Die Geige

Die Geige – eine Erzählung von Heinrich Simon.

Die Geige oder Violine wird von einigen Gelehrten wegen der vier deutlich erkennbaren Wirbel an ihrem Halse zu den Wirbeltieren gezählt, jedenfalls aber im Hinblick auf die regelmäßig an ihr vorkommende Schnecke und auf den Frosch des Geigenbogens dem Tierreich zugerechnet. Hierzu verleiten auch die eigentümlichen Töne, die ihr vielfach entlockt werden. Trotz alledam sind wohl diejenigen im Recht, die sie als ein musikalisches Instrument ansehen.

Die Geige ist fast so verbreitet wie das mit Recht so beliebte Klavier. Während dies aber eins der schwersten Instrumente ist, kann die Violine bequem mit einer Hand gehoben werden. Die Geigen sehen alle ziemlich gleich aus; um sie voneinander zu unterscheiden, gibt man ihnen allerlei wohlklingende Namen wie Amati, Stradivari usw. Die feineren Sorten sind, wie bei den Stiefeln, am Lack zu erkennen. Man unterscheidet auch echte und unechte Geigen; die echten sind häufig unecht, die unechten aber immer echt.

Die Geise ist mit vier Saiten bespannt und widerlegt damit den Satz, dass jedes Ding zwei Seiten hat. Die Saiten werden aus Därmen hergestellt; die besten kommen aus Darmstadt. Die vierte Saite heißt Quinte, vom lateinischen Quintus, der Fünfte. Diese ist am stärksten gespannt und platz deshalb am häufigsten, was vor allem im Konzert während eines zarten Adagios nie seine Wirkung verfehlt. Wenn man gerissene Seiten aus Sparsamkeit wieder zusammenknüpft, so emfiehlt es sich nicht, die Knoten gerade über dem Griffbrett anzubringen.

Etwa in der Mitte der Geige erhebt sich der sogenannte Steg; rechts und links von ihm befinden sich die F-Löcher, deren Zweck schwer einzusehen ist, denn größere Gegenstände lassen sich kaum durch sie in das Innere der Geige befördern. Es ist aber auch nicht zu empfehlen, etwa Geldstücke, Köpfe, Haarlocken oder dergleichen hineinzuwerfen, weil man sie schwer wieder herausbekommt und sie auch beim Spielen den Ton des Instruments nicht wesentlich verbessern. Am besten verzichtet man auf die Ausnutzung des Innenraumes ganz. Eine der schwierigsten Aufgaben der Geigentechnik ist es, ein Brotkügelchen so durch eine F-Loch zu pusten, dass es zum andern wieder hinausfliegt. Dies soll selbst Paganini nur ganz selten gelungen sein.

Wie bereits angedeutet, kann die Geige auch zur Erzeugung musikalischer Töne benutzt werden. Zu diesem Zwecke werden die Saiten mit Pferdehaaren bestrichen, die an dem Geigenbogen befestigt sind. Man reibt sie vorher mit einem Stück Kolophonium ein, das man sich von einem andern Geiger borgt. Hat man seinen Bogen vergessen oder versetzt, so kann man die Saiten auch mit einem Finger zupfen, wodurch das sogenannte Pizzikato entsteht. Sind Kranke in der Nähe, so dämpft man den Ton der Geige durch Aufsetzen der Sordine, die man zu diesem Zwecke aus der rechten Westentasche nimmt.

Man hat schon seit längerer Zeit bemerkt, dass man auch andere Töne als die der leeren Saiten hervorbringen kann, wenn man diese mit den Fingern der linken Hand an geeigneten Punkten auf dem Griffbrett drückt. Davon wird ziemlich häufig Gebrauch gemacht, und der angehende Geiger tut gut, sich jene Punkte zu merken. Allzu ängstlich braucht er dabei nicht zu sein, denn in der Umgegend liegen auch über all Töne und diese sind namentlich für das sehr verbreitete sogenannte unreine Spiel von größter Wichtigkeit. Ist man zu schwach oder nicht dazu aufgelegt, die Saite ganz herunterzudrücken, so entstehen die flötenartigen Flageolett-Töne; man unterscheidet natürliche, künstliche und unfreiwillige Flageolett-Töne. Das schwierigste aber bleibt immer, die leeren Saiten anzustreihen und dabei nicht mit der linken Hand an den Wirbeln herumzudrehen. Darin üben sich die größten Künstler unausgesetzt. Sie versuchen es vor jedem Stück von neuem, ja sie benutzen während des Spiels jeden freien Augenblich dazu. Was sie an dieser Aufgabe so reizt, ist schwer zu sagen; vermutlich ist es eben nur die Schwierigkeit der Sache, denn der musikalische Genuß, den diese Übung gewährt, muß als sehr mäßig bezeichnet werden.

Was die Haltung des Geigers betrifft, so drück er sein Instrument beim Spiel unter das Kinn, nimmt es aber unter den rechten Arm, wenn er pausiert oder wenn er sich fotografieren läßt.

Dem Pianisten gegenüber ist der Violinspieler dadurch im Nachteil, dass er beim Ankauf von Noten immer die dicke Klavierstimme mitbezahlen muss. Mit Rücksicht auf weniger bemittelte Geiger haben daher Komponisten von modernem sozialem Empfinden, wie namentlich Johann Sebastian Bach, auch Stücke für die Violine allein geschrieben.


Quelle: Der neue lachende Lesering, Bertelsmann Lesering, Gütersloh, ohne Jahr