Die Engelswiese – Märchen von August Knoch

Die Engelswiese – Märchen von August Knoch

Das kleine Gretel war ein gutes, braves Kind, und alle Welt hatte es lieb. Aber sein Vater und seine Mutter starben ihm bald, und nun stand es ganz allein in der Welt. Es kam zur Schwester des Vaters, aber die war nicht lieb zu ihm. Sie strafte das gute Kind oft und ließ es die schwersten Arbeiten verrichten. Dann weinte und schluchzte das arme Gretel, und Menschen und Tiere hatten Mitleid mit ihm.
Einmal ging es in den Wald, um trockenes Holz zu holen. Es kam über den Steg und wollte über die Wiese gehen. Da stand eine Ente am Bach, die hatte einen silbernen Schnabel, und sie schnatterte und sagte:
„Gretelein, geh´ hinterdrein!“
Es verstand die Ente und ging immer hinter ihr her. Die Ente watschelte über die Wiese und war drüben auf einmal verschwunden.
Da kam ein Häschen aus der Hecke am Raine, das hatte silber-weiße Haare. Das guckte Gretel mit seinen großen Augen an und sprach:
„Gretelein, ich will dein Führer sein!“
Da hoppelte es vor dem Mädchen her durch das Feld, und Gretel folgte ihm. Doch als sie an den Wald kamen, war das Häschen auf einmal fort.
Auf einem Baume am Waldrande saß aber schon ein kleines Eichhörnchen, das knackte gerade ein goldenes Nüßchen. Schon kam es herunter und rief fröhlich:
„Gretelein, komm´ in den Wald hinein!“
Da ging das Kind weiter und weiter in den Wald. Das Eichhörnchen hüpfte von Ast zu Ast vor ihm her. Plötzlich war auch das verschwunden, und nun stand das kleine Mädchen ganz mutterseelenallein mitten im Walde vor einer großen, großen runden Waldwiese voll herrlicher Blumen ohne Zahl, blauer und roter und gelber. Und ein Duft kam ihm entgegen, viel süßer und seiner als der von Rosen und Veilchen.
Einen Augenblick blieb Gretelein stehen und bestaunte die Pracht. Da gewhrte es in der Mitte der Wiese einen dicken, dicken Baum, der hing voll goldener Äpfel, aber es war wirkliches Gold. Der Baum stand aber mitten auf einer kleinen Insel, und um die Insel war silberklares Wasser. Darauf schwammen schneeweiße Schwäne, und jeder hatte ein goldenes Kettchen im Schnabel, wie das Pferd einen Zaum, und auf jedem Schwan saß ein kleiner Engel, der ihn zügelte. Leise, ganz leise schwammen die Schwäne mit den Engelein durch die klare Flut. Jedes Engelein sah anders aus. Das eine hatte blaue Flügel wie Seide, das andere rote wie Sammet, das dritte gelbe wie aus Brokat, und dann kam ein goldener Hahn geschwommen, und mitten im Kahn saßen zwei geoldbeflügelte Engel mit silbernen Rudern. Die tauchten leise in das Wasser, und der Kahn zog langsam seine Bahn. Dazu sah man auf der Insel unter dem Baum viele Engel; die machten Musik auf silbernen Flöten, Harfen und Geigen, und nach dem Takte ruderen die Schwäne und fuhr das Schifflein. Aber rund um die prächtige Wiese standen sieben Bäumlein voll herrlicher Früchte, und unter jedem Bäumchen saß ein Engel.
Das war die Engelswiese, die das Kind vor sich sah und von der ihm sein liebes Mütterlein so oft erzählt hatte, aber das war ja schon lange, lange tot.
Als nun das Mädchen so halb traurig, halb glücklich dastand, hrte es plötzlich eine Stimme über sich:
„Gretelein, geh´ zu den Engelein!“
Es guckte nach oben und sah einen wunderschönen bunten Vogel, der hatte ihm so zugerufen.
Da folgte es dem Vogelruf, ging hin zum ersten Engelein unter dem Kirschbäumchen, gab ihm die Hand und sagte: „Guten Tag, Engelein!“ Der Engel sagte: „Guten Tag, Gretelein!“; schenkte dem Gretel Kirschen von seinem Bäumchen, und dann spielte er ihm etwas auf seiner silbernen Geige vor. Bald kamen noch viele Engel hinzu, und ein ganzer Engelchor spielte auf Geigen, Flöten und Trompeten, und alles auf der Wiese fing an wie Elfen im Tanze zu schweben. Und die herrlichen bunten Schmetterlinge, die umherflogen, und die Goldkäfer tanzten mit, und selbst die Blumen wiegten sich nach dem Takte.
Als der Tanz zu Ende war, dankte Gretel und ging zum nächsten Engel. Der saß unter einem Pflaumenbäumchen am Rande der Wiese. Es hingen ganz goldgelbe Pflaumen daauf. Das Englein schenkte ihm einige, und sie saßen zusammen und aen die zuckerfüßen Früchte. Da kam plötzlich ein Reh angelaufen. Es hatte ein goldenes Krönchen auf dem Kopfe. Das Engelchen hob Gretel auf das Reh. Weich und fest saß Gretel in dem Sattel mit den silbernen Steigbügeln, und dreimal lief das Reh mit ihm wie der Wind rund um die Wiese.
Dann stieg Gretel ab und ging zu dem dritten Bäumchen. Das war ein Apfelbäumchen, und das Engelein, dem das Bäumchen gehörte, schenkte ihm einige Äpfel, die wieder so gut schmeckten. Der Engel führte ds Mädchen an die Schaukel, und er schaukelte mit ihm auf und ab. Oh, wie ging das schön! Es bedankte sich und ging dann zu dem vierten Englein. Über dem hingen herrliche rote Pflaumen am Bäumchen. Davon aß es wieder, soviel es geschenkt kriegte. Als es die letzte aß, kam ein Schwan aus dem Wasser und setzte sich vor das Mädchen hin. Da schwang es sich darauf, und er ging mit ihm ins Wasser. Es faßte die goldenen Kettchen wie einen Zügel und es schwamm dreimal mit ihm um die grüne Insel. Dann setzte er es leise ins grüne Gras.
Das fünfte Engelein wartete schon auf Gretel. Von dem bekam es goldgelbe Birnen, denn es saß unter einem Birnbäumchen. Neben ihm in Grase lagen herrliche Puppen. Sie hatten rote und blaue und grüne und gelbe Kleidchen und Strümpfchen an. Da strich der Engel über sie, und sogleich wurden sie lebendig. Sie stellten sich paarweise an und führten einen Reigen auf, und das Engelein spielte dazu auf einer Harfe. Das war herrlich, und Gretel klatschte vor Entzücken in die Hände. Beim sechsten Engelein war´s aber noch schöner, das hatte ein Nußbäumlein mit goldenen Nüssen. Die schmeckten zu fein. Der Engel schenkte ihm auch genug und zeigte ihm dann sein Bilderbuch. Oh, war das schön! Wenn er mit seinen rosigen Fingern darauf zeigte, dann wurden die Bilder lebendig, kamen aus dem Bilderbuch und liefen über die Wiese. Bald waren es Kätchchen, bald Mäuschen, bald bunte Vögel, aber alle kamen sie wieder und wurden dann wieder zu Bildern. Das gefiel Gretel über die Maßen, und es hätte sich gar zu gern das Bilderbuch schenken lassen, aber das tat der Engel nicht.
Auch beim siebenten und letzten Engelein gefiel´s dem Gretel gar gut. Bei dem flog vom Bäumchen eine dicke gelbe Apfelsine, so schön, wie man sie nicht beim Kaufmann für Geld kriegen kann. Die nahm es mit, und der gute Engel, der an dem letzten Bäumchen in der Reihe saß, die rings um die engelswiese führte, brachte es zu dem großen Baum, der mitten auf der Insel stand. Da durfte es auch auf dem goldenen Schiffchen hinüberfahren. Es setzte sich darunter, und nun fielen drei dicke goldene Äpfel herunter. Die wickelte es in seine Schürze, denn es hatte ja feine, feine Kleider an. Die hatte ihm schon der erste Engel geschenkt, und es sah wie eine Prinzessin aus.
Von alledem war aber das Gretelein müde geworden, und nun wollte es wieder nach Hause. Da brachten es alle Engel bis an den Ausgang der Wiese und sangen ihm noch ein Abschiedslied. Der bunte Vogel flog immer vor ihm her und zeigte ihm den Weg und sang: „Gretelein, folg´ mir fein!“, und am Ausgang des Waldes saß das Eichhörnchen und warf ihm goldene Nüsse zu, und das Silberhäschen saß am Rain, machte ein Männchen und schenkte ihm ein goldenes Ei. Auch die Ente schnatterte vergnügt, kannte es wieder und legte ihm ein silbernes Kettchen um den Hals.
Als das Kind nun doch sehr lange fortgeblieben war, packte ihre Pflegemutter die Angst. Darum freute sie sich sehr, als es so reich beschenkt heim kam. Gretel erzählt von dem Glück auf der Engelswiese und wie es an die gestorbene Mutter gedacht hatte. Das gab der harten Tante doch einen rechten Stich ins Herz, und von Stund´ an nahm sie sich vor, liebevoller zu ihr zu sein. Sie hat ihm auch das Kettlein und die Goldäpfel treulich aufbewahrt. Gretel ist noch öfter in den Wald gegangen, um die Engelswiese zu suchen, hat sie aber nicht wiedergefunden.


Quelle: Hänsel und Gretel, 29. Band, Winter 1926/1927
Verlag für soziale Ethik und Kunstpflege, Berlin