Das Wunder in der Mühle

Das Wunder in der Mühle – eine Erzählung von Rathlef Keilmann.

Es war einmal der Herrgott in der Gestalt eines armen Bettelmannes zu einem Müller gekommen und hatte um ein Almosen gebeten. Der reiche Müller wurde böse und sagte: „Geh nur, geh in Gottes Namen! Von deiner Art gibt es genug Leute! Ach, so viele! Ich kann doch nicht alle satt machen!“ Und er gab ihm nichts.
Zur selben Stunde kam ein Bauer zur Mühle. Der brachte einen Sack voll Weizen mit, um die Körner zu Mehl mahlen zu lassen. Der Bauer sah den Bettler, er hörte auch, was der Müller sagte. Da hatte er Mitleid mit dem Armen und sprach zu ihm: „Komm nur her! Ich will dir von meinem Weizen etwas geben.“ Da hielt der Bettler seine Betteltasche dem Bauern entgegen, und der Bauer schüttete ihm ein ganze Maß voll Weizen hinein.
Aber der Bettler hielt seinen Sack noch immer hin. „Willst du noch ein wenig?“ fragte der Bauer. „Wenn Ihr so gut sein wollt, ja!“ antwortete der Bettler. Da schüttete das Bäuerlein noch ein Maß voll in den Bettelsack.
Aber der Bettler hielt seine Tasche noch immer offen. Und das Bäuerlein schüttete noch ein drittes Maß hinein, so daß für ihn selbst nur wenig übrigblieb.
Der Müller stand dabei, sah das alles und dachte: Ist das ein Dummkopf, dieser Bauer! So viel gibt er weg! Für das Mahlen werde ich von ihm auch noch einen Teil nehmen. Das ist seine Zahlung für das Mahlen. Was bleibt ihm dann noch übrig?
Er nahm nun von dem Bauern den Weizen, schüttete ihn in die Mühle und fing an zu mahlen. Aber siehe da: Die Mühle mahlt und mahlt und hört nicht auf zu mahlen. Es dauert eine Stunde, noch eine, und das Mehl rieselt unten immerfort in die Säcke und will nicht aufhören. Wie seltsam. Es war nur ein Viertel Maß Weizen da, aber von dem Mehl ist schon zwanzigmal soviel in den Sack gerieselt. und noch immer mahlt die Mühle, und das Mehl rieselt und rieselt… Der Müller wußte nicht, wie das zuging. Der Bauer wußte nicht, wie er so viel Reichtum nach Hause tragen sollte. Er dachte in seinem herzen: Sollte der Bettler der Herrgott gewesen sein?


entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952


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