Das Schaf des armen Mannes

Das Schaf des armen Mannes – eine Erzählung von Rathlef Keilmann

Es lebten einmal zwei Bauern als Nachbarn in einem Dorfe. Der eine besaß hundert Schafe, der andere hatte nur drei. Der Arme liebte seine drei Schafe Er hatte aber zu wenig Futter, ums sie zu erhalten. Da sagte er eines Tages zu dem Reichen: „Erlaube, daß meine drei Schafe mit deiner Herde zusammen weiden. Ich habe kein Weideland mehr. Wenn auf deiner Wiese außer deinen hundert Schafen noch drei Tiere weiden, so merkst du es kaum.“ Der Reiche wollte es zuerst nicht zulassen, aber schließlich duldete er es doch. Und mit den drei Schafen durfte der kleine Sohn des Armen auf die Weide des Reichen gehen.
Nach einiger Zeit schickte der Herr des Landes zu dem reichen Bauern und ließ ihm sagen, er solle von seiner Herde ein fettes Schaf hergeben für seine Tafel. Der Bauer mußte den Wunsch erfüllen, aber er wollte von seinen hundert Schafen nicht gern ein Schaf abgeben. Und er befahl seinen Knechten, eins von den drei Schafen des Armen zu nehmen und es dem Herrn auszuliefern.
So geschah es denn auch.
Und der arme Hirtenjunge weinte über den Verlust des einen Schafes.
Bald darauf war im Schlosse ein Fest, und der Herr des Landes schickte wieder zu dem reichen Bauern und verlangte nochmals ein fettes Schaf. Auch diesmal wollte der reiche Mann keines von seinen hundert Schafen geben und ließ wieder ein Schaf des armen Mannes an den Dienern des Herrn übergeben.
Jetzt weinte der arme Hirtenjunge noch mehr, und er dachte sich: Wenn wieder ein Fest kommt und der Herr des Landes nochmal ein Schaf verlangt, dann werden sie mir mein letztes Schaf auch fortnehen. Ich will lieber mit meinem Schaf heimlich fortgehen und anderswo Weide suchen.
Lange wanderte er mit seinem Schaf, bis er an einen Berg kam. Er stieg hinan und fand ein großes, schönes Weideland. Schöne Blumen wuchsen da, und eine klare Quelle rieselte mitten durch die schattigen Wiesen.
Eines Tages nun dachte der arme Bauer: Ich muß doch einmal hingehen und nachsehen, was mein Junge und die drei Schafe machen.
Als er zu der Herde kam, fand er weder seine Schafe, noch seinen kleinen Sohn. Die Knechte des Reichen sagten ihm, sein Junge sei mit dem letzten noch gebliebenen Schaf auf und davon gegangen. Wohn, das wußte niemand zu sagen.
Traurig machte sich der Arme auf den Weg, seinen Jungen und sein letztes Schaf zu suchen. Er fragte die helle Sonne nach dem Weg, doch sie konnte es ihm nicht sagen. Dann bat er den wilden Wind, ihm den Weg zu weisen. Und der rauhe Geselle ergriff ihn und brachte ihn auf einen Berg. Da sah er eine grüne Wiese, auf der sein Sohn das Schaf hütete.
So blieb auch er in diesem Tale, denn das Schaf war das letzte, was er hatte, und das wollten die beiden gemeinsam behüten wie einen Schatz.
Da kamen einmal zwei Wanderer zu ihrem Weideplatz und sagten:
„Wir irren seit vielen Tagen in dieser Einsamkeit umher. Wir sind todmüde und matt. Dürfen wir bei dir die Nacht verbringen? Auch haben wir seit langem nichts gegessen, gib uns ein Stückchen Fleisch.“
Der Arme hatte Mitleid mit den beiden, die halbtot vor ihm im Grase lagen. Er schlachtete sein Schaf und speiste seine Gäste. Er wußte nicht, daß es der Herrgott und der Engel Gabriel waren.
Als es Nacht wurde, gebot einer der Wanderer dem Knaben, alle Knochen zu sammeln und in das Fell des Schafes zu legen. Das tat der Junge. Dann legten sich alle hin und schliefen ein.
Frühmorgens standen die Wanderer leise auf, segneten den schlafenden Mann und seinen Sohn und gingen leise fort.
Als nun der arme Mann erwachte und sich den Schlaf aus den Augen rieb, sah er eine große Herde, die friedlich weidete. Das Schaf, das er gestern geschlachtet hatte, stand gesund und unversehrt neben ihm.
Beglückt trieb der Mann seine Herde hinunter in sein Dorf. Jedem daheim mußte er erzählen, wie er die beiden Fremdlinge bewirtet hatte und wie ihm diese Herde geschenkt wurde.
Als ein reicher Nachbar das hörte, erfüllten ihn Neid und Mißgunst, denn die Schafe seines armen Nachbarn waren größer und schöner, und die Herde war doppelt so groß wie die seinige.
Der Reiche rief nun viele Bettler und Krüppel zusammen, schlachtete seine ganze Herde, briet das Fleisch und gab es den Armen. Die Knochen ließ er sammeln und in die Felle legen. Dann ging er schlafen und freute sich schon darauf, am nächsten Morgen doppelt und mehr Schafe wiederzufinden.
Aber als er aufwachte, da fand er nichts Lebendiges vor. Die Felle der toten Schafe mit den Knochen lagen da wie am Abend vorher. So hatte er alles verloren und blieb sein Leben lang ein armer Mann, und der reich gewordene Nachbar durfe jetzt helfen, so gut er konnte.

entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952


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