Zur Zeit der Heinzelmänner, die heute bei der Unruhe der Menschen, dem Geräusche und Treiben der Fabriken und Bahnen, dem Jagen nach Erwerb beinahe vergessen sind, lebte der Waldhüter Jakob mit Frau und zwei blühenden Kindern, seinem Sohne Franz von zwölf und seiner Tochter Marie von zehn Jahren, in einem Häuschen mitten in einem Waldreviere des Harzgebirges.
Jakob, ein pflichtgetreuer Beamter, ein fleißiger Verwalter seiner paar Morgen Ackerland nebst einer an der Berglehne befindlichen kleinen Wiese, hatte sich doch nur eine Stellung erwerben können, in welcher gar zu häufig Schmalhans Küchenmeister war. Frau Martha, die treue Lebensgefährtin desselben, hatte trotz ihres Fleißes, ihres Schaffens und Wirkens nie so viel erübrigen können, um für Krankheitsfälle oder Missernten einen Notgroschen zurückzulegen. Überdies musste in den letzten Jahren, seit denen die Kinder die Schule besuchten, mehr für deren Bekleidung, für Bücher und andere Schulmaterialien, wie auch für Schulgeld, ausgegeben werden. Trotz mancher schweren Sorgen hatte dennoch Jakob und Frau Martha in ihrem vollen Gottvertrauen sich guten Mut bewahrt; ihr kleines Heim nebst dem geringen Gehalt schafften bei ihrer Genügsamkeit das nötige Brot und sonstige Bedürfnisse. Das Gedeihen des sich herrlich entwickelnden Kinderpaares machte sie glücklich und zufrieden. Dazu gesellte sich in der letzten Zeit noch die Aussicht auf eine bessere Stellung, da dem Jakob die Stelle des in der Nähe wohnenden Försters Rehfeld, der, alt und gebrechlich, zu Martini pensioniert werden sollte, zugesichert worden war.
Da trat plötzlich, wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel, eine schreckliche Veränderung in diesem gemütlichen Heimwesen ein.
Mitte des Monats September fiel es dem unermüdlichen Jakob abends noch ein, die Feldgrenze, an die sein Schutzbezirk lehnte, abzusuchen, ob nicht etwa ein Jagdliebhaber des benachbarten Dorfes sich den Anstand zu nahe am Walde oder gar innerhalb der Waldgrenze ausgesucht habe. Jakob kehrte nicht mehr lebend heim, er wurde am andern Tage von Arbeitern am Waldrande erschossen gefunden und den erstarrten Seinen als Leiche ins Haus gebracht.
Traurige Tage traten ein; Martha hätte mit ihren Kindern, wenngleich sie in dem schon baufälligen Häuschen ein Obdach erhielt, bei dem sehr geringen Witwengehalte hungern müssen, wenn nicht andere Hilfe genaht wäre. Die Kinder mussten der Mutter, um ihr Leben zu fristen, erwerben helfen und dieses geschah durch Sammeln von Medizinkräutern während der schulfreien Zeit in Wald und Feld. Im Sommer und Herbst war der Ertrag des Sammelns denn auch so ergiebig, dass der Erlös zur Bestreitung der dringendsten Bedürfnisse hinreichte; jedoch der Winter nahte und mit ihm die bitter drohende Aussicht auf die größte Not.
Da eines Tages im Spätherbst, als die Kinder wieder von der Sonnenseite der Berge mit Sammeln von Kräutern beschäftigt waren, trat ein kleines, altes Männchen mit langem weißen Barte an sie heran, sah eine Weile ihrem Treiben zu und machte sie dann auf Stellen aufmerksam, die vorzügliche, schöne und seltene Kräuter und Pilze in Mengen aufwiesen, so dass sie in wenigen Minuten hier mehr sammelten, als es ihnen sonst in Stunden geglückt war. Auch der Erlös war in der nächsten Stadt in Apotheken und Droguenhandlungen wegen der aromatischen und seltenen Exemplare ein bedeutend größer, so dass die Mutter, die den Verkauf besorgte, wieder einmal mit befriedigterem Blick in ihrem Auge heimkehrte. So wurde jeder freie Augenblick des schwindenden Herbstes von den Kindern eifrig zum Sammeln benutzt und jedes Mal trafen sie das alte graue Männchen, das ihnen neue ergiebige stellen wies und sich an dem Eifer, der Freude, wie den harmlosen Äußerungen der Kinder zu erfreuen schien. Mit jedem Tage wurde das Graumännchen freundlicher und gesprächiger, erkundigte sich nach den Verhältnissen der Kinder, dass bei der Mitteilung der rührenden Liebe zur Mutter, wie der Lieber untereinander, der rastlosen Tätigkeit des Fleißes aller zur Bewältigung der irdischen Sorge, sein Augen erglänzte und Blicke des Wohlwollens das verwitterte Gesicht erhellten. Der Winter nahte mit aller Macht, trotzdem wurden die Kinder von dem Alten ermuntert in ihrem Eifer nicht nachzulassen, täglich trafen sie denselben und stets führte er sie auf neue ihnen völlig unbekannte, recht ergiebige stellen, so dass die Mutter, infolge der sich täglich sorgenfreier gestaltenden Zukunft, allmählig zufriedener heiter und wohler aussah und sich ein stilles Glück in ihrem Antlitze spiegelte. Aber nicht allein durch das Schwinden der Nahrungssorgen fühlte sich das Mutterherz beglückt, sondern auch durch die täglich mehr hervortretende geistige und körperliche Entwicklung der Kinder die nicht nur dem mütterlichen Auge ersichtlich sondern von Lehrern und Nachbarn mit Staunen bemerkt wurde, die eine so hervorragende Entwicklung als ein Wunder ansahen.
Bald hatte sich die Kunde verbreitet, dass Frau Jakob so wunderbar kräftige und gesuchte Kräuter in der Stadt für hohen Preis verkaufe; trotzdem nun andere Frauen und Kinder, die sich ebenfalls mit dem Sammeln von Kräutern beschäftigten, sich die größte Mühe gaben, so fanden sie namentlich bei dem Eintritt des Winterwetters wenig oder gar nichts und sahen mit scheelen Augen der noch immer täglich mit Bürden und Körben voller Kräuter vorüberwandernden Frau Jakob nach. So hatte sich denn bald Neid und Missgunst in den Herzen der übrigen Sammler eingeschlichen und einige beschlossen, den Kindern der Frau Jakob nachzugehen und ihr Tun und Treiben zu belauschen. Doch vergebens, denn wenn sie auch den Kindern nachschlichen, so entzog bald ein Dickicht, bald eine hervorspringende Felswand dieselben den Blicken der Spähenden. Wochen waren dahingegangen, dennoch war den Spionierenden nicht das geringste von den so günstige Erfolge bringenden Kräuterplätzen der Jägerkinder bekannt geworden.
Mittlerweile trat eine merkliche Veränderung in dem Äußern des Graumännchens, des Wohltäters von Franz und Marie ein, es wurde ernst und nachdenkend viel weniger gesprächig, die so schönen belehrenden Worte fielen immer seltener oft schossen drohende Blitze aus den sonst so freundlich und liebevoll schauenden Augen des Alten, die zwar einer andern Richtung galten doch die Kinder mehr und mehr beunruhigten. Da eines Tages als der Alte wieder recht grimmig hinausschaute, nahm Franz sich ein Herz ihn zu befragen: ob er oder die Schwester Veranlassung gegeben oder irgend etwas verschuldet hätten? Mit trüben aber freundlichem Blicke wandte sich derselbe den Kindern zu mit den Worten: „Nicht euch, meine Lieben, gilt mein Drohen, sondern den neugierigen und neidischen Menschen da draußen, die gern auskundschaften möchten, wo ihr eure gefüllten Körbe herholt, sie werden täglich zudringlicher. Nur mit Mühe halte ich sie fern. Ihr Gemüt wird härter, Nächstenliebe ist ihnen unbekannt daher hatte ich es aufgegeben, mit denselben zu verkehren. Bei euch fand ich wieder einmal unverdorbene Herzen, da erwachte wiederum meine Neigung aus alten Zeiten zu dem Menschengeschlechte, auch ich habe es früher geliebt und viel mit ihm verkehrt, erst als das unruhige Treiben und Jagen nach eingebildeten Glücksgütern unter den Menschen begann, ihre Herzen härter, neidischer, verstockter wurden, zog ich mich. Ihr habt noch einmal die Eisrinde in meiner Brust gesprengt und Erinnerungen aus alten Zeiten wachgerufen, darum habt Dank mein Wohlwollen begleitet euch noch ferner – doch für heute lebt wohl! Der Tag neigt sich zu Ende, eure Mutter erwartet euch.“ Damit entfernte sich der Alte mit trüben Blicken und verschwand zwischen den Felsen.
Die Kinder eilten nach Hause, fanden die Mutter ihrer harrend, denn sie waren länger als gewöhnlich ausgeblieben; auch die Erzählungen von dem ernsteren ja häufig drohenden Aussehen des Graumännchens in letzterer Zeit hatten Besorgnisse im Mutterherzen wachgerufen, die aber durch die heutigen Mitteilungen der Kinder sich in inniges Mitleiden über das Herzeleid des Alten verwandelten.
Als nach wenigen Tagen das Geschwisterpaar wieder die Berge aufsuchte, fand es seinen Alten wohl, aber noch ernster noch trüber aussehend. Er geleitete sie nicht wie sonst auf mit Pflanzen bedeckte Stellen, sondern in eine Höhle, die sie nie vorher bemerkt hatten. Das Graumännchen führte die Kinder tiefer in die Höhle, die sich erweiterte und erhellt wurde durch funkelndes Gestein an Decke und Wänden, bis in einen Saal, der an Pracht des Lichtes der Edelsteine alles übrige übertraf. Hier ließ sich der Alte auf einem Sessel von gediegenem Golde nieder, lud die Kinder ein, sich ähnlicher Sessel die um einen großen massiv silbernen Tisch standen, zu bedienen, dann hub er an: „Ich bin der Letzte eines Geschlechtes, das in seinem stillen, aber eingreifenden und mächtigen Wirken den Menschen zur Seite stand,, so lange diese noch einfach, bieder und leutselig waren. Ich und meine Genossen wirkten und sorgten in vielen Generationen und Familien Jahrhunderte lang, wenn auch meist unsichtbar. Hin und wieder auch in stiller Nacht gesehen, denn gerade wenn die Menschen ruhten, war unser Leben und Treiben am rührigsten. Hier halfen wir den Erkrankten, dort den Müden Arbeiten beenden, hier Vorräte einsammeln und waren zufrieden, wenn wir dann in glückliche Gesichter, auf denen das Dankbarkeitsgefühl geschrieben stand, schauten. Wurden wir auch ab und zu gesehen und beobachtet, so wurde uns nur vorsichtig und leise gedankt und wir durch laute Freudenäußerungen oder durch Bitten und Ansprüche nie beunruhigt und dieses war nach unserm Sinn. Doch die Zeiten haben sich geändert die Unruhe das rastlose Treiben, das Jagen nach Glücksgütern bei den Menschen, der dabei so häufig gestörte Frieden in den Familien, trieben uns fort und weiter fort in stillere Gegenden. Die meisten meiner Kameraden legten sich nach und nach zur ewigen Ruhe, vor nicht langer Zeit die letzten. So bin ich allein übriggeblieben, der auch müde geworden und sich nun der Ruhe jener erfreuen will. Ich nehme von euch Abschied mit der Genugtuung, dass ich für euer irdisches, noch mehr für euer Seelenheil gesorgt habe. Meine Lehren sind bei auch nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen, ihr seid gut, rechtschaffen und fleißig geworden, strebt immer weiter, das Wissen, das ich in euch gelegt, wendet an, es wird euch Nutzen bringen auf Eurem Lebenswege.“ Darauf reichte der Alte jedem der Kinder eine Hand, führte sie zum Eingange der Höhle zurück, wo sie ihre gefüllten Körbe fanden und nahm nochmals Abschied mit dem Hinzufügen: sie sollten nicht versuchen die Höhle aufzusuchen, diese sowohl wie er selbst, seien jedem sterblichen Auge entrückt. Mit Tränen in den Augen danken, ergriffen die Kinder ihre Krbe und sich umblickend, sahen sie nur schroffe Felsen, nichts von der Höhle, noch ihrem Wohltäter; ihnen war gewissermaßen der Vater zum zweiten Male gestorben.
Mit schwerem, trauernden Herzen traten Franz und Marie ihren Heimweg an und erzählten heimgekehrt der harrenden Mutter von den Abschiedsworten des Graumännchens. Wie staunten aber Mutter und Kinder über den Inhalt der Körbe, der außer den schönsten und seltensten Pflanzen noch soviel des edlen Metalles enthielt, dass ihre Zukunft gesichert war.
Bald verließ Martha mit den Kindern die alte Heimat, wo sie mach bitteres Weh, doch auch der Freuden viele erlebt, um in einer größeren Stadt für die fernere Ausbildung der letzteren zu sorgen. Franz widmete sich in der Folge dem Studium der Botanik, die Vorliebe für die Pflanzen dankte er dem Alten dessen Belehrungen so fruchtbringend gewirkt hatten, dass Franz in kürzester Zeit in einer Universitätsstadt dankbaren Schülern sein bedeutendes Wissen mitteilte.
Marie war in demselben Orte an einen berühmten Arzt verheiratet, die Mutter lebte bald bei einem oder dem andern ihrer Kinder mit der Pflege der Enkel beschäftigt, denn auch Franz hatte ein geliebtes und liebendes Weib gefunden. Manch´ stiller Augenblick war der Erinnerung ihrer Jugendjahre und ihres Wohltäters gewidmet. Wie ein schöner Traum begleitete sie dieses Gedenken auf ihrem Lebenswege und nichts würde zu ihrem Glücke gefehlt haben, wenn auch noch der so früh dahingegangene Vater daran teil genommen hätte. Das Ende des Vaters wurde auch noch aufgeklärt, indem ein sterbender, früher benachbarter Bauer erklärte, den am Walde schleichenden Mann für ein Wild angesehen und den unglückseligen Schuss abgegeben zu haben.
(Quelle: Neue Märchen seinen Lieben Enkeln erzählt vom Großvater, Verlag A. Weichert, Berlin, 1898)
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