Der Weihnachtsabend

In einem großen Tannenwald wanderte ein kleiner Knabe ganz allein. Tiefer Schnee lag auf dem Boden; es war sehr kalt und es dämmerte schon. Der Knabe hatte ein Bündel auf dem Rücken und während er langsam vorwärts ging, sah er ängstlich rechts und links. Endlich stand er still. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, die vor Kälte blau waren, und er rief ängstlich:
„Was soll ich tun! Ich habe den Weg sicher verloren. Wo bin ich? Die Nacht kommt, ich sehe keine Häuser, der Wald scheint endlos und ich werde hier vor Kälte sterben, wenn die Wölfe mich nicht erst fressen! Wenn die liebe Mutter hier wäre, würde sie sicher sagen, dass Gott helfen würde. Nun, ich kann versuchen, ob Er das Gebet eines Kindes erhört.“
Der Knabe kniet jetzt auf den Schnee nieder und während er betete, hörte er auf einmal entfernten Gesang. Erfreut sprang er auf, ging schnell durch das dichte Gebüsch und stand einige Minuten nachher vor der Tür eines kleinen Hauses im Walde, aus welchem die Töne eines Weihnachtsliedes schallten.
Die Musik klang so schön, dass das Kind die Tür öffnete und schüchtern herein blickte. In der Stube (Zimmer) stand ein künstlich aus Steinen, Moos und grünen Zweigen geformter Berg, an dessen Seite eine Höhle war, worin Joseph und Maria standen und wo das Christkind in einer Krippe lag.
Vor diesem künstlich geformten Berg saßen ein Mann, eine Frau und drei Kinder. Sie schauten das Christkind an und sangen ihr Weihnachtslied.
Als der letzte Vers zu Ende war, sprang die Frau auf und sagte:
„Es ist so kalt. Ist wohl die Tür offen?“
Sie ging auf die Tür zu und sah dort das Gesicht des kleinen Fremden.
„Ach, Kind! Was machst du da?“ rief sie erstaunt. „Komm doch herein. Du siehst a so kalt aus!“
Sie zog den Knaben in die warme Stube, machte die Tür zu, setzte einen Stuhl vor das Feuer und sagte freundlich:
„Setze dich dahin! Wenn du dich ein wenig erwärmt hast, kannst du mir sagen, woher du kommst und was du so allein in dem großen Wald tust.“
Nach einigen Minuten war der Knabe erwärmt genug, um ihre Fragen zu beantworten. Er erzählte, dass sein Vater im Kriege gefallen, dass die Mutter sehr krank gewesen und dass sie auch endlich gestorben sei. Er erzählte auch, dass er ganz allein auf der Welt sei, ohne Eltern, ohne Verwandte und ohne Geld.
Als die Mutter starb, hatte sie ihm gesagt, dass er zu ihrer einzigen Freundin in dem fernen Dorfe, wo sie einst gewohnt hatte, gehen sollte, und dass die Leute dort, obschon selbst sehr arm, ihm vielleicht Brot und Hilfe geben würden, bis er groß genug wäre, um sein eigenes Brot zu verdienen.
Als die Frau im Forsthause hörte, dass der Knabe eine verwaistes (ohne Vater und Mutter) Kind sei und dass er seit früh morgens gar nichts zu essen gehabt, gab sie ihm schnell eine gute, warme Suppe, ein großes Stück Brot und ein Stück Weihnachtskuchen dazu.
Während der Knabe aß und mit den drei Kindern plauderte, sprachen Mann und Frau zusammen. Die Frau sagte:
„Lieber Mann, hast du gehört! Der Himmel hat uns das Kind sicher hierher geschickt! Wir sind zwar nicht reich, aber wo es genug für fünf zu essen gibt, kann ein sechster auch etwas zu essen finden. Wenn wir unsere Kinder so jung allein in Welt lassen müssten, wie diese armen Eltern, würden wir sehr dankbar sein, wenn Jemand sie freundlich aufnähme.“
„Ja, das ist wahr,“ erwiderte der Förster. „Wenn der Knabe die Wahrheit gesprochen und er das Kind guter ehrlicher Leute ist, soll er bei uns ein Obdach finden.“
Der Förster rief jetzt den Knaben zu sich, stellte ihm noch einige Fragen und las die Papiere, welche der Knabe aus seinem Bündel zog. Der Förster fand dabei einen Brief von dem Kaplan des Regimentes, worin geschrieben stand, dass die Eltern des Kindes gute, ehrliche Leute gewesen und dass der Knabe selbst ein begabtes und folgsames Kind sei.
Nachdem der Hausvater diesen Brief gelesen, zögerte er nicht länger, dem Knaben zu sagen, dass er bei ihm bleiben solle.
August, so hieß der Knabe, war so froh hier zu bleiben, denn es gefiel ihm in der Försterfamilie schon gar gut. Mann und Frau waren beide so freundlich und mit den Kindern hatte er schon Bekanntschaft gemacht.
Ehe er zu Bett ging, stand der kleine August mit den anderen Kindern vor dem künstlich aus Moos, grünen Zweigen und Steinen geformten Berg und stimmte ein, als sie das Weihnachtslied noch einmal sangen.
Der Knabe, den die armen Leute so mitleidig in ihre Familie aufgenommen, war so gut und folgsam, dass sie nie bereuten, sich seiner erbarmt zu haben. August half immer, so viel er konnte. Er brachte der Frau Holz und Wasser, half ihr auch sonst im Hause und war immer munter und dienstfertig.
Die Försterfrau sagte oft: „August, du bist ein folgsamer, fleißiger Knabe und wenn meine Kinder immer so folgsam sind wie du es bist, werde ich eine glückliche Mutter sein.“
In der Dorfschule war August der fleißigste von allen Schülern und lernte so schnell und so gut, dass der Lehrer ihn sehr lobte. Zu hauste, wenn er nichts für die Mutter oder für den Vater tun konnte zeichnete August immer.
Jedes Stück Papier, jeder glatte Stein, jedes Stück glattes Holz war ihm dazu gut und bald konnte er Blumen, Bäume und Tiere so gut so gut zeichnen, dass die Försterfamilie sie sehr bewunderte.
Als der Förster einmal auf den Jahrmarkt ging, brachte er jedem der Kinder ein kleines Geschenk. August bekam da einen kleinen Malkasten. Der Knabe war so glücklich über dieses Geschenk, dass er seine Freude gar nicht genug aussprechen konnte und jetzt malte er sehr eifrig.
Eines Tages schickte ihn der Förster in das Schloss, um einige Vögel dorthin zu bringen. Unterwegs sah August einen Mann im Walde sitzen. Dieser malte eifrig und bemerkte August nicht, bis dieser voll Bewunderung ausrief:
„Ach, wie schön! Da ist der Bach und das Wasser sieht so klar aus. Da sind die bemoosten Steine und durch die Zweige des großen Baumes kann man hie und da einen Fleck blauen Himmels sehen.“
Der Künstler, denn es war ein Künstler, war über diese Bewunderung so erfreut, dass er mit dem Knaben sprach und als August ihm sagte, dass er so gerne Blumen und Bäume zeichnete, gab er ihm ein Stück Papier und sagte ihm, dass er den Baum auf seinem Bilde abzeichnen solle.
August setzte sich neben den Künstler hin und zeichnete eifrig. Seine Zeichnung war so gut, dass der Künstler den Förster besuchte und ihm sagte, dass August sehr begab sei und dass er ein Künstler werden solle.
„Da der Knabe verwaist ist und ohne Mittel, will ich ihn in mein Haus nehmen und ihm Unterricht geben,“ fügte er hinzu.
August ging nun mit dem Künstler in die Stadt und arbeitete sehr fleißig, aber jede Weihnacht bracht er bei der Försterfamilie zu. Als August siebzehn Jahre alt war, besuchte der Künstler den Förster wieder.
„Guter Förster,“ sagte er, „August ist ein guter junger Mann und er hat schon alles gelernt, was ich ihm lehren kann. Er wird einmal ein berühmter Künstler werden, aber dazu sollte er jetzt nach Italien gehen und fünf Jahre dort studieren. Das Geld zu der Reise kann ich ihm nicht geben, aber wenn Sie es ihm geben können, werden Sie es nie bereuen.“
Der Förster sann lange nach und entschloss sich endlich, seine kleinen Ersparnisse herauszugeben, damit August nach Italien reisen könnte, um dort die berühmten Kunstwerke und Künstler zu sehen und viel zu studieren.
August ging; er schrieb jedes Jahr an die Försterfamilie und die guten Leute freuten sich immer über seine Briefe. Nachdem er fünf Jahre in Italien gewesen, konnte August so schön malen, dass er einige Bilder verkaufen und das geliehene Geld dem Förster zurückschicken konnte.
Zugleich sandte August einen Brief und eine große Kiste. Der Förster las den Brief mit Freuden, denn August erzählte, wie gut es ihm gegangen, wie viel er gelernt und wie dankbar er dem Förster und seiner Familie sei, für all das Gute, dass sie ihm erwiesen. Dann fuhr er fort:
„Hiermit sende ich dir ein Bild, mein erstes und ich hoffe, dass es euch allen gefallen wird. Zum Andenken an den Weihnachtsabend, an dem ihr mich in euere Familie aufnahmet, habe ich eine heilige Familie gemalt.“
Als der Förster den Brief fertig gelesen, holte er den Hammer und öffnete die große Kiste. Daraus nahm er endlich ein wunderschönes Bild der heiligen Familie und die guten Leute konnten es nicht genug bewundern.
Mehrere Jahre vergingen wieder, der Förster wurde sehr krank und er musste sein erspartes Geld alles verbrauchen. Während seiner Krankheit war sein Sohn Christian Förster an seiner Stelle. Christian war ein braver, junger Mann und tat seine Pflicht sehr gut, aber ein böser Mann, welchen der Vater einmal hatte bestrafen müssen, weil er Holz gestohlen, schrieb dem Prinzen, dass der alte Förster krank sei und dass dessen Sohn träge sei.
Ohne die Sache zu untersuchen, schrieb der Prinz jetzt dem Förster einen Brief, indem er sagte, dass er auf Neujahr das Försterhaus übergeben solle und dass er seine Dienste nicht mehr brauche.
Als der arme Förster diesen Brief gelesen, war er sehr traurig. „Ach,“ sagte er, „der alte Prinz, der Vater dieses jungen Mannes, hatte mir versprochen, dass ich dieses Haus nie verlassen solle und dass Christian an meiner Stelle Förster sein solle, wenn ich zu alt dazu sein würde. Das bin ich noch nicht. Ich war nur krank; aber jetzt müssen wir alle verhungern, denn im Winter werden weder Christian noch ich Arbeit finden.“
Christian, der verheiratet war und zwei kleine Kinder hatte, war ebenso traurig; aber obgleich er in die Stadt ging, um den Prinzen zu besuchen, konnte er ihn nicht sehen.
Es war wieder Weihnachtsabend geworden. Die Försterfamilie saß wie vor zwanzig Jahren in der warmen Stube. Der Förster schaute das schöne Bild an, das August gemalt hatte und als die Kinder baten:
„Großvater, wir wollen doch das schöne Weihnachtslied singen,“ antwortete er:
„Ach, Kinder, ich kann nicht singen. Ich bin zu traurig. Wo werden wir nächste Weihnacht sein? Ach, wenn der gute August nur hier wäre, würde er auch traurig sein, denn er hat das Forsthaus auch lieb.“
Während der alte Mann so traurig sprach, hatte sich die Tür leise geöffnet und jetzt trat ein großer, junger Mann herein.
„Vater!“ rief er, „Vater, du hast Recht!“ Das Forsthaus ist mir sehr lieb! Sei nicht mehr traurig, du wirst noch manche Weihnacht hier zubringen können. Als ich gestern in der Stadt ankam, erzählte mir mein alter Lehrer alle deine Leiden. Ich kenne den Prinzen sehr gut. Er besuchte mich oft in Italien und stand gern dabei, während ich meine Bilder malte.
„Als ich hörte, dass er befohlen, dass du das Forsthaus verlassen sollest, ging ich sogleich zu ihm und erzählte ihm, dass der Mann, der ihm gesagt, dass Christian unfähig sei, als Förster zu dienen, ein Lügner sei. Der Prinz ließ den Mann kommen und fragte ihn, warum er den Christian und die ganze Försterfamilie verleumdet habe.
„Der Mann fiel sogleich auf die Knie, bat und Verzeihung und gestand Alles. Der Prinz gab mir ein Schreiben, das ich dir als Weihnachtsgruß überbringe.“
August zog jetzt ein Papier aus der Brusttasche und gab es dem Förster. Darin stand, dass der Förster im Hause bleiben solle, so lange er lebe und dass sein Sohn Christian Förster sein solle, wenn der Vater nicht mehr stark genug sein würde, in den Wald zu gehen.
Der Prinz sicherte Vater und Sohn einen viel größeren Gehalt zu, als sie noch e gehabt und die ganz Familie war sehr glücklich.
Der glücklichste von allen aber war der schon jetzt berühmte Künstler August, welcher der Försterfamilie endlich hatte helfen können, nachdem sie ihm so lange geholfen hatte.
(Quelle: Märchen und Erzählungen für Anfänger, von H. A. Guerber, D. C. Heath & Co, Boston, 1909)