Der Menschenfresser – Erzählung von Christoph Schmid
Zwei Knaben aus der Stadt verirrten sich in einem fürchterlichen Walde und blieben dort in einem unansehnlichen, einsamen Wirtshause über Nacht.
Um Mitternacht hörten sie in der nächsten Kammer reden. Beide hielten sogleich die Ohren an die hölzerne Wand und horchten. Da vernahmen sie deutlich die Worte: „Weib, schüre morgen früh das Feuer ! Ich will unsere zwei Bürschlein aus der Stadt schlachten.“
Die armen Knaben empfanden einen Todesschrecken. „O Himmel, dieser Wirt ist ein Menschenfresser!“ sagten sie leise zu einander und sprangen beide zum Kammerfenster hinaus, um zu entlaufen. Allein zu ihrem neuen Schrecken fanden sie das Hofthor verschlossen.
Da krochen sie zu den Schweinen in den Stall und brachten die Nacht in Todesängsten zu. Am Morgen kam der Wirt, machte die Stallthür auf, wetzte sein Messer und rief: „Nun, ihr Bürschlein, heraus; eure letzte Stunde ist gekommen!“ Beide Knaben erhoben ein Jammergeschrei und flehten auf den Knieen, sie doch nicht zu schlachten. Der Wirt wunderte sich, sie im Schweinstalle zu finden, und fragte, warum sie ihn für einen Menschenfresser hielten. Die Knaben sprachen weinend: „Ihr habt ja heute nacht selbst gesagt, dasz ihr uns diesen Morgen schlachten wollt.“ Allein der Wirt rief: „O, ihr thörichten Kinder! Euch habe ich nicht gemeint. Ich nannte nur meine zwei Schweinlein, weil ich sie in der Stadt gekauft habe, im Scherze meine zwei Bürschlein aus der Stadt. So geht’s aber, wenn man horcht. Da versteht man vieles unrichtig, hat andere leicht in falschem Verdacht, macht sich selbst unnötige Sorgen, gerät in Angst und zieht sich manchen Verdrusz zu.“
(Quelle: Höheres viertes Lesebuch für amerikanische Schulen, American Book Company, ohne Jahr)