Vom Kranich und Wolfe

Da der Wolf einstmals ein Schaf gierig fraß, blieb ihm ein Bein im Halse überzwerch stecken, davon er große Angst und Not hatte. Da erbot er sich, großen Lohn und Geschenk dem zu geben, der ihm hülfe. Da kam der Kranich und stieß seinen langen Hals dem Wolf in den Rachen und zog das Bein heraus. Da er aber den verheißenden Lohn forderte, sprach der Wolf: „Willst du noch Lohn haben? Danke du Gott, dass ich dir den Hals nicht abgebissen habe! Du solltest mir schenken, dass du lebendig aus meinem Rachen kommen bist.“
Lehre: Wer den Leuten in der Well will wohltun, der muss sich erwägen, Undank zu verdienen. Die Welt lohnt nicht anders denn mit Undank – wie man spricht: Wer einen vom Galgen erlöst, dem hilft derselbige gern dran.


Fabel von Martin Luther (1483 – 1546)
(Quelle: Uralte Weisheit – Fabeln aus aller Welt, Deutscher Sparkassen- und Giroverband e.V., Bonn, ohne Jahr)