte! – Christel berechnete, was für ein Tag es heute wohl sein könnte, da bekam sie heraus, dass gerade an diesem Tage Erntefest in ihrem Dorfe gefeiert würde. Du lieber Himmel, wie musste es heute daheim so schön sein! Da ging es wohl herrlich und lustig her! Musik und Tanz und die Kinder des Dorfes auf der großen Wiese hinter der Ruine, wo sich so schön Versteck spielen ließ in den wilden Holunderbüschen, – und während dort alles jauchzte und jubelte, saß sie hier im engen Gefängnis, allein, ohne Mutter und Gespielen, allein mit ihrem Schmerz und ihrer Sehnsucht!

Wie sie so mit allen ihren Sinnen sich versenkt hatte in ihren Gedanken, rasselte draußen auf dem Gange das Schlüsselbund des Gefangenwärters und die Tür ward geöffnet. Christel glaubte, der Mann bringe ihr wie an den früheren Tagen ihre Gefängniskost, sie sah daher gar nicht auf. Als aber plötzlich eine bekannte männliche Stimme ihr zurief: „Guten Morgen, Kind!“ und als sie die Augen aufschlug und den Dorfschulzen, ihren Paten, erblickte, da kam nach langer Trübsal eine Freude über sie, dass sie für den Augenblick ihre Schande, ihren Kerker, ihr Leiden, alles, alles vergaß. „Herr Pate! lieber Herr Pate! was macht meine Mutter?“ rief sie, sprang auf ihn zu und hing sich mit beiden Armen an einen Hals.

„Christel,“ sprach der Schulze mit strengem, aber nicht hartem Ton, „bist du denn wirklich noch das ehrliche, brave Kind wie früher?“ und sah sie bei deisen Worten mit forschenden, durchdringenden Blicken an.

Dem Kinde versagte auf die Frage die Antwort, es schaute ihm nur mit einen blauen unschuldigen Augen so treuherzig und doch so traurig ins Gesicht, dass er, ohne ihre Antwort abzuwarten, ihr zurief: „Ich weiß schon, ich seh´ dir´s an, du bist unschuldig!“

Noch einige Zeit lang konnte das Mädchen kein Wort hervorbringen, so bewegt war sie. Fortwährend drückte und küsste sie die Hände des würdigen Mannes, der ihr sanft den Kopf streichelte und ihr freundlich zuredete. Darauf zog er einen Brief der Mutter aus der Tasche und gab ihr denselben. Mit zitternden Händen erbrach das Kind den Brief und ihr Gesicht verklärte sich in heller Freude beim Lesen desselben. Der Brief begann folgendermaßen:

„Meine Tochter!
Ich habe gehört, dass die Leute glauben, Du hättest eine schwere Sünde begangen. Ich, Deine Mutter, kenne Dein Herz und weiß, dass es unmöglich ist, dass mein Kind solch ein Verbrechen verüben kann. Der Schein ist gegen Dich, aber was der liebe Gott auch noch von Leiden über Dich verhängen mag, murre nicht; bleibe ehrlich und treu und wahrhaft, wie Du bisher gewesen. Besser unrecht leiden, als unrecht tun.“

Der Brief schloss mit erhebenden Trostworten und mit der Nachricht, dass sie selbst sich körperlich jetzt wohler als seit langer Zeit befinde, jedoch habe der Arzt ihr strenge verboten, jetzt schon ihr Kind zu besuchen.

Immer und immer wieder las Christel den Brief durch und bedeckte die Unterschrift, die den Namen ihrer Mutter enthielt, mit innigen Küssen. – Dann erzählte sie den Schulzen, was sich zugetragen. Dieser Bericht machte, dass dem erfahrenen Manne sein Vertrauen auf die Unschuld des Kindes zur völligen Gewissheit ward. Er versprach der Gefangenen, das Seinige für ihre Befreiung tun. Mit freundlichen Worten verließ er sie und sprach ihr beim Abschiede Hoffnung und Mut ein.

Noch denselben Tag ward Christel und alle Zeugen vor Gericht verhört. So gut das Kind es vermochte, berichtete es das Geschehene der Wahrheit getreu. Der Schule und alle, welche die Angeklagte on ihrer frühesten Kindheit an kannten, legten das günstigste Zeugnis für sie ab; der Hausmann und seine Frau aber beschworen mit einem Eide, sie hätten an einem Sonntag Nachmittag, als beide zum Vogelschießen nach Blasewitz gingen, das erzgebirgische Mädchen über ihren Hof gehen sehen. Spt am Abend wären sie nach Hause gekommen, da hätten sie die Kammer geöffnet und aus ihrer Kommode die Silberschachtel entwendet gefunden. Auch das ganze Betragen des Kindes, als sie ergriffen worden und alles das, was die Hausmannsfrau auf der Treppe und im Keller wollte erblickt haben und was Christel selbst nicht leugnen konnte, erschien verdächtig. Der Ausspruch des Gerichtes lautete dahin, die Angeklagte müsse so lange in gefänglicher Haft behalten werden, bis sich Beweise für ihre Unschuld herausstellten.

So verging eine ganze Woche. Die arme Kleine blieb nach wie vor in ihrer Zelle, nur mit der Milderung, dass ihr Lesebücher gegeben wurden und man ihr gestattete, sich mit Handarbeiten zu beschäftigen. Nach einiger Zeit ward sie sogar in eine bessere Stube gebracht, zusammen mit einem andern Mädchen von etwa sechzehn Jahren, welches man für ziemlich gebessert hielt und von der man hoffte, sie werde vorteilhaft auf Christel einwirken.

5.

Es war eine schöne Nacht. Trotz dem Herbst war die Luft so warm und mild, dass man hätte glauben können, der Sommer habe in den Tälern des Erzgebirges noch etwas zu tun vergessen und wäre auf ein paar Tage dahin zurückgekehrt, um das Versäumte nachzuholen.

Frau Anna saß in ihrem Stübchen beim Schimmer er Lampe und nähte an einem warmen Winterrock für ihr gefangenes Kind. In dem engen Raum war es gar heimlich. Der kleine Hans lag in seinem Bettchen am Ofen und atmete leicht im ruhigen Schlummer. Nu bisweilen, wenn er sich auf die andere Seite herumwarf, lallte er im Schlaf ein paar unverständliche Laute und schlief dann wieder ruhig weiter. Die Katze schnurrte in der andern Stubenecke neben ihren Jungen. Dazu tickte heimlich das Perpendikel der Schwarzwälder Uhr.

Aber die Wärme im Kämmerchen wurde immer drückender, ein verspätetes Gewitter schien draußen heraufkommen zu wollen. Der Frau Anna ward so beklommen zu Mut. Vor allem trieben die Gedanken an ihre Christel ihr das Blut zum Herzen. Es war ja heute des lieben Kindes Geburtstag! Gegenwart und Zukunft lagen schwarz und finster vor den Blicken der armen Frau. Auf Erden wusste sie wenig Trost mehr zu finden, alle Not und alle Sorge legte sich wie eine schwere Last auf ihre Seele.

In solchen Augenblicken – und deren hatte Frau Anna manche in ihrem Leben gehabt – pflegte das Stübchen ihr zu enge zu werden. Nur einen Ort wusste sie, der ihr dann eine Zuflucht gewährte. Draußen in dem großen Tempel, dessen Gewölbe der Himmel ist, in dem Tempel, mit den höchsten Wundern dieser Welt ausgeschmückt, mit den Lichtern von Sonne, Mond und Sternen, mit den prächtigen fliegenden Vorhängen der Wolken und dem grünen Teppich der Erde, dort, wo der Orgelton des Windes und die Stimmen der Vögel ihre Klänge erschallen lassen, war der Ort, an dem Frau Anna ihrem Herzen Trost zu holen wusste.

Am Ende ihres Gartens zog sich ein Weg neben Haselsträuchern und unter überhängendem Holundergebüsch längs dem halbversunkenen Bretterzaun zu dem Gemäuer des verfallenen Schlossturmes hinauf. Da oben war ein stilles, einsames Grasplätzchen, von wo man tief ins Tal und über das ganze Dorf hinabsehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Außer einigen Kindern, die zuweilen Gras und Nesseln für ihre Ziegen zu holen pflegten, kam fast niemand hin. Daher bauten auch gern die Vögel ihre Nester in dem dicht wuchernden Gestrüpp umher.

Diese stille Einsamkeit, gleichsam eine kleine Kapelle in dem unermesslichen Dom der Natur, zu dem Frau Anna auch in dieser Nacht hinging, um ihrem Herzen in innigen Gebet Luft zu machen.

Da kniete sie, die gefalteten Hände auf einen alten Baumstumpf gestützt, das Haupt zum Himmel gerichtet. Zwischen dunklen Wolken schimmerten die Sterne in ungetrübtem Glanz. Bald brach auch der Mond schimmerten die Sterne in ungetrübtem Glanz. Bald brach auch der Mond zwischen den Wolkenspalten hervor. Milde ergoss sich sein Licht immer weiter über das Dorf herab und flimmerte zuletzt weithin im Tale. Es war, als ob die Wolken, die sich eben noch hoch aufgetürmt hatten, solchen Glanz nicht ertragen könnten, sie verflogen und verschwammen nun hinter den Bergen. In weitere Ferne zuckte noch das letzte Leuchten eines vorüberziehenden Gewitters.

Und so, wie am Himmel die Wolken sich auflösten und es in der Natur allmählich klar wurde, so verschwanden auch in der Seele der armen Frau die Sorge und alles, was sie beängstigt hatte. Festes Gottvertrauen kam durch das Gebet wieder in ihr Herz. Wie das Licht des Mondes da draußen, ging ihr das Licht der Hoffnung im Innern auf und in dem Schimmer dieses Lichts sah sie mit Dank, wieviel Freude bei all ihrer Not ihr noch übrig geblieben war. Ihre Christel lebte ja noch, die Gefangenschaft konnte, sie fühlte es jetzt, nicht immer Dauern. Der kleine Hans war frisch und gesund ihr Augentrost. Ihre, noch vor kurzem so gebrochenen Kräfte waren wieder zurückgekehrt und wieviel Liebes und Gutes hatte sie selbst von der Mildtätigkeit guter Menschen erfahren! Traurig und gebeugt war sie her gegangen, freudig erstarkt stand sie vom Boden auf. Auch an der Schönheit der stillen Mondnacht konnte sie wieder ihr Augen erquicken.

Wie sie nun so da oben stand und Grüße über die dunklen Berge ihrem gefangenen Kinde nach Dresden hinsendete, war es ihr, als hörte sie plötzlich neben sich in den Räumen des Gemäuers ein paar Leute halbleise miteinander zu sprechen.

Ohne gerade horchen zu wollen, hielt sie doch den Atem an. Im Anfange verhalten die Worte verworren in dem Nachtwinde, der eben durch das zum Teil schon dürr gewordene Laub rauschte. Es schienen rohe Männerstimmen zu sein, die mitunter in ein widerliches Gelächter ausbrachen. – Für die Stimmung, in der Frau Anna sich befand, war nichts störender als diese Laute. Eben wollte sie zu ihrer Wohnung zurückkehren, als der Wind ihr das Gespräch der beiden deutlich zutrug. Sie hörte Worte, die ihr verdächtig vorkamen. Unwillkürlich trieb es sie an, zurückzubleiben und weiter aufzuhorchen. Da legte sich das Rauschen des Windes und sie vernahm folgendes Gespräch:

„Ein schöner Kerl bist du mir!“ hub die lallende Stimme eines ältlichen, wie es schien, betrunkenen Mannes an. „Willst selbst lange Finger machen und bekommst Angst, dass andre lange Finger ihn packen werden. Wahrhaftig, ein schöner Kerl!“

Der andre mit einer jüngeren, aber heiseren Stimme wollte sich verteidigen, aber der erste fuhr fort: „Magst reden, was du willst! morgen geh´ ich nach Dresden und hol´ mir in der Dämmerung, eh´ sie die Türe zuschließen, die Schachtel aus dem Kellerloche ab. Und wenn die ganze Polizei wieder auf der Straße hinter mir ist, diesmal soll kein Teufel mich dazu bringen, den Silberkasten wieder, wie damals, wegzuwerfen. Nur ein Hasenfuß wie du konnte mir den Rat geben. Ein schöner Kerl bist du mir!“

„Weißt du den gewiss, dass Silber drin ist?“ fragte der Heisere.

„Und ob!“ lachte jener, „Narr! ich hab´s dir ja schon zwanzigmal gesagt, die blonde Hanne, die früher beim Hausmann mit geschneidert hat, hat´s meiner Frau genau beschrieben. Wenn die Schachtel kein Silber in sich hat, hab´ ich heute keinen Branntwein in mir. Die Schachtel war schwer und ich bind schwer, sind wir alle beide schwer!“

Ein rohes Gelächter belohnte den schlechten Witz des Betrunkenen. Nach einiger Zeit fing der Heisere wieder an:

„Du! ich kehr´ wieder nach Böhmen heim. Um die Lumperei setz´ ich meine Haut nicht noch einmal aufs Spiel!“

„Lumperei?“ schrie der Alte. „Lumperei? – Selbst ein Lump! Hast du nicht gehört, was das Mädel mir gesagt? Eine Uhr ist drin und zwei Dutzend silberne Löffel und“ – der Heisere redete dem Alten einmal übers andre zu, er sollte doch nicht so schreien, er würde sie beide noch ins Unglück bringen. Der aber fuhr in seiner Trunkenheit fort und rief: „Und wenn du nicht mir zusammenhältst, du Hasenfuß, dann sollst du sehen! Prügel bekommst du, die aller schönsten, und ich zeig´ ich morgen beim Schulzen an, dass du neulich beim Schmied hier im Dorfe gemaust hast. Und wenn – -“

„Nu meinetwegen,“ fiel der Heisere ein, „halt nur Ruh´! und lass mich jetzt ungeschoren! Schlafen will ich, hast du´s gehört?“ Eine Zeitlang zankten sie und schimpften noch aufeinander los, bis allmählich ihre Worte immer undeutlicher wurden und es zuletzt still ward.

Frau Anna hatte genug gehört, um zu wissen, welcher Art die beiden Sprecher waren und welche Wichtigkeit für sie in dieser Entdeckung lag. Ohne länger zu zögern, schlich sie leise den Gang längs dem Zaune auf Zehen zurück, schlüpfte durch das Pförtchen auf die Straße und eile zum Schulzen, der am andern Ende des Ortes wohnte. Dem berichtete sie alles, was sie eben gehört.

Kaum war eine halbe Stunde vergangen, als man die beiden in der Umgegend sehr berüchtigten Spitzbuben, die man in der Turmruine in tiefen Schlafe fand, ergriff und nach dem Amt brachte, von wo sie morgen in der Frühe nach Dresden transportiert werden sollten.

6.

An einem heitern Vormittag rollte auf der großen Landstraße, die von Dresden aus ins Erzgebirge führt, ein Wägelchen dahin auf dem ein stattlicher Mann und zwei Menschen in ärmlichen Kleidern saßen und doch waren diese beiden Menschen in jenem Augenblick vielleicht die glücklichsten in weiter Runde. Es war Frau Anna und ihre Christel, und der Mann, der den muntern Gaul zu raschem Lauf antrieb, war der Dorfschulze.

Aus dem Geständnis der beiden Diebe hatte sich die Unschuld Christels klar herausgestellt. Das Kind war sofort freigelassen worden und als es kaum die Pforte des Gefängnisses erlassen und mit seinem Bündelchen die Straße nach dem Dorfe einschlug, hatte es seine Mutter und den lieben Paten schon des Weges daherkommen sehen. Wer könnte wohl das Wiedersehen von Mutter und Tochter nach so kummervollen Tagen beschreiben? Solch ein Moment lßt sich nicht mit Worten schildern. Möge jeder, die dieses liest, sich selbst in die Lage der Glücklichen hineindenken und sie mit ihnen empfinden.

Nie war der Himmel und die Berge und Wälder, selbst jedes dürre Bäumchen am Wege der Christel so schön vorgekommen als heute, nachdem sie den Anblick der freien Natur so lange schmerzlich entbehrt. Und wieviel hatten Mutter und Tochter sich zu erzählen, ganz besonders aber unsre Christel! Noch in den letzten Tagen der Gefangenschaft hatte sie das Allerschwerste zu bestehen gehabt!

Das Mädchen, mit dem man sie zusammengebracht hatte, war niemand anders als die blonde Hanne gewesen, von der die Diebe in der Ruine gesprochen hatten. Das tückische Geschöpf hatte sich eine Zeitlang nur so reuig gestellt, um ihre Strafe zu erleichtern. Bald versuchte sie auch Christel in ihre argen Pläne durch Überredung hineinzuziehen, um mit ihrer Hilfe sich ganz vor Gericht herauszulügen. Mit Abscheu konnte diese sich nur von einem so schlechten Gemüt abwenden. Zuletzt war der Christel nichts übrig geblieben, als keine Silbe mehr mit ihrer Mitgefangenen zu sprechen; dafür aber hatte die Hanne sich zu rächen beschlossen. Noch am vorletzten Tag erklärte sie dem Gefängniswärter, sie habe wichtige Entdeckungen über Christels Diebstahl zu machen. Die Kenntnis jedes Winkels in der Wohnung des Hausmanns, bei dem sie früher kurze Zeit gearbeitet, sollte ihr bei diesem schändlichen Plan zu Hilfe kommen. – Der Plan war auch fein angelegt, aber gerade zur rechten Zeit ward er vereitelt durch die Bekenntnisse der beiden Diebe, wodurch nun auch die ganze Bosheit der Hanne ans Licht gekommen war, Christel aber ihrer Freiheit wieder erhalten hatte.

Jetzt waren ja alle die trüben Tage vorüber und je trauriger diese Erzählungen, um so erfreulicher war alles das, was Frau Anna ihrer Tochter on dem lustigen Hans berichtete.

Bald hatte man auf der Fahrt mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt und schon nach vier Stunden sollte Christel ihr liebes Dorf und die schönen Berge wiedersehen. Ihr schlug das Herz vor Freude bei dem Gedanken. Eine wahre Pein war es ihr daher, als der Schulze, nach alter Gewohnheit, im nächsten Dorf vor dem goldnen Löwen, dem stattlichsten Gasthofe in der Umgegend, still hielt. Sogar ausgespannt wurde das Pferd und in den Stall geführt. Sein gewohntes Mittagsfutter und seine Ruhestunde durfte dem Tiere ja nicht entzogen werden. Aber auch der frische Appetit des Herrn Paten fand hier seine Rechnung. Es gab in dem Gasthofe eine gute Küche und die sollte nicht umsonst so gemütlich den Rauch durch den Schornstein getrieben haben. Christel aber, trotzdem sie in letzter Zeit nur schmale Gefängniskost erhalten hatte, dachte an kein Essen und kein Trinken. Die Freude machte sie satt.

Alle drei traten in die große Gaststube ein. An dem langen, sauber gedeckten Tisch, auf dessen Mitte zwei Krüge mit schönen Georginen prangten, saßen mehrere Personen. Am untern Ende der Tafel zerlegte eben die hübsche, dicke Wirtin einen gewaltigen, dampfenden Braten mit großem Eifer, während die rotarmige Magd umherging und die blinkenden Glaskrügel mit dem zartschäumenden Waldschlößchenbier bei jedem Gedeck hinstellte. Da regte sich auch bei dem Kinde wieder die natürliche Lust an Speise und Trank. Es war der Kleinen gar behaglich zu Mute, als sie sich hinsetzten und die Mutter ihr die reine, sauber gefaltete Serviette um den Hals band; war doch für das arme Ding eine so köstlich besetzte Tafel mit ihrer ganzen Umgebung etwas Neues, niemals Geschehenes!

Eines nur war dem Kinde bei seiner Schüchternheit sehr störend! Am obern Ende des Tisches saßen so vornehme Personen, eine Mutter mit ihren Kindern, die sich munter und lustig miteinander unterhielten. Sie waren gewiss in dem großen, schwerbepackten Reisewagen angekommen, der draußen vor dem Torwege stand. Christel wagte gar nicht sich nach ihnen umzusehen. Scheu schlug sie die Augen zur Erde nieder und nur von Zeit zu Zeit lächelte sie ihrer Mutter, die neben ihr saß, freundlich zu, wenn diese, in der Freude ihr Kind wieder bei sich zu haben, ihr mit der Hand über das Haar strich oder ihr die Speisen auf den Teller legte.

Der Gevatter Dorfschulze hieb desto tapferer in die leckeren Gerichte ein und hatte dabei auch bald mit der vornehmen Dame ein Gespräch angeknüpft. Die Kinder derselben, die bisher viel unter sich von ihrer Reise zu sprechen gehabt haben, lenkten nun auch ihre Aufmerksamkeit nach dieser Seite hin und alle riefen wie aus einem Munde: „Spitzenchristel! Guten Tag, Spitzenchristel!“

Christel wusste erst gar nicht wie ihr geschah, dann stand sie auf, ging zu den freundlichen Leuten hin und gab jedem schweigend die Hand, wie damals in der Küche in Dresden. Im Herzen aber war es ihr so zu Mute, als hätte sie allen, der Dame sowohl wie den Kindern, um den Hals fallen müssen. Nun ging das Fragen an. Dass das Mädchen, die erst kürzlich aus dem Gefängnis befreit war, in diesem Augenblicke alle ihre Erlebnisse hätte erzählen sollen, wäre zu viel verlangt gewesen. Der Schulze übernahm für sie das Wort und mit Teilnahme hörten die Anwesenden der Leidensgeschichte der Kleinen zu. Die Dame, die eben auf dem Wege war, nach Dresden zurückzukehren, wurde durch die Schicksale der armen Familie tief bewegt. Sie bat den Dorfschulzen, wenn er wieder in der nächsten Woche nach der Stadt komme, möge er ihr die Frau Anna mit ihrer Christel und dem kleinen Hans zum Besuche mitbringen.

Der Schulze versprach es und hielt Wort. Es blieb aber nicht bloß bei diesem einen Besuch, sondern Frau Anna erhielt seitdem durch die Vermittlung der Hamburger Dame eine bedeutende Geldunterstützung, so dass sie ihr Leben von nun an ohne drückende Sorge genießen konnte. Spitzenchristel ward bald darauf zum Pfarrer des Dorfes ins Haus gegeben, der dem aufgeweckten, lernbegierigen Kinde eine vortreffliche Erziehung gab; der kleine Hans aber blieb fürs erste noch bei der Mutter, die nun ihm alle Sorgfalt widmen konnte.

So erblühte aus jenen Trauertagen für die bisher so bekümmerte Familie ein reicher Segen. – Nach einem Jahre reisten die Fremden wieder in ihre Heimat, aber jedes mal, wenn sie später wieder nach Dresden kamen, besuchten sie das Dorf im Erzgebirge und darin vor allem die gute Frau Anna und ihre Spitzenchristel.


(Quelle: Robert Reinicks Märchen-, Lieder- und Geschichtenbuch, Verlag von Velhagen & Klasing, Bielefeld und Leipzig, 1896)