Das Märchen von dem Witzenspitzel

Das Märchen von dem Witzenspitzel ist ein Märchen von Clemens Brentano.


Es war einmal ein König von Rundumherum, der hatte unter seinen vielen Dienern einen Edelknaben, der hieß Witzenspitzel. Er liebte ihn über alles und überhäufte ihn mit tausend Gnaden und Geschenken, weil Witzenspitzel ungemein klug und artig war und alles, was ihm der König gebot, mit außerordentlicher Geschicklichkeit ausrichtete. Wegen dieser großen Gunst des Königs waren die anderen Hofdiener sehr neidisch und bös auf Witzenspitzel; denn wurde seine Klugheit belohnt mit Gelde, so wurde ihre Dummheit bestraft mit Schelte, und erhielt Witzenspitzel vom König großen Dank, so erhielten sie von ihm großen Zank; kriegte Witzenspitzel einen neuen Rock, so zerschlug er auf ihnen einen neuen Stock; durfte Witzenspitzel des Königs Hand küssen, so traktierte der König sie mit Kopfnüssen.
Darüber wurden sie nun gewaltig zornig auf Witzenspitzel und brummten und zischelten den ganzen Tag und steckten überall die Köpfe zusammen und überlegten, wie sie den Witzenspitzel sollten um die Liebe des Königs bringen. Der eine streute Erbsen auf den Thron, damit Witzenspitzel stolpern und das gläserne Zepter zerbrechen sollte, das er dem König immer reichen mußte; der andere nagelte Melonenschalen unter die Schuhe, damit er ausgleiten und dem König den Rock begießen sollte, wenn er ihm die Suppe brachte; der dritte setzte garstige Mücken in einen Strohhalm und blies sie dem König unter die Perücke, wenn Witzenspitzel in frisierte und so versuchte jeder etwas, Witzenspitzel hereinzulegen. Witzenspitzel aber war so klug, behutsam und vorsichtig, dass alles umsonst war, und er alle Befehle des Königs glücklich zu Ende brachte.

Da nun alle ihre Anschläge nichts fruchten wollten, versuchten sie etwas anderes. Der König hatte einen Feind, mit dem er nie fertig werden konnte und der ihm alles zum Possen tat. Das war ein Riese, der hieß Labelang und wohnte auf einem ungeheuern Berg, wo r in einem dichten, dunklen Walde in einem prächtigen Schlosse hauste und hatte außer seiner Frau, die Dickedull hieß, niemand bei sich als einen Löwen Hahnebang und einem Bären Honigbart und einen Wolf Lämmerfraß und einen erschrecklichen Hund Hasenschreck, das waren seine Diener. Außerdem hatte er auch ein Pferd im Stall, Flügelbein genannt.

Nun wohnte in der Gegend von Rundherum eine sehr schöne Königin, Frau Flugs; der König Rundumherum, der gern alle anderen Länder um sein Land herum auch gehabt hätte, hätte die Königin Frau Flugs gar gerne zu seiner Gemahlin gehabt. Sie ließ ihm aber sagen, dass noch viele andere Könige sie auch gern zur Gemahlin hätten, dass sie aber keinen nehmen wolle als den Allergeschwindesten, und dass der, welcher am nächsten Montag, morgens um halb zehn Uhr, wenn sie in die Kirche gehe, zuerst bei ihr wäre, sie zur Gemahlin und mit ihr das ganze Land haben sollte.

Nun ließ der König Rundumherum alle seine Diener zusammenkommen und fragte sie: „Wie soll ich es anfangen, dass ich am Montag zuerst in der Kirche bin und die Königin Flugs zur Gemahlin bekomme?“

Da antworteten ihm seine Diener: „Ihr müßt machen, dass Ihr dem Riesen Labelang sein Pferd Flügelbein bekommt; wenn Ihr darauf reitet, kommt Euch niemand zuvor, und um dieses Pferd zu erhalten, wird niemand geschickter sein als der Edelknabe Witzelspitzel, der ja alles zustande bringt.“

So sagten die bösen Diener und hofften schon, der Riese Labelang werde den Witzelspitzel gewiß umbringen. Der König befahl also dem Witzelspitzel, er solle das Pferd Flügelbein bringen.

Witzelspitzel erkundigte sich nun recht genau, wie es bei dem Riesen Labelang beschaffen sei, und dann nahm er sich einen Schiebkarren und stellte einen Bienenkorb darauf und nahm einen Sack, da steckte er einen Gockelhahn hinein und einen Hasen und ein Lamm und legte den Sack auf den Karren; weiter nahm er einen Strick mit und eine große Schachtel voll Schnupftabak, hängte eine Kurierpeitsche um, machte sich ein Paar tüchtige Sporen an die Stiefel und marschierte mit seinem Schiebkarren ruhig fort.

Gegen Abend war endlich den hohen Berg hinauf, und als er durch den dichten Wald kam, sah er das Schloß des Riesen Labelang vor sich. Und es ward Nacht, und er hörte, wie der Riese Labelang und seine Frau Dickedull und sein Löwe Hahnebang und sein Hund Hasenschreck gewaltig schnarchten; nur das Pferd Flügelbein war noch munter und scharrte mit den Füßen im Stall.
Da nahm Witzenspitzel leise, leise seinen langen Strick und spannte ihn von der Schloßtüre von einem Baum zum anderen und stellte die Schachtel mit dem Schnupftabak dazwischen; dann nahm er den Bienenkorb und setzte ihn an einem Baum in den Weg und ging in den Stall, band das Pferd Flügelbein los und setzte sich mit dem Sack worin er den Hahn, das Lamm und den Hasen hatte, darauf, gab ihm die Sporen und trieb es hinaus.

Das Pferd Flügelbein aber konnte sprechen und schrie ganz laut:

„Dickedull und Labelang!
Honigbart und Hahnebang!
Lämmerfraß und Hasenschreck!
Witzenspitzel reitet Flügelbein weg!“

und dann galoppierte es fort, was gibst du, was hast du!

Da wachten der Labelang und die Dickedeull auf und hörten das Geschrei des Pferdes Flügelbein; geschwind weckten sie den Bären Honigbart und den Löwen Hahnebang, den Wolf Lämmerfraß und den Hund Hasenschreck auf, und alle stürzten zugleich aus dem Schloß hinaus, um den Witzenspitzel mit dem Pferd Flügelbein zu fangen.

Aber der Riese Labelang und seine Frau Dickedull stolperten in der Dunkelheit über den Strick, den Witzenspitzel vor der Tür gespannt hatte, und parauz – da fielen sie gerade mit den Augen und der Nase in die Schachtel voll Schnupftabak hinein, die er dahingestellt hatte, und rieben sich die Augen und niesten einmal über das andere Mal, und der Labelang sagte: „Zur Gesundheit, Dickedull!“ – „Ich danke“, sagte Dickedull; dann sagte sie: „Zur Gesundheit, Labelang!“ und „Ich danke“, sagte Labelang, und bis sie sich den Tabak aus den Augen geweint und aus der Nase geniest hatten, war Witzenspitzel schier aus dem Wald.

Der Bär Honigbart war zuerst hinter ihm drein; als er aber an den Bienenkorb kam, reizte ihm die Luft zum Honig und er wollte ihn fressen; da schnurrten die Bienen heraus und zerstachen ihn so, dass er halb blind zurück ins Schloß lief. Witzenspitzel war schon weit aus dem Wald, da hörte er hinter sich den Löwen Hahnebang kommen; geschwind nahm er den Gockelhahn aus seinem Sack, und als der auf einen Baum flog und zu krähen anfing, ward es dem Löwen Hahnebang sehr angst, und er lief zurück. Nun hörte Witzenspitzel den Wolf Lämmerfraß hinter sich. Da ließ er geschwind das Lamm aus seinem Sack laufen, und dem sprang der Wolf nach und ließ ihn reiten. Schon war er nahe der Stadt, da hörte er hinter sich ein Gebelle, und wie er sich umschaute, sah er den Hund Hasenschreck angelaufen kommen. Geschwind ließ er nun den Hasen aus dem Sack laufen, und da sprang der Hund dem Hasen nach, und er kam mit Flügelbein glücklich in die Stadt.

Der König dankte dem Witzenspitzel sehr für das Pferd; die falschen Hofiener aber ärgerten sich, dass er so mit heiler Haut davongekommen war. Am nächsten Montag setzte sich der König gleich auf sein Pferd Flügelbein und ritt zur Königin Flugs, und das Pferd lief so geschwind, dass er viel früher da war und schon mehrere Tänze auf seiner Hochzeit mit der Königin gemacht hatte, als die andern Könige aus der Gegend erst ankamen. Da er nun mit seiner Königin nach Hause ziehen wollte, sagten seine Diener zu ihm: „Ihr Majestät haben zwar das Pferd des Riesen Labelang; aber wie herrlich wäre es, wenn Sie auch dessen prächtige Kleider hätten, die alles übertreffen, was man bis jetzt gesehen, und der geschickte Witzenspitzel wird dieselben ganz gewiß herbeischaffen, wenn es ihm befohlen wird.

Der König bekam gleich eine große Lust nach den schönen Kleidern des Labelang und gab dem Witzenspitzel abermals den Auftrag. Als dieser sich nun auf den Weg machte, dachten die falschen Hofdiener, er würde zum zweiten Male dem Riesen Labelang gewiß nicht entgehen.
Witzenspitzel nahm diesmal nichts mit als einige starke Säcke und kam wieder vor das Schloß des Labelang, wo er sich auf einen Baum setzte und lauerte, bis alles im Schloß zu Bett sei. Als alles still geworden war, stieg er vom Baum herunter; da hörte er auf einmal die Frau Dickedull rufen: „Labelang, ich liege mit dem Kopfe zu niedrig, hole mir doch draußen ein Bund Stroh.“ Da schlüpfte Witzenspitzel geschwind in das Bund Stroh und Labelang trug ihn mitsamt dem Bund in seine Stube, stecke ihn unter das Kopfkissen und legte sich dann auch ins Bett.

Als sie ein wenig eingeschlafen waren, streckte Witzenspitzel die Hand aus dem Stroh und raufte Labelang tüchtig in den Haaren und dann die Frau Dickedull auch, worüber beide erwachten und, weil eines glaubte, das andere habe es gerauft, sich einander gewaltig im Bett prügelten; währenddem kroch Witzenspitzel aus dem Stroh heraus und setzte sich hinter das Bett.

Da sie wieder ruhig eingeschlafen waren, packte Witzenspitzel alle Kleider des Labelang und der Dickedull in seinen Sack und band diesen leise, leise dem schlafenden Löwen Hahnebang an den Schwanz; dann band er den Wolf Lämmerfraß und den Bären Honigbart und den Hund Hasenschreck, welche alle da schliefen, an die Bettlade es Riesen fest und machte die Tür weit, weit auf. Er hatte soweit alles in Ordnung; da wollte er aber auch dem Riesen seine schöne Bettdecke noch mitnehmen und zupfte ganz sachte, sachte an dem Zipfel, bis er sie heruntergezogen, wickelte sich hinein und setzte sich auf den Sack voll Kleider, den er dem Löwen an den Schwanz gebunden hatte. Nun wehte die kalte Nachtluft durch die offene Tür der Frau Dickedull an die Beine, sie wachte auf und rief: „Labelang! du nimmst mir die Decke weg, ich liege ganz bloß“ – „Dickedull! du hast mir die Bettdecke genommen“ -, darüber fingen sie sich wieder an zu schlagen und zu zanken, und Witzenspitzel fing laut an zu lachen. Nun merkten sie etwas und riefen: „Dieb da! Die da! Auf, Hahnebang! Auf, Lämmerfraß! Honigbart und Hasenschreck! Dieb da!“ – Da wachten die Tiere auf, und der Löwe Hahnebang sprang fort; weil er aber das Bündel angebunden hatte, worauf Witzenspitzel in die Bettdecke gewickelt saß, fuhr der wie in einem Wagen hinter ihm her und fing einigemal an, wie ein Hahn kikriki kikriki zu schreien; der kriegte der Löwe eine solche Angst, dass er immer, immer weiterlief, bis an das Stadttor, wo Witzenspitzel ein Messer herauszog und hinten den Strick abschnitt, so daß der Löwe, der im besten Ziehen war, auf einmal ausfuhr und so mit dem Kopf wider das Tor rannte, dass er tot auf die Erde fiel. Als die Wache in der Stadt den großen Stoß, den der Löwe gegen das Stadttor getan hatte, hörte, öffnete sie das Tor und Witzenspitzel brachte dem König die Kleider des Labelang und der Dickedull, worüber jener vor Freuden aus der Haut fahren wollte; denn noch niemals waren solche Kleider gesehen worden.

Die neidischen Hofdiener platzen bald vor Wut über Witzenspitzels Glück und brachten den König so weit, dass er Witzenspitzel befahl, ihm das Schloß des Labelang zu verschaffen, dann wolle er ihn belohnen. Witzenspitzel war nicht bange; er lief in das Schloß, und da er Frau Dickedull allein antraf, half er ihr beim Holzkleinmachen und schlug sie dabei mit der Axt tot. Als der Riese am Abend heimkehrte, fiel er in das Loch in dem Witzenspitzel die Dickedull begraben hatte worauf dieser dann soviel Steine in das Loch warf, dass der Labelang auch nicht mehr lang lebte.

Hierauf nahm Witzenspitzel den Schlüssel des Riesenschlosses und brachte ihn dem König Rundumherum, der sich sogleich mit der Königin Flugs und ihrer Tochter, er Prinzessin Flink, und dem Witzenspitzel nach dem Schloß begab und alles betrachtete. Dann fragte der König den Witzenspitzel, was er zur Belohnung für seine treuen Dienste haben wollte; da sagte er; die Prinzessin Flink, und die war es auch zufrieden; da wurde Hochzeit gehalten, und Witzenspitzel und die Prinzessin blieben auf dem Riesenschloß wohnen, und da leben sie noch glücklich bis auf diesen Tag.


Quelle: Neue Dichtermärchen, Münchener Jugendschriften 33, Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer, ohne Jahr