Das Liedlein vom Kirschbaum – ein Gedicht von Johann Peter Hebel.
Zum Frühstück sagt der liebe Gott:
„Geh, deck dem Wurm auch seinen Tisch!“
Gleich treibt der Kirschbaum Laub um Laub,
vieltausend Blätter, grün und frisch.
Das Würmchen ist im Ei erwacht,
es schlief in seinem Winterhaus,
es streckt sich, sperrt sein Mündchen auf
und reibt die blöden Augen aus.
Und darauf hat´s mit stillem Zahn
an seinen Blätterchen genagt;
es sagt: „Man kann nicht weg davon!
Was solch Gemüs` mir doch behagt!“ –
Und wieder sagt der liebe Gott:
„Deck jetzt dem Bienchen seinen Tisch!“
Da treibt der Kirschbaum Blüt´ an Blüt`,
vieltausend Blüten, weiß und frisch.
Und´s Bienchen sieht es in der Früh
im Morgenschein und fliegt heran
und denkt: Das wird mein Kaffee sein;
was ist ds kostbar Porzellan!
Wie sind die Täßchen rein gespült!
Es streckt sein Züngelein hinein,
es trinkt und sagt: „Wie schmeckt das süß!
Da muß der Zucker wohlfein sein!“
Zum Sommer sagt der liebe Gott:
„Geh, deck den Spatzen auch den Tisch!“
Da treibt der Kirschbaum Frucht an Frucht,
vieltausend Kirschen, rot und frisch.
Und Spätzchen sagt: „Ist´s so gemeint?
Ich setz mich hin, ich hab App´tit,
das gibt mir Kraft in Mark und Bein,
stärkt mir die Stimm´ zu neuem Lied.“ –
Da sagt zum Herbst der liebe Gott:
„Räum fort, sie haben abgespeist!“ –
Drauf hat die Bergluft kühl geweht,
und´s hat ein bissel Reif geeist.
Die Blätter werden gelb und rot,
eins nach dem andern fällt schon ab,
und was vom Boden stieg herauf,
zum Boden muß es auch hinab.
Zum Winter sagt der liebe Gott:
„Jetzt deck, was übrig ist, mir zu!“
Da streut der Winter Flocken drauf. –
Nun danket Gott und geht zur Ruh!
entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952