Die Wolke ist eine Erzählung von Robert Reinick.
An einem heißen Sommermorgen stieg ein kleines Wölkchen aus dem Meere auf und zog leicht und freudig, wie ein blühendes, spielendes Kind, durch den blauen Himmel und über das weite Land, ds nach langer Dürre verbrannt und traurig dalag.
Wie die kleine Wolke so dahin schwamm, sah sie unten die armen Menschen im Schweiße ihres Angesichts sorgenvoll arbeiten und sich abmühen, während sie doch selbst von Sorge und Mühe nichts wusste und vom leichten Morgenhauch einer reinen Luft ganz von selbst fortgetrieben ward.
„Ach,“ sprach sie da, „könnte ich doch für die guten armen Menschen da unten etwas tun, ihre Mühe erleichtern, Sorgen verscheuchen, den Hungrigen Nahrung verschaffen, die Durstigen erquicken!“ –
Und der Tag schritt immer weiter vor und die Wolke warm immer größer; und wie sie so wuchs, ward der Wunsch, den Menschen ihr Leben zu weihen, immer mächtiger in ihr.
Auf der Erde aber wurde es immer heißer, die Sonne brannte glühend und drückte schwer auf die arbeitenden Leute, sie wollten fast verschmachten und doch mussten sie arbeiten, denn sie waren sehr arm.
Da warfen sie einen bitteren Blick zu der Wolke herauf, als wollten sie sagen: „Ach, könntest du uns helfen!“
„Ja! ich will euch helfen!“ sprach die Wolke und sogleich begann sie zur Erde sich leise herabzuneigen.
Aber nun fiel ihr auch ein, was sie im Schoße des Meeres einst als Kind gehört hatte, nämlich, dass die Wolken, wenn sie zu tief zur Erde sich hinabsenken, den Tod fänden.
Eine Zeitlang schwankte sie und ließ sich von ihren Gedanken hin und her treiben, endlich stand sie still und sprach kühn und freudig: „Ihr Menschen, ich helfe euch, geschehe was da wolle!“
Dieser Gedanke machte sie plötzlich riesengroß und stark und gewaltig. Sie selbst hatte vorher nie geahnt, dass sie solcher Größe nur fähig wäre. Wie ein segnender Gott stand sie über dem Lande da und erhob ihr Haupt und breitete ihre Schwingen weithin über die Gefilde. Ihre Herrlichkeit ward so groß, dass der Mensch und das Tier davor erschraken, dass die Bäume und das Gras vor ihr sich neigten, aber alle ahnten wohl, das sei ihre Wohltäterin.
„Ja, ich helfe euch!“ rief die Wolke abermals. „Nehmt mich hin, ich sterbe für euch!“
Es war ein gewaltiger Wille, der sie dabei durchzuckte. Ein höheres Licht durchglühte sie, Donner durchbrausten sie, von einer unendlichen Liebe ward sie durchströmt: sie senkte sich nieder auf die Erde und zerfloss in segenträufenden Regen. – –
Dieser Regen war ihre Tat, dieser Regen war ihr Tod, in ihm sollte sie verklärt werden.
Über das ganze Land, so weit der Regen sich ergoss, hob sich ein leuchtender Farbenbogen, gebildet aus den reinsten Strahlen des Himmels, er war der letzte, sichtbare Gruß einer sich aufopfernden, großen Liebe.
Doch auch er schwand nach kurzer Zeit dahin, aber der Segen der Wolke blieb den beglückten, geretteten Menschen für lange Zeiten zurück.
Quelle: Robert Reinicks Märchen-, Lieder- und Geschichtenbuch, Verlag von Velhagen & Klasing, Bielefeld und Leipzig, 1896