Der Schlitten

Der Schlitten ist eine Erzählung von Georg Ruseler.

Heiligabend war wieder da. Auf dem Tisch stand der Tannenbaum, und daran glänzten so viel Lichter, als hätte der Himmel alle seine Sterne dazu geschenkt.
Im Zimmer waren drei Kinder, Hans, Grete und Wiegenkind. Hans hatte einen Schlitten bekommen, Grete eine Puppe und Wiegendkind ein Paar hübsche kleine Schuhe. Aber daraus machte es sich nichts, weil es noch nicht laufen konnte – und es hatte nur Augen für die leuchtenden Sterne am grünen Tannenbaum. Grete nahm ihre Puppe und stellte sie auf die Erde und freute sich, dass sie tanzen konnte. Derweil besah Hans seinen Schlitten von allen Seiten, von hinten und von vorn, von unten und oben, von außen und innen, und als er damit fertig war, sagte er: „Das ist gar nicht mein Schlitten.“
„Warum nicht?“ fragte der Vater.
„Dieser Schlitten ist innen rot und außen blau, und ich hab´ mir´s gewünscht: von innen blau und von außen rot. Vater, du hast es sicher falsch bestellt!“
„Nein, dass du das vom Vater glauben kannst!“ rief die Mutter; „bestellt hat er´s schon recht, Christkindlein wird sich nur vergriffen haben.“
Da meinte Hans, das könnte er doch vom Christkind nicht denken. Wenn er nur den Weg wüßte, ging er ihm nach und fragte an, wie es stünde, und davon sprach er den ganzen Abend. Aber dann wurden die Kinder schläfrig, und die Mutter brachte sie ins Bett.
„Mutter“, fragte da das Büblein und schlief beinahe schon, „wo kam Christkind in unser Haus herein?“
„Zur Vordertür und ist auf die Diele geritten.“
„Und wo ging es hinaus?“
„Zur Seitentür.“
„Ei, die war ja viel zu niedrig für Pferd und Reitersmann!“
„Ist abgestiegen, Kind.“
„Und draußen stieg´s wieder auf? Wo ist es dann geblieben?“

    „Ritt erst durch den schweigenden Tannenwald,
    durch den wunderschönen Tannenwald,
    leuchtend von Schnee und bitter kalt.
    Hat zwei schwarze Raben gefragt:
    „Sind offen die goldenen Himmelstüren?“ –
    „Nein“, so haben die Raben gesagt. –
    „Gut“, sagt Christkindlein, „Geh ich spazieren!“
    Ritt dann übers glitzernde Eis
    von dem tiefen, tiefen Erlensee,
    band an sein Rößlein, wie Schnee so weiß,
    und stieg allein auf Bergeshöh.
    Glitschte darauf hinab ins Tal –
    und – wart einmal!“ –
    steig du, mein Büblein, auf schneeige Höh´n,
    dann kannst du unten, tief unten im Tal
    Christkindlein auf dich warten sehn!“

So sprach die Mutter und löschte leise die Kerzen; denn Bübchen hatte die Augen zu und schlief.
War Büblein wirklich eingeschlafen? Wir wollen´s morgen fragen, ob´s wirklich geschlafen hat oder gewacht. – Aber lauscht einmal. Büblein steht auf, leise, ganz leise, zieht, husch! Strümpfe und Hosen an, husch! linken und rechten Schuh, zieht lautlos die Jacke an, die warme Winterjacke, setzt seine Pudelmütze auf den Kopf, und eins, zwei! schlüpfen die Hände in die beiden Handschuhe, mit Pelz sind sie gefüttert.
Draußen vor der Tür steht der Frost, der gern die kleinen Kinder beißen möchte; aber Hansel fürchtet nicht den Frost, er macht die Tür auf und lacht ihm ins Gesicht. Dann geht er Christkindlein suchen, und seinen Schlitten zieht er hinter sich her, den Schlitten innen rot und außen blau. – Hat Büblein das Christkindlein gefunden? Laßt sehen!
Hans wandert durch den wunderschönen Tannenwald. Vor ihm im Schnee sind die Stapfen von zierlichen Pferdehufen. Das ist Christkindleins Roß gewesen, und so kann der Büblein des rechten Weges nicht verfehlen. Aber bitter kalt ist´s doch – macht nichts! Er zieht seine Pudelmütze über die Ohren und horch! leise, leise singen die Engel im Himmel, und durch die Tannen geht ein sanftes Rauschen:
„Ei, ihr Tannen“, sagt das Büblein, „habt ihr Zucker zu verkaufen oder Salz?“
„Nein, Wolle“, flüstern die Tannen.
„Was? Und ihr steht hier? Dann geht doch in Stadt und Dorf! Sind viele kleine Kinder darin, die haben Löcher in Socken und Strümpfen, die sollt ihr stopfen mit eurer Wolle; die Nadeln habt ihr ja dazu.“
Aber die Tannen regen sich nicht vom Fleck. Hans geht weiter, immer weiter durch den tiefen Schnee, und sacht gleitet sein Schlitten und wartet. Da kommen zwei Raben daher, der eine rechter, der andere linker Hand; die singen mit trauriger Stimme:

    „Quark, Quark! Uns hungert so stark!
    Wer schenkt einen Knochen mit Fleisch und Markt?
    Trübe die Zeit, und alles ist Quark.“

„Dann kommt morgen vor unser Küchenfenster“, sagt Hans, „da sollt ihr einen großen Schinkenknochen haben. Aber jetzt spannt euch flink vor meinen Schlitten, Christkindlein einzuholen!“
Und schau, was tun die Raben? Schlagen mit ihren Flügeln, heben sich ein wenig vom Boden, und im Sausen gleitet der Schlitten dahin! Hansen hüpft das Herz, hoch oben hüpfen funkelnde Sterne mit, und zu beiden Seiten hüpfen die ernsten Tannen. Sie werden ganz übermütig und bewerfen das Büblein mit blitzendem Kristall und köstlichem Gestein. Und dann kommen sie an den weiten Erlensee; der hat gar keinem Atem mehr, und er liegt in einem großen gläsernen Sarge.
„Hinüber!“ sagt Hans; aber die Raben meinen: „Nein, Hans, nun sind wir müde, und für einen Knochen haben wir dich lange genug gezogen. Ade!“
Büblein klagt: „Ach, wie komm ich nun weiter?“ Aber da packt der Wind den Schlitten und schiebt und schiebt, und – hastdunichtgesehn – geht´s im Saus über den glatten Spiegel des Sees, geschwinder als der Vogel fliegt, und bald sind sie am anderen Ufer.
„Weiter, Wind, weiter!“ ruft Hans; „nun schiebe mich auch den großen Berg hinauf!“
„Nein, Hans“, sagt der Wind, „ich bin ganz außer Atem, und der Berg ist mir zu steil. Ade!“
Was soll das Büblein nun machen? Aber schau, dort am Ufer steht Christkindleins Pferd! Das ist nicht größer als ein Pony, so weiß wie Schnee und so klug wie ein Pudel. Das hat Langeweile, und o spannt´s der Hans vor seinen Schlitten, innen rot und außen blau, und im Trab zieht es ihn den Berg hinauf und keucht nicht einmal.
Nun sind sie oben und halten still, und den Sternen sind sie so nahe, dass sie ein Schock davon greifen und in die Tasche stecken könnten. Ringsumher liegt die glitzernde Welt und leuchtet so weiß, als wäre sie aus eitel Zucker gemacht. Und aus dem Tal grüßt der helle Mond herauf. Aber nein, das ist gar nicht der helle Mond, das ist Christkindlein selbst, das schreitet langsam dahin. Da heißt Büblein das schneeweiße Roß dort oben warten und gibt dem Schlitten einen Ruck; denn abwärts geht es von selber. Ist das schön, zu fahren ohne Roß und doch schneller als mit dem Roß! „Halt, Hans!“ sagt rechts ein Fels – „halt!“ ein Eisblock links – „halt! sagt rechts eine Schlucht und links ein krüppeliger Kiefernwald. Aber Büblein kommt immer hindurch und vorbei. Und immer schneller wird die Fahrt, schneller als der Wind und schneller als der Blitz. O Gott, wie wird das enden? Schon sind wir Christkindlein auf den Fersen, und das schreitet unbekümmert dahin.
„Christkindlein, hilf!“ ruft Hans da in höchster Not, und sieh, da wendet´s sich, streckt ganz leicht die Hand aus und brr! da hält der Schlitten mit einem Male!
„Das war aber auch höchste Zeit“, ruft Hans; „noch einen Augenblick, und ich hätte dich überfahren!“
Da lächelt Christkind und sagt: „Ja, Hans, was wolltest du denn eigentlich?“
„Fragen wollt´ ich: Hat Vater einen Schlitten bei dir bestellt, innen blau und außen rot?“
„Das hat seine Richtigkeit.“
„Gar nicht“, sagt Hans; „du hast mir heute abend einen gebracht, der ist innen rot und außen blau. Hier, sieh nur selbst!“
Da lächelt das Christkind noch einmal ganz gütig und mild und spricht: „Aber, Hans, wo hast du denn deine Augen?“ Und – o Wunder – da ist der Schlitten wirklich außen rot und innen blau, und der Hans weiß gar nicht mehr, was er sagen soll als bloß zuletzt: Ich dummer Junge, wie komm´ ich nun wieder nach Hause?“
„Ja“, sagt Christkind, „mein Pferd, das brauch´ ich selber. Aber wart einmal; da hab ich in meiner Tasche noch zwei wunderschöne Träume, die spann´ ich vor deinen Schlitten, sie, so! und wird´s schon gehen!“
Und schau, die beiden wunderschönen Träume entfalten sacht die dunkelbraunen Flügel und fahrend Büblein wieder heim!
Ach, wird´s da so wohlig müde, und in der Ferne hörte es Christkindleins Stimme, leise, so leise: „Fahr wohl, kleiner Knabe, fahr wohl!“ Dann geht es sanft zurück über Berg und Tal, über den weiten See und durch den schweigenden Tannenwald. Und als es Morgen ist, liegt Büblein wieder in seinem weichen Bett und weiß nicht wie.
„Mutter, Mutter“, ruft es und reibt sich die Augen, „zeig mir rasch mal meinen Schlitten!“
Und als Büblein ihn besieht – nein, das sind aber Geschichten! – d ist er wiederum innen rot und außen blau.

(Quelle: Vor den Toren, August Bagel Verlag, Düsseldorf, 1952)