Der kleine Karpfen

Ein kleiner Fisch wird wohl mal groß,
gibt Gott ihm dazu Zeit genug;
doch wer solch kleinen Fisch läßt los,
der ihm ins Netz geht, tut nicht klug:
Denn unwahrscheinlich, nein!
Man fängt ihn niemals wieder ein!

Ein Karpfen – wen´ger noch – ein winzig Kärpfelein
Ward eines Anglers erste Morgenbeute.
„Sieh an“, spricht der, „du bist zwar noch jung und klein,
doch hilft´s dir nicht, bist bald nicht mehr allein!
Der Anfang ist gemacht zum Essen heute!“

Das arme Fischlein flehte angstvoll, prophezeite:
„Was hast du schon an mir? Davon gehörten
an hundert wohl auf deinen Tisch.
Zum richt´gen Karpen laß mich doch erst werden;
fängst wieder dann den schweren Fisch,
verkaufst ihn auf dem Markt, der bringt was ein!
Doch mich zu schlachten, lieber Freund, laß sein!
Wohl hundert, wie gesagt, solch Karpfenbohnen
brauchst du für ein Gericht – das soll sich lohnen?!“

„Ob´s lohnt“, so sprach der Fischer, „überlasse mir,
du schlaues Freundchen, Kärpflein, soviel sag ich dir:
Noch heute kommst du in die Pfanne, und gar heiter
will ich dir lauschen, predigst du dort weiter.“

Denn besser ist ein Sperling in der Hand
als eine Taube auf des Daches Rand!


Der kleine Karpfen ist ein Gedicht von von Jean de Lafontaine (1621 – 1695)
(Quelle: Uralte Weisheit – Fabeln aus aller Welt, Deutscher Sparkassen- und Giroverband e.V., Bonn, ohne Jahr)