Der weiße Spatz

Der weiße Spatz – eine Erzählung von Otto Glaubrecht

Es war einmal ein Bauer, bei dem ging´s den Krebsgang von Jahr zu Jahr. Sein Vieh fiel Stück für Stück, seine Äcker trugen nicht die Hälfte von dem ein, was sie tragen mußten, und die Ellenbogen fingen bereits an durch das Wams zu sehen, während der Steuerpfänder und Pfandverleiher fast wöchentlich durchs Fenster hineinsah und höflich grüßend zu ihm sprach: „Es tut mir leid, Herr Rückwärts, Euch belästigen zu müssen, aber ich muß meine Schuldigkeit tun.“ Ihre Schuldigkeit mit Bitten und Raten und Helfen hatten auch bereits die Hausfreunde getan; aber einer nach dem andern war mit der Erklärung daheim geblieben: „Dem Rückwärts ist nich mehr zu helfen.“
Da war aber einer, der hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Wie der mit dem Rückwärts einmal hinter dem Glase saß, brachte er wie durch Zufall die Rede auf die Spatzen, erzählte von diesem Gevögel dies und das, wie gar erstaunlich sie sich mehrten, wie sie schlau und gefräßig wären, und der Rückwärts nickte dazu und meinte, seine Weizenäcker trügen seit langen nicht mehr so gut, zweifelsohne wäre der Spatzenfraß daran schuld. Der Hausfreund ließ es dahingestellt und fuhr fort: „Aber Nachbar, habt Ihr denn schon einen weißen Spatzen gesehen?“ – „Nein“, gab der Rückwärts zur Antwort, „die hier herumfliegen, sind alle grau.“ – „Glaub´s wohl“, sagte darauf der Nachbar. „Mit den weißen Spatzen hat es sein eigen Bewenden. Alle Jahre kommt nur einer zur Welt, und weil er ganz absonderlich ist, so beißen ihn die andern, und er muß sein Futter am frühen Morgen suchen und dann wieder zu Neste gehen.“ – „Das wäre!“ sagte Rückwärts, „den muß ich sehen, und geling´s, so fang ich ihn auch.“
Am nächsten Morgen in aller Frühe war der Bauer auf den Beinen und ging um seinen Hof herum, auch ein Stücklein ins Feld hinaus, ob der weiße Spatz nicht bald vom Neste käme. Aber der wollte nicht kommen, und das verdroß den Bauer; aber noch mehr, daß auch sein Gesinde nicht aus dem Neste wollte, und die Sonne stand schon hoch. Dazu schrie das Vieh in den Ställen vor Hunger, und es war niemand da, der ihm Futter gab.
Indem sieht er einen Knecht aus dem Hofe kommen, der trägt einen Sack auf der Schulter und will schnell zum Hoftor hinaus. Dem eilt er nach und nimmt ihm die Last ab; denn in die Mühle sollte sie nicht, sondern ins Wirtshaus, wo der Knecht stark in der Kreide stand.
Nach dem weißen Spatzen sehend, schaut der Bauer in den Kuhstall hinein, wo eben die Milchmagd einer Nachbarin durch das Fenster die Milch zum Morgenkaffee reicht, und die Milch war nicht mit des Herren Maß gemessen. „Eine saubere Wirtschaft das!“ denkt der Bauer und weckt scheltend sein Weib und erklärt, das lange Schlafen müsse ein Ende haben, und er wolle nicht Rückwärts heißen. Und bei sich selbst denkt er: „Stehe ich früh auf wie heute, so muß auch das Dienstvolk auf dem Hofe heraus, und dabei sehe ich am Ende doch den weißen Spatzen, und will´s das Glück, so fange ich ihn auch.“
Wie aber der Bauer das etliche Wochen so getrieben hatte, sah er nicht mehr nach dem weißen Spatzen, sondern dachte allein an seinen Vorsatz; und aus dem Rückwärts wurde bald ein Vorwärts. Und als der Nachbar wiederkam und ihn fragte: „Wie steht´s, Gevatter, habt Ihr den weißen Spatzen gesehen?“, da lächelte der Bauer und drückte dem Freunde die Hand und sagte: „Gott lohn´s Euch!“.

entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952


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