Ernst Ludwig von Gerlach

Ernst Ludwig von Gerlach – die Lebensgeschichte, beschrieben von Alexander von Padberg.

Als ich im Juli 1866 als Mitglied der Regierung meinen Wohnsitz in Magdeburg genommen hatte, galt einer der ersten Besuche dem Chefpräsidenten des Appellationsgerichtes, von Gerlach. Der stattliebe Mann, gewinnend und vornehm in seinem Äußeren, das in keiner Art ein Alter von 70 Jahren vermuten ließ, empfing mich, den 33jährigen Regierungsassessor, freundlich mit den Worten: „Ich verkehre gern mit Katholiken, um katholisches Wesen und katholischen Glauben kennen zu lernen. Die meisten Protestanten sind überaus unwissend in Bezug auf die katholische Kirche.“ Seil August 1857 zum zweitenmale verwitwet und kinderlos, pflegte der Präsident von Gerlach in den Stunden, die Amt und anderweite rege Tätigkeit frei ließen, eine freundliche vornehme Geselligkeit mannigfacher Richtung. So wurde es auch mir zuteil, nicht nur bei festlichen Einladungen, sondern in einsamen Abendstunden Gast in seinem Hause sein zu dürfen. Diefer Verkehr hat bis zu seinem Tode im Februar 1877 bestanden. Gerlach war liebreich und edel genug, mir, dem, dem Jüngeren, manche Stunde zu widmen. Indem meine Verehrung gegenüber dem seltenen Manne wuchs und die Lehrzeit nicht erfolglos blieb, darf ich jenes Jahrzehnt als zu den schönsten meines Lebens gehörend bezeichnen und daran den Verfuch knüpfen, von dem Lehrer und Freunde in den gelben Heften zu erzählen. Ich tue es im Anschluß an das im August 1903 von Jakob von Gerlach, dem Neffen, herausgegebene zweibändige Buch: „Ernst Ludwig von Gerlach. Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken.“ Der erste Band enthält die Jahre 1795-1848, der zweite 1848-1877. Oftmals habe ich auch das eigene Tagebuch benutzt.

Der im 75. Lebensjahre stehende Herausgeber beginnt das Lebensbild mit folgenden Worten:

„Noch klingt der Name, der über diesem Buche steht, mit ernftem Tone zu uns in eine neue Zeit hinüber, warnend und mahnend wie eine Prophetenstimme des alten Bundes. Und was gibt diesem Namen die Kraft, an die Seele zu greifen? Eine Persönlichkeit stand dahinter, die ihren Zeitgenossen zurief: Trinkt nicht vom Taumelkelch des Zeitgeistes, macht eueren Verstand klar und helle an Gottes Wort, damit ihr erkennen könnt, was Wahrheit und Gerechtigkeit ist. – Als sein Vaterland in ernster Gefahr war, wußte Ludwig vou Gerlach die Besten feines Volkes zu stärken durch den Anblick der Kreuzesfahne, die er vor aller Augen mutig und stark entfaltete. Viele vermochten sich daran aufzurichten und gesundeten von dem Schlangenbiß der Geister des Abfalles, des Kleinmutes uud der Schwäche.“

Der Vater Ludwig von Gerlachs, Leopold von Gerlach (1757-1813), vermählte sich 1786 mit Agnes, der ältesten Tochter des fürstlich anhaltischen Kanzleidirektors Dietrich von Raumer. Der Wohnsitz war Berlin, wo Leopold von Gerlach später Präsident der kurmärkischen Kriegs- uud Domänenkammer, sodann Oberbürgermeister von Berlin war. Außer einer Tochter entsprangen dieser Ehe in den Jahren von 1789 bis 1801 vier Söhne, unter ihnen Ludwig 1795. Diese drei Brüder sind mit dem Werde- und Lebensgange Ludwigs aufs unzertrennlichste verknüpft. Wilhelm war Oberlandesgerichtspräsident, Otto Konsistorialrat, Hof- und Domprediger, Leopold (1790-1861) General der Infanterie und Generaladjutant Friedrich Wilhelms IV. Leopold hat eine vierbändige Famniliengeschichte geschrieben, die Ludwig mit Zuzätzen versehen hat. In einem solchen heißt es:
„In unserem väterlichen Hause waren nicht die Sitten und Allüren des ritterschaftlichen Landadels vorherrschend, sondern vielmehr die eines höheren Beamtentums. Ich lege Wert auf diese Abstammung: was wir von politischer Bedeutung haben, stammt nächst Glauben und Gesinnung daher. Ich füge noch folgendes hinzu. Wir vier Brüder waren weder Raucher, noch Schwimmer, noch Jäger; keiner von uns sagte je: mein „seliger“ Vater oder: meine „selige“ Frau, oder; Friedrich „der Große“ – keiner trug bei zum Kölner Dombau oder zur Gustav Adolf_Stiftung, – keiner trug, wo er nicht mußte, Orden, – keiner von uns besuchte das Theater, mindestens seit 1820 nicht, und Leopold legte auf diefen Nichtbesuch einen scharfen prinzipiellen Akzent- obgleich er bei Hofe die Theateratmosphäre mit vollen Zügen einatmete. Keiner von uns war Freimaurer. Wir waren immer voll Interesses für Menschen, für neue Bekanntschaften und flossen über von Gesprächen darüber; wir lasen fortwährend – auch unser Vater bis an sein Ende – Bücher, die uns in hohem Grade anregten und interessierten.“

Ludwig von Gerlach wurde nach Erledigung der Gymnasialstudien 1810 als der fünfte Student der neuen Universität Berlin immatrikuliert, und ging 1812 nach Göttingen und Heidelberg, um Iurisprudenz zu studieren. „Sie interessierte mich – erzählt er — wenig, mehr: Aesthetik, englische Sprache, schöne Natur, Geselligkeit. Ich denke mit Schmerz daran, wie oberflächlich der kolossale Feldzug in Rußland mich berührte und wieviel mehr z. B. Don Quixote in der Ursprache.“ Gleichwohl verließ er 1813 auf die Kriegsnachrichten hin Heidelberg und traf in das erste ostpreußische Infanterieregiment als freiwilliger Jäger ein. Er kam von den Brüdern zuerft an den Feind und erhielt in dem Gefecht bei Merseburg einen Schuß in den Oberarm und einen in das Bein. Er wurde nach Dessau gebracht, wo ihn die Tante Raumer pflegte. Nach Aufkündigung des Waffenstillstandes gingen die drei Brüder zur Armee zurück, Ludwig nach Schlesien wieder in sein altes Regiment. Er machte die Gefechte bei Lindenberg und Goldberg und die Schlacht an der Katzbach mit. Am 2. Oktober 1813 wurde er Offizier und machte als solcher die Schlacht bei Leipzig mit, wo er abermals durch einen Schuß in den Oberschenkel verwundet wurde. Jm Januar 1814 konnte er, kaum genesen und noch hinkend, zur Armee wieder abmarschieren. Nach dem Feldzuge von 1815, in dem er keine Wunde, aber zwei Orden erhielt, trat er in den praktischen Justizdienst und bestand am 20. Januar 1820 sein drittes Examen. Sein fernerer äußerer Lebensgang gibt Zeugnis für eine außerordentliche Tüchtigkeit. Er wurde im Alter von 25 Jahren zur Vertretung eines Oberlandesgerichtsrates nach Naumburg geschickt, drei Jahre später selbst Oberlandesgerichtsrat, nach abermals drei Jahren Hilfsarbeiter beim Obertribunal, und nach drei ferneren Jahren Landesgerichtsdirektor in Halle. Jm Jahre 1835 kam er als Nachfolger seines dort gestorbeneu Bruders Wilhelm als Vizepräsident des Oberlandesgerichtes nach Frankfurt a. O., 1842 wurde er Geheimer Oberjustizrat, bald darauf Mitglied des Staatsrates sowie der Gesetzgebungskommission und 1844 im 49. Lebensjahre Chefpräsident des Oberlandesgerichtes in Magdeburg.

Im Jahre 1849 gründete Ludwig von Gerlach mit Wagener die noch heute bestehende Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung. Er war damals Mitglied der Ersten Kammer 1850 auch Mitglied des Erfurter Parlamentes sowie 1851 und 1852-1858 wiederum Mitglied der Ersten Kammer. Im Jahre 1858 beim Beginn der Regentschaft durch den späteren König und Kaiser Wilhelm I., trat er von der Führung der konservativen Partei zurück. Jm Juli 1874 erhielt er den erbetenen Abschied aus dem Amte des Ersten Präsidenten des Appellationsgerichtes und eines Mitgliedes des Staatsrates. Faft 83 Jahre alt, ift Ludwig v. Gerlach am 18. Februar 1877 am Herzschlage gestorben. Er war zwei Tage vorher auf der Straße von einem schweren Postwagen überfahren und an Kopf und Arm schwer verletzt worden. Die Grabstätte ist an der Seite des Vaters auf dem alten Domkirchhofe an der Elisabethstraße in Berlin.

Ein langes Menschenleben hindurch hat Gerlach an erster Stelle in den politischen Kämpfen seiner Zeit und seines Vaterlandes gestanden. Darum haben die Aufzeichnungen seiner Tagebücher einen unvergänglichen Wert als lautere Geschichtsquelle. Namentlich für die Regierungszeit des Königs Friedrich Wilhelm IV. (1840-1858), dem er zusamt mit den Brüdern Leopold und Otto nahe gestanden hat. Im engeren Kreise sprach Ludwig nicht ungern von diefer einflußreichen „Kamarilla“. Von ihr soll der König einmal gesagt haben: Otte, den Theologen und späteren Hofprediger, achte er, Leopold, den späteren General, liebe er, Ludwig fürchte er. Des letzteren Charakter und Herz waren von einer seltenen sittlichen Reinheit. Frei von persönlichem Ehrgeiz erfüllt und beherrscht von den höchsten Ideen des kirchlichen und staatlichen Lebens; von unbestechlichem Gerechtigkeitssinn, so daß seine Rechtsprechung und sein Urteil auch von den Todfeinden gerühmt wurde, edel durch Offenheit und Wahrhaftigkeit: fo steht das Bild des herrlichen, beinahe vollkommenen Mannes vor meiner Seele. Die Kreuzzeitung widmete ihm 1877 folgenden Nachruf:

„Seinem himmlischen Könige hat er Treue bewahrt bis zum Tode, und in langem wirkungsreichem Leben hat er im Kriege und im Frieden feinen irdischen Königen treu gedient. In den Stürmen der Revolutionszeit hat er mit seltenem Mute und mit klarem Blicke Altar und Thron verteidigt und die Schwankenden gestärkt. Ein Hauptbegründer der christlich-konservativen Partei und dieser Zeitung, hat er neben seiner umfangreichen amtlichen und parlamentarischen Tätigkeit eine lange Reihe von Jahren unsere Zeitung gestützt und gehoben. Seine Rundschauen und ein unvergeßliches Denkmal feiner Tätigkeit.

Wir trauern mit seiner Familie an dem Sarge eines treuen und mutigen Streiters für Christentum und Königtum. An ihm wird sich das Wort der Verheißung erfüllen: Sei getreu bis in den Tod, so werde ich dir die Krone des Lebens geben.“

Vielleicht den schönsten Nachruf hat ihm das Hauptblatt der deutschen Demokratie, die „Frankfurter Zeitung“ gewidmet, dasjenige Blatt, dem das politische Wirken Gerlachs am wenigsten sympathisch sein konnte.

„Er nahm“, schrieb es, „die Politik nicht hinüber ins Leben, er hielt sie fern von den Sälen, wo das Recht das Schwert und die gleiche Wage führen soll; er erfüllte ohne Ansehen der Perfon seine Pflicht, und die gleiche Pflichterfüllung, nichts weiter, verlangte er von den Richtern und Beamten, deren Vorgesetzter er war. Unter Gerlach ist weder in den Zeiten der Reaktion noch des Konflikts ein Richter jemals seiner politischen Gesinnung wegen gemaßregelt oder zurückgesetzt worden, unter Gerlach kam kein Streber auf, und das Wort Tendenzprozeß, dem wir jetzt auf so vielen Stellen begegnen, ist in Magdeburg, solange dort Gerlach an der Spitze der Justiz stand, nicht gehört worden. Und wie der Richter, so war der Mann, wohlwollend, leutselig, frei von Voreingenommenheit wie von Nachgedenken, ehrlich, offen und treu. – Als die Preß-Ordonnanz vom 3. Juli 1863 erschien, wurden alle Redakteure, die dagegen protestiert hatten, angeklagt. Darunter war auch Hoppe in Magdeburg. Als der Staatsanwalt die Einrede Hoppes an den Appellhof brachte, führte der alte Gerlach den Vorfitz, und er begründete das frei sprechende Erkenntnis mit den Worten: Der Angeklagte befand sich, als er die Preßverordnnng angriff, in seinem Rechte; denn sie ist ein Eingriff in sein, wie aller Preußen Recht auf Freiheit der Presse.“

Die Aufzeichnungen des Tagebuches über die Ereignisse nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV., über Ehe- und Synodalreform, über die März-Revolution und manches andere müssen wir um des Raumes willen übergehen, so erheblich und erfolgreich auch Gerlachs Beteiligung gewesen ist. Ebenfo die um 1852 für Preußen beginnende Reaktionszeit, die Bildung der „kleinen, aber mächtigen Partei“, das erste Auftreten des Herrn von Bismarck-Schönhausen, der damals treuer Anhänger Gerlachs war. Bismarck hielt in der zweiten Kammer eine Rede gegen die Zivilehe, in der es heißt: „Ich hoffe es noch zu erleben, daß das Narrenschiff unserer Zeit an dem Felsen der chriftlichen Kirche scheitert.“ Und als man am 7. März 1851, seinem Geburtstage, Gerlach ein Album mit Stammbuchblättern überreichte, stand auf Bismarcks Blatt: „Ihren Rat befolgt zu haben, hat mich noch niemals, das Gegenteil schon oft gereut.“ Ich habe es selbft gelesen. – Gerlach war der Pathe des älteren Sohnes Bismarcks, des jetzigen Fürsten Herbert. Bismarck sagt in einem Briefe an Gerlach vom 26.Mai 1855 aus Frankfurt: „Meine Frau trägt mir auf, Sie zu erinnern, daß unser Erstgeborener als Ihr Pathe ein Recht auf Ihr Gebet hat.“ – Gerlach erzählt (Oktober 1855), daß er sich hinsichtlich der Notwendigkeit, sich der Wahrheiten des Liberalismus zu bemächtigen, mit Bismarck völlig vereinigt habe.

In der Zeit von 1857 bis zum Tode des Königs (2. Januar 1861) veränderte sich viel für L. von Gerlach, sowohl im öffentlichen, wie im privaten Leben. Die unheilbare Erkrankung des Königs, die Zerrüttung der konservativen Partei, der Tod seiner zweiten Frau nach langem, schwerem Leiden, sowie seiner Freunde Niebuhr und Alvensleben, – das alles wirkte wie ein Abschluß dessen, was die letzten zwanzig Jahre für ihn bedeutet und was die Hauptkraft seines Lebens beansprucht hatte. Das Tagebuch vom Oktober 1858 dagt: „Blick auf mein verödetes Leben: die Blüten alle verschwunden, wie viele ohne Frucht! Kein Friedrich Wilhelm IV. mehr, keine Rundschauen, keine Partei, alle Aussichten finster im Staate, noch mehr in der Kirche.“ Sein Vertrauen zu Bismarck fing zu wanken an. »Es ist sehr wahrscheinlich, daß Bismarck nicht Farbe hält und auf Abwege führt. Die innere Schwäche der Konservativen eröffnet nach allen Seiten die trübsten Aussichten. Wir gehen schlimmen Dingen entgegen“ (November 1862).

Die Ahnung „schlinnner Dinge“ sollte sich bald als richtig erweisen. Der unglückselige „Bruderkrieg“ von 1866 wurde von Bismarck ohne Wissen des Königs von langer Hand vorbereitet. Als Gerlach im Anfang Mai 1866 den „scheußlichen Offenfiv- und Defensiv-Vertrag zwischen Preußen und Italien“ vom April 1866 in Erfahrung gebracht hatte, kam es zu einer letzten Unterredung mit Bismarck, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ, und zu einer Absage an die Kreuzzeitung. Lesenswert ift ein Brief, den Gerlach am 18. Mai an den preußischen Kriegsminister von Roon geschrieben hat:

„Gestern nicht persönlich mich vorstellen zu können, habe ich sehr bedauert. Im Vertrauen auf die Güte und Nachsicht, welche Sie mir so oft bewiesfen, würde ich Sie bei allem, was mir heilig ist – was Ihnen und mir heilig ist, will ich sagen -, würde ich Sie beschworen haben, das ganze Gewicht Ihres ehrenhaften Charakters und Ihrer hohen Stellung einzulegen, um diefen „unheilvollen Krieg“, wie unser Kronprinz, ihn vor einigen Tagen genannt hat, von uns abzuwenden. Auch den Sieg vorausgesetzt, steht die Zerrüttung des Vaterlandes, des preußischen und des deutschen, in Aussicht. Die Herrschaft des Auslandes – des Bonaparte und des italienischen Revolutionswesens – und, was das Allerschlimmste die Befleckung des Gewissens des greisen Königs und des gesamten Landes sind Erfolge, die in nächster Nähe drohen. Schon bahnt sich im Innern das Eindringen derjenigen Elemente in die Regierung an, welche Eure Exzellenz und Graf Bismarck drei Jahre lang mit Hilfe aller Ihrer treuen Verehrer – zu denen auch ich mich zählen darf – so tapfer und erfolgreich bekämpft haben. Hören Sie ruhig und freundlich die Warnung des 71 jährigen Greises an, der auf Erden nichts mehr sucht, und der Eurer Exzellenz von Herzen alles irdische und ewige Heil erbittet.“

Die neue Zeit, die nun anbrach, hat ihn nur scheinbar beiseite geschoben. Er hat nur in anderen aber nicht minder bedeutungsvoller Weise eingegriffen. Es ift eben das Große in Gerlachs Leben, daß er sich bis in sein höchstes Alter nie in den Schmollwinkel zurückzieht, nie den Mut verliert, sondern unentwegt und unerschrocken für das eintritt, was er für recht hält. In seinen letzten Lebensjahren hat er an dem sogenannten Kulturkampf als Mitglied des Abgeordnetenhauses, und zwar als Hospitant des Zentrums lebhaften Anteil genommen. Und es waren nicht nur politische, sondern auch wesentlich religiöse Ueberzeugungen, die ihn dabei geleitet haben. Um dieses zu beweisen, will ich von einer Fraktionssitzung des Zentrums erzählen, die am 25. Januar 1872 in Berlin stattgefunden hat. Ich war zugegen. Gerlach, durch den Wirklichen Geheimen Rat von Savigny eingeführt, versicherte sein Bedürfnis, infolge „der frechen Exzesse gegen die katholische Kirche“ seine Annäherung auszusprechen und sein Bündnis anzubieten. „Wir haben im vorigen Jahre die Franzosen geschlagen: das Bündnis, um das Reich Gottes zu verteidigen und zu erobern, ist ein viel erhabeneres. Was ist denn das irdische Vaterland gegen das ewige?“ Gerlach betonte sodann seine Uebereinstimmung mit der Adresse des Zentrums im ersten deutschen Reichstage gegen die Nichtintervention, nannte diefen Beschluß der Mehrheit Unsinn, einen Verzicht auf einen wesentlichen Inhalt der Souveränität, und fuhr dann fort:

„Ich muß hier wiederholen, was ich schon früher als Basis meiner Verbindung mit dem Zentrum ohne Widerspruch bezeichnete, nämlich die Einigkeit zwischen römisch-katholischen und evangelischen Chriften, soweit sie tatsächlich vorhanden ist. Und wie groß, majestätisch groß ist diese Einigkeit! Der lebendige Gott, Schöpfer Himmels und der Erde, der Mensch geworden, der uns Sünder durch sein Blut erlöst hat- der Geist, der die gesamte Kirche – die Gemeinschaft aller Getauften – heiligt und regiert, bis der Glaube in das Schauen übergeht und das Weltgericht in die ewige Seligkeit. Sollen diese geheimnisvollen Gotteswahrheiten uns nicht verbinden zn einer Einheit, die zum gemeinsamen Bekennen vor aller Welt uns anffordert und zum gemeinsamen Handeln in Kraft dieses einheitlichen Bekenntnisses, – auffordert mit verdoppelter und verzehnfachter Energie gegenüber der Energie des Unglaubens, des Pantheismus, des Atheismus und des Materialismus, welche leidenschaftlich einstürmt von allen Seiten auf die Kirche Gottes, in deren Ehe und in deren Schule? Aber, fragt man mich, vergissest Du denn die Differenzen zwischen der evangelischen und der römischen Kirche? Ich vergesse sie nicht, sie umfassen ja Erde und Himmel und zerreißen mein Herz. Auf keine Weise dürfen sie gering geachtet oder vertuscht, sie müssen ausgetragen und ausgerungen werden. Aber, hat ein weiser Mann gefagt, fruchtbar disputieren kann man nur, mit dem man einig ist. Also Streit, aber Streit auf dem tiefgelegten, breiten, ewigen Grunde der fundamentalen Einigkeit. Die Eine Kirche Gottes hat die Verheißung ewiger Dauer, aber diese Verheißung haben nicht die Streitigkeiten, welche diese majestätische Einheit trüben und zerreißen. Ueberdies ist weder der Reichstag noch der preußische Landtag der Kampfplatz die Streitigkeiten der Konfessionen auszukämpfen. Wohl aber ist es recht eigentlich der Beruf des Reichs- und des Landtages, die wenn auch in Schwachheit und in Knechtsgestalt schon vorhandene Einigkeit festzustellen und aus allen Kräften zu verteidigen gegen die gemeinsamen Feinde der gesamten Chriftenheit. Und – sind dennoch Gegensätze und Reibungen der Konfessionen auch in unseren Parlamenten nicht zn vermeiden, so wird liebreiche Gerechtigkeit gegeneinander und freundliche Nachgiebigkeit, soweit das Gewissen sie geftattet, ein edles Mittel fein, die Einheit des großen Vaterlandes zu befestigen.“

Andeutungen in dieser Richtung hatte Gerlach schon viele Jahre vorher gemacht. In der Februar-Rundschau der Kreuzzeitung hatte er 185l gefchrieben:

„Zu diefen Rechtssätzen – der durch die Verfassung anerkannten Selbständigkeit der evangelischen Kirche – hat eine große Mehrheit in der zweiten Kammer sich bekannt, eine Mehrheit, in welcher wir die römischen Katholiken mit Freuden begrüßen. Die Einheit der Interessen und des Rechtes, ja wir wagen es auszusprechen, die eine Kirche im Sinne des apostolischen Symbols hat diese Gemeinschaft gestiftet, die durch gleiche Treue unsrerseits sich bewähren soll und hoffentlich auch bewähren wird, wenn einmal der ungläubige moderne Staat, wie es seine Art ist, sich vergreifen sollte an den Heiligtümern der römischen Kirche.“

Und nach fast einem Vierteljahrhundert setzt er hinzu:

„Was ich damals versprach, treue Bewährung der Gemeinschaft mit der römischen Kirche, wenn der ungläubige moderne Staat sich an ihr vergreift, das suche ich jetzt – 1872 bis 1875 – zu erfüllen.“

Bei der Verhandlung über das Zivilehe-Gesetz schreibt er 1873:

„Soll ich mich vorbereiten auf den Untergang der evaneeliichen Kirche im preußischen Staate überhaupt? Wir werden hart gestraft für Luthers lose Reden: Die Ehe ist ein weltlich Ding wie kaufen und verkaufen.“

Das Tagebuch sagt am 6. Auguft 1871 (Sonntag):

„Ich wohnte im Dom in München dem Hochamt und zwei stillen Messen bei. – Welchen Reichtum von wunderbarer Geschichte des Königreiches Gottes durch die Jahrhunderte und Jahrtaufende bieten diese so voll geschmückten Kirchen dem armen Volke dar. Wie reich ift das katholische Volk in seiner so mütterlichen, herablassenden Kirche!“

Ludwig von Gerlach hat in den letzten Jahren seines Lebens fast regelmäßig am Sonntag dem Hochamt und der Predigt in der katholifchen Pfarrkirche in Magdeburg bei gewohnt.

Speise und Trank hatten für Gerlach geringen Wert, und bis ins hohe Alter war er gegen Wind und Wetter abgehärtet. Von einer Reise nach Süddeutschland zurück gekehrt, erzählte er mir und dem Geheimrate S., der um 10 Jahre jünger denn er war, vom Bodensee und wie prächtig ihm das Bad bei Romanshorn bekommen sei. „Aber Herr Chefpräsident“ – warf der Geheimrat ein – „ich habe oft von Aerzten gehört, man dürfe nach 60 Jahren nicht mehr im Freien baden.“ „Ach, mein lieber Herr“, erwiderte Gerlach in dem ihm eigenen reizenden Humor, „nach dem siebenzigsten ist das alles wieder anders.“ – Im Juli 1872 besuchte ihn sein Jugendfreund Cajus Stolberg auf Brauna in Sachsen. Wir drei fuhren gegen Abend im offenen Wagen hinaus und verbrachten etliche Stunden zum Abendbrod im Freien. Spät erfolgte die Heimfahrt und ein kühler Nachtwind veranlaßte den Grafen einen leichten Ueberzieher anzulegen. „Cajus, Cajus, was machst du für Sachen“, sagte Gerlach der ein solches Kleid nicht befaß, in höhnischem Scherz.

Als ich die Nachricht von dem Tode des edlen Mannes erhielt, befiel mich schmerzliche Trauer. Nach einer Weile wurde sie gemildert durch die Erinnerung an herrliche Worte des Heimgegangenen. Sie lauten: „Die starren Konsequenzen des Rechts führen uns alle in die ewige Verdammnis. Aber die rechten Konsequeuzen, die der Geist der Gnade und des Gebetes zieht, sind eben nicht starr, sondern holdselig und führen zu ewigen Frieden und ewige Freude.“ ‚


(Quelle: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland, Zweiter Band, In Kommission der Literarisch-artistischen Anstalt (Theod. Riedel), München, 1904)