Fürs Herzbluten
Eine Erzählung von Heinrich Sohnrey
Ich saß im Eisenbahnwagen dritter Klasse. „Ratteratt, ratteratt, ratteratt!“ Mir gegenüber saß ein stiller, oft tieftraurig vor sich hinblickender Mann und, innig an ihn geschmiegt, ein etwa vier Jahre alles liebliches Mägdelein mit großen dunkeln Augen, aber blassem, schmerzhaftem Anlitz. Der Mann war, wie der Augenschein lehrte, des kranken Kindes Vater. Er hielt seinen rechten Arm um die Kleine geschlungen und drückte das von braunem Haar umflossene Köpfchen von Zeit zu Zeit fest an sich, und wenn er ihr etwas sagte, so nannte er sie Marie.
In Nordheim wurde unsere stille Gesellschaft noch durch drei Personen vermehrt, zwei junge Wildlinge und deren Vater.
Frisch und fröhlich sprang der blondhaarige Knabe mit seinem Schwesterchen herein, und ebenso munter kam der Vater ihnen nach. Das war ein Lachen, Fragen und Schwatzen ohne Anfang und ohne Ende. Doch vergaßen sie nicht, uns freundlich zu grüßen.
Wie aus dem Geplauder unserer neuen Reisegenossen hervorging, fuhren sie zum fernen Mütterchen zurück, das mit großer Sehnsucht ihrer harrte. Die beiden Kinder freuten sich so sehr auf das bevorstehende Wiedersehen. Wohl zwanzigmal fragten sie wie aus einem Munde: „Vater, wieviel Stationen sind´s noch bis zum Mütterchen?“ Und der Vater wurde nicht müde, die Fragen seiner Lieblinge immer wieder zu beantworten.
Plötzlich verstummte die kindliche Redseligkeit, und das ferne Mütterchen schien für einen Augenblick vergessen. Der Vater hatte nämlich drei Apfelsinen hervorgeholt und begann nun lächelnd, mit einem Taschenmesser die duftende Schale von dem saftigen Balle zu lösen. Begierig nahmen die Kleinen ein Stück nach dem andern aus der Hand des Vaters und genossen mit Behagen die köstliche Frucht.
An sich selbst dachte der Vater nicht, auch nicht an das fremde, kranke Mädchen, das gegenüber auf der Bank saß und mit verlangenden Blicken an den Apfelsinen hing.
Ich beobachtete die Kleine, wie sie ihre blassen, trockenen Lippen unbewußt aufeinanderpreßte, und fühlte es warm in meinem Herzen aufqellen. O, daß nicht auch ich eine Apfelsine in meiner Tasche hatte! Die hätte ich der kleinen Kranken geschenkt fürs „Herzbluten“. – So sagte meine Mutter immer, wenn sie einem Kinde, das in der Versperstunde bei uns eintrat, etwas darreichte.
Der fremde Vater bemerkte das Herzbluten seines Lieblings, und ein schmerzhaftes Zucken flog über sein bekümmertes Gesicht. Er zog den Arm inniger um die Kleine, flüsterte mit ihr, zeigte nach der grünen, wallenden Flur draußen, nach den waldumkränzten Bergen und nach allen, was für das Auge eine Ablenkung hätte bieten können.
Da erlebte ich eine herzliche Freude. Plötzlich stand der Junge auf und reichte der kleinen Marie ein Apfelsinenstück, indem er ihr bittend zunickte.
Marie zuckte zusammen. Sie sah ihr Verlangen erraten, und ihr blasses Gesichtchen wurde über und über rot.
Immer dringender wurde der Knabe; doch Marie ließ das Köpfchen verschämt herabhängen und nahm die Apfelsine nicht.
Jetzt erst schien des Knaben Vater das fremde Mädchen zu sehen; er klopfte dem Sohn auf die Schulter und sagte: „Brav, Otto!“ Dann nötigte er Marie in dem gleichen, warmen Tone: „Liebe Kleine, du darfst es schon nehmen. Ich habe noch viele mehr.“ Dabei schälte er auch schon wieder eine neue Apfelsine.
Doch erst als Mariens Vater lächelnd sagte: „Na, nimm´s nur, Kind!“ nahm Marie die Apfelsine aus des freundlichen Knaben Hand, indem sie ihm zugleich ihr rechtes Händchen gab und dankte. In Ottos Augen aber stand mit leuchtenden Buchstaben geschrieben: „Geben ist seliger als Nehmen!“
Von diesem allen war ich stummer Augenzeuge. Das kleine Vorkommnis rührte mich tief, ich sagte nichts, aber der kleine Blondkopf hatte mir einen Stein vom Herzen genommen. Ich werde den kleinen Burschen wohl kaum wiedersehen; ich habe ihn aber in mein Herz geschlossen, und da wird er nicht vergessen werden.
entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952