Die Weihnachtsschicht

Die Weihnachtsschicht – eine Erzählung von Bernhard Faust.
Von der Löschrampe der Kokerei hob sich Rauch und hing lose Wölkchen um das feingliedrige Stahlgewirr des Förderturms. Ein Windstoß fegte aus Nordost eine Handvoll Schnee über die Halde. Da duckten sich die Wolkenschleier in den Schutz der Schachtanlage.
Auch auf der Hängebank, wo Mann hinter Mann, Knappe an Knappe, auf die Seilfahrt harrten, teilte sich die heimliche Lustbarkeit mit, die draußen in Schnee und Sturm tobte. Wartete nicht nach der Schicht festliche Freude, die Kinder daheim mit glühenden Backen und flüsternden Heimlichkeiten? Das war Glück, das ihr Gruß verhieß, das Glück über Tag, Weihnachtsglück.
Aber von diesen fröhlichen Stunden trennte die Bergarbeiter noch die Arbeit, eine Schicht, die Weihnachtsschicht.
Um Abbauhammer, vor der Schrämm-Maschine – überall von Ort zu Ort wurde es eine fröhliche Schicht. Auch in der Gedingegruppe, zu der Schneider gehörte. Aber eine neue Schüttelrutsche, eine fünf Meter lange eiserne Laufbahn für den Abfluss der Kohlen, musste in die Strebe gebaut werden, damit die erste Schicht nach dem Fest nicht schwerfalle. Es war ein hartes Stück Arbeit, doch das Lachen schwand trotzdem nicht an diesem Tag. Erst recht nicht, als der Steiger durch den Schichtmeister sagen ließ, eine Nachbarin Schneiders habe ihn angerufen und die Nachricht gebracht, dass die Frau des Schleppers einen Knaben geboren hatte, das schönste Geschenk unterm Weihnachtsbaum.
Hatte sich die Hast, die alle festtäglich umschloss, der Überschwang der Gefühle ihrer zu stark bemächtigt, dass sie die Vorsicht vergaßen? Jedenfalls versagte ein Mann, als die Rutsche in die Strebe eingelassen wurde, ein Arm war zu schwach gewesen und die Kette wurde einer Hand entrissen und sauste talab, gezogen durch ihre Wucht und Schwere. Das Unheil, das auf sie lauerte, traf den Glücklichsten ihrer Schicht: vierzig Meter tiefer grub Schneider ein Bett für das Teilstück der Rutsche, die sie herabseilten und noch im Traum seines väterlichen Stolzes, im Traum seines Glücks, drohte ihm der Verlust dessen, was er als Weihnachtsgabe erhalten hatte.
Was half es, dass die Kameraden schrien und zum Zeichen der Gefahr die Lampen schwenkten? Schmal im Raum, bot die Strebe kaum einen Durchschlupf für einen lang ausgestreckten, kriechenden Menschen und die Frist war zu kurz bemessen, die zur Flucht blieb. Aber in den wenigen Sekunden, die ihm das Leben zur Entscheidung bewilligte, erbarmte sich sein weihnachtliches Hoffen, die Liebe und ihr Trotz, und in dem Schutz dieser Zuversicht, dass er, um des Kindes willen, nicht sterben könne, nicht sterben dürfe, dass er leben müsse, wühlte er im Hinstürzen einen Wall aus Staub und Kohlentrümmen in halber Höhe auf und steckte dem nahenden Unheil zur Abwehr die Schaufel entgegen.
Was keiner glaubte, gelang, ehe noch ihr Entsetzensschrei verklungen war. Das Eisen der Schüttelrutsche fraß sich in den letzten Stempel fest, hob ihn aus dem Bühnloch und stauchte in die aufgehäuften Kohlen, fuhr dem Hauer mit einem letzten Stoß in die Glieder, aber zermalmte nicht sein Leben. Er fluchte, jammerte, schrie, aber er lebte. Als man ihn nach der Unfallstelle brachte, stellte sich heraus, dass der Schaden nicht so groß, der Fuß nicht gebrochen, wenn auch von einem äußerst schmerzhaften Bluterguss durchzogen war. Das Beste, man fuhr den Verunglückten gleich hinüber zum Grubenarzt.
Doch seltsam, davon wollte Schneider nichts wissen; er wehrte sich mit allem Ungestüm dagegen. Wenn die Verletzung nur eine Sache des Schmerzes sei, erklärte er, und nicht lebensgefährlich, dass die Arbeitsfähigkeit nicht für immer behindere, wolle er sich dem Schicksal dankbar erweisen und denen, die daheim warteten, die Freude nicht verderben. Dieser Gedanke beherrschte ihn und man brachte ihn nicht davon ab. Tapfer hing er sich an den Arm eines Kameraden und humpelte mühsam nach Hause.
Still saß er dann am Bett seiner Frau und sagte dankbare Worte, wenn sie klagte, dankbar sorgte er für ihre leidende Ungeduld. Zuweilen biss er ratlos die Zähne zusammen, wenn das gestaute Blut durch den geschwollenen Klumpen stach, ja, zuletzt blieb ihm nichts übrig, als die Nachbarin, die zur Pflege der Wöchnerin gekommen war, ins Vertrauen zu ziehen. Mit ihrer Hilfe wurde er Herr der frommen Lüge, die keinen Schatten duldete im Schimmer der Kerzen.
Dicht am Baum stand das Geschenk dieses Jahres, das Körbchen, in dem das Kind lag, die große Freude ihrer Wünsche. Ein Gesichtlein, kaum eine Manneshand an Umfang, schaute daraus empor mit verwundert staunenden, lichthungrigen Augen. Ein unsagbar süßes Dankgefühl durchdrang den Hauer unter diesen unschuldsklaren Blick, als spräche zu ihm das höchste Wunder aller Dinge. In der Andacht dieser Stunde und im Nachklang ihrer Seligkeit überwand er alle Schmerzen, die er litt, – drei Tage überwand er die Qual seiner Verletzung, überwand sich selbst, ehe er, mit unbeholfen stammelnden Worten, seine Tat gestand und bereit war, sich zum Arzt führen zu lassen.
Doch das geschah später, nach Stunden, Tagen, Ewigkeiten seines Glücks. Heute wich er nicht von der Wiege, hielt heimlich die Hände gefaltet und hütete sein rauhes, unbezähmbares Gemüt vor jeden lauten Wort.
Draußen hüllte der Schnee den kostbarsten Schatz in Wärme und Schutz, das Förderrad hielt stumm in seinem Schwung und die Sterne staunten am Himmel. Mit lächelnder Liebe beugte sich die Mutter über das Kind in der Krippe.