Der Kaiser im Untersberg.
Noch waren zehn Jahre nicht vorüber, als Luther seine Reformation begonnen. Da ging ein andächtiger Bürger von Reichenhall eines Sonntags nach der Frühmesse weit aus lustwandeln. Er kam an den Untersberg, sah mit Erstaunen den Berg offen wie durch ein Kapellenthörlein, darüber eine Inschrift mit silbernen Buchstaben, einer Sprache, die kein Sterblicher gehört. Ihm entgegen schritt ein eisgrauer, ehrwürdiger Mönch mit einem mächtigen Schlüffelbund, ganz in ein großes Buch vertieft. Eine ungeheure Pforte flog klirrend und praffelnd auf und auf einer schönen Wiese stand eine unendliche Kirche mit zweihundert Altären und mehr als dreißig Orgeln. Zweimal dreihundert Mönche sangen die Horen. Darauf schlug die große Glocke markerschütternd und doch lieblich an, und aus allen Winkeln kam zahlloses Volk zum Hochamt. Nach dem Gottesdienst bewirthete der Mönch den Reichenhaller Bürger köstlich und führte ihn umher in den Wendungen des Berges. Da sah er den Barbarossa, der einst in den Papsthändeln Salzburg mit Feuer und Schwert verwüstete, unter betäubendem Kriegeslärm, Trommelwirbel und Trommetengeschmetter und wehenden Fahnen, – dann wieder in einsamer Majestät den großen Karl mit dem langen Silberbart. Reicht der das zweite Mal die ganze lange Tafel herum, so bricht der jüngste Tag herein. – Lustwandelnd begegneten sie auch vielen unlängst verstorbenen Bayerfürsten, Herren und Frauen, Salzburger Erzbischöfen, Pröbsten von Bertholsgaden und St. Zeno. – Auf die Frage, was diese hier thäten, gab das Mönchlein dem Reichenhaller Bürger eine solche Maulschelle, daß er glaubte, alle neun Chöre der Engel singen zu hören und diesen Backenstreich bis an sein Lebensende verspürte. Doch wurde er wieder freundlich und schlug ihm uralte, mächtige Bücher auf aus Thierhäuten und Baumrinden. Darin stand Vieles von den Strafen der Gottlosen, von Türken und Schweden, vom Gräuel der Verwüstung, daß die Wölfe wieder in die Städte dringen und in Salzburg ihre Jungen hinter St. Ruperts Altar legen würden; von zwei großen Schlachtfeldern am Rhein und auf den Walserfeldern bei Salzburg und wie zuletzt der Barbarossa mit den Seinen aus dem Bergesdunkel steigen und den Sieg entscheiden werde. – Dann zeigte der Mönch dem Reichenhaller Bürger die zwölf betretenen Ausgänge aus dem Untersberg in verschiedenen Gegenden. In einer derselben wies er ihm einen dürren Birnbaum, der schon einmal umgehauen worden, aber aus der Wurzel frisch wieder ausgetrieben. Wenn der wieder umgehauen, noch einmal grüne und Früchte trüge, werde ein wehrhafter Bayerfürst zu dem Baume treten, seinen Schild daran hängen, allen Neidern und Widersachern obsiegen und Bayern groß machen.
Gütig entließ der Mönch den Reichenhaller Bürger auf den alten Weg. Bei jäher Todesstrafe verbot er ihm, sich umzusehen und bevor fünfunddreißig Jahre verflossn, Etwas von diesen Geschichten irgend einer lebendigen Seele zu offenbaren.
(Quelle: Sagenbuch der Bayerischen Lande, herausgegeben von A. Schöppner, M. Rieger´sche Universitäts-Buchhandlung, München, 1874)