Am Tage als die Ahne fort war

Am Tage als die Ahne fort war
Erzählung von Peter Rosegger

Wenn Jammer ist, und es scheint die Sonne drein: Traurigeres weiß ich nicht zu denken! Die Großen waren alle fort in die Kirche gegangen. Die gute Ahne, die sonst bei uns gewesen, hatten sie fortgetragen. Mir ist davon sonst nichts mehr recht in Erinnerung, als daß wir Kleinen des allzuweiten Weges halber daheim bleiben mußten und so den angstvollen Tag verlebten. Wir hatten uns eingeschlossen ins Haus, schlichen auf den Zehenspitzen umher und fürchteten uns vor Räubern und Mördern. Zu den vergitterten Fenster blaute der wald herein, und über allem lag das stille Licht der heiligen Pfingstsonne. Da eine ganze Stunde der Einsamkeit vergangen war, ohne daß etwas Unerhörtes geschah, so wurden wir etwas dreister, und allmählich kam sogar das Verlangen nach dem Essen, das uns die Schwester Plonele zu kochen den Auftrag hatte. Da war plötzlich draußen in der Vorlauben ein Gepolter. Wie zum Tode getroffen schranken wir zusammen und krochen zu einem Knäuel ineinander.
„Gott, steh uns bei“, betete die Plonele, „Ein Schelm ist im Haus!“
Wir hörten ein Winseln und Kreischen. Da sprang der Hütejunge, der Hansel, auf, ein kecker Junge, armer Leute Sohn, den unser Vater erst vor wenigen Tagen zum Viehhüten ins Haus genommen hatte. Er trug schon die Brottasche umgehangen, weil er eben das Vieh auf die Weide treiben wolle. Der sprang auf, erfaßte das spitze brotmesser und wollte in die Vorlauben. Unsere Schwester hielt ihn zurück, er solle doch um Gotteswillen nicht mit dem Messer hinaus, das koste uns allen das Leben.
„Wenn´s ein Räuber ist, so steche ich ihn ab!“ knirschte der Hansel, riß sich los und sprang ins Vorhaus.
Da draußen ging´s grauenhaft zu; ein paar Spatzen schossen kreischend umher, und mitten in der Lauben auf der Erde lag ein zerrissenes Vogelnest. Die Katze war eben daran, mit Vorderpfoten und Schnauze ein Junges aus dem Halmgewebe zu fangen, als der Hansel hinzukam und ihr mit dem Messerstiel einen Schlag versetzte.
Nun waren wir alle dabei. Wir kosten und herzten das hilflose Tierchen. Es gibt nichts Armseligeres auf der Welt als einen Vogel ohne Federn. Den Schnabel tat er auf, da brachte die Plonele schon eine Handvoll Brei von unserm Essen, und der Hansel nahm das Spätzlein geschickt in seine Hand und begann es zu atzen. Es war eine helle Freude.
Mittlerweile stand ich auch schon mit dem alten Vogelbauer daneben, auf daß wir das Ding hineintäten und so auf einmal eine ungeahnte Bereicherung unserer Güter hätten. Aber der Hansel rief: „Bist ein dummer Bub! Glaubst, es bliebe lebend? Sollst´s nur du probieren, wenn du nicht essen und trinken kannst und sie sperren dich von deiner Mutter weg in einen Vogelkorb. Wird dir nicht taugen. Das Junge gehört zu den Alten.“
Aber das Nest war von der Katze ganz und gar zerstört worden. So lief ich – das Wort des Hansel tief im Herzen – mit dem Vogelbauer wieder davon und kam mit meinem Kopfkissen zurück. Dieses taten wir in eine Mauernische und legten das arme Vöglein drauf. Der Schnabel ging stetig auf und zu, und doch wollte es kein Krümchen Brei mehr schlucken, die kleine Brust wogte arg auf und nieder, und das Wesen war schier zu schwach zum Piepsen.
So lag es auf dem Kissen, im Grübchen, das ihm die Plonele mit den Fingern gedrückt hatte. Wir ließen es auf Anordnung des Hansel in Ruhe und hofften, daß nun die Alten kommen und ihr Kleines hegen und pflegen würden.
Aber die Alten flatterten in Angst draußen um die Dachgiebel herum; der tatkräftige Hansel strich mit dem Messer durch Stall und Scheunen. Er suchte die Katze.
Was ich an dem Vormittag ausgestanden habe! Ich lauerte ruhelos in der Vorlauben herum, strenge meine Zehen an und meinen langen Hals; aber allvergebens, ich war zu klein, um dem jungen Spatzen in sein Bettlein gucken zu können. Ich horchte vergebens, ob ich ihn nicht etwa piepsen oder Atemholen hörte. Bruder Jackerl machte den Vorschlag, um den kleinen Vogel zu sehen, sollte ich ihn, den Jackerl, auf meine Schulter steigen lassen. Er würde mir schon alles sagen, was er sehe. Wir versuchten es, aber das Gerüst war zu schwach, wir kollerten beide auf die Erde. Endlich, um die Mittagszeit war´s, als die Schwester mit trauriger Miene berichtete: „Jetzt ist das Vogerl schon hin!“
Es mußte sich im Falle zu arg verletzt haben, oder der Schreck, die Angst! „Jetzt kannst das Vogelhaus bringen“, befahl mir der Hansel. Und im Vogelhaus haben wir den kleinen Leichnam aufgebahrt. Er lag auf einem Nestchen aus weißer Wolle, aus Rosmarin und Maßliebchen hatten wir ihm einen Kranz geflochten. Ich schlug auch vor, daß man an dieser Bahre ein Öllämpchen anzünde, so wie es bei der Leiche der Ahne gewesen war; aber meine Schwester gab mir einen kleinen Stoß mit dem Ellbogen und meinte, so was wäre eine Frevelhaftigkeit, der Spatz hätte ja keine Seele gehabt.
Wie schaute ich das Vöglein traurig an! – Du armes Geschöpf, jetzt hast du gar keine Seele gehabt. Bist unschuldigerweis` von der Katz umgebracht worden und kommst doch nicht in den Himmel. Wenn ich dich ins Abendgebet einschließen täte, vielleicht wollte der liebe Herrgott mit dir eine Ausnahme machen.
Am Abend, als es dunkel wurde, trugen wir das starre Vöglein hinaus an den Rain, wo die Hagebutten stehen; dort scharrte der Hansel eine Grube, und wir legten das Tierchen mitsamt seinem weißen Wollbettlein und seinem Kranze hinein. Und als wir mit unsern kleinen Händen das Gräblein zulegten, flatterte ein Spatz über unsern Häuptern hin und her. Das Herz hätte uns allen brechen mögen, als die Plonele sagte: „Das ist gewiß vom Vogel die Mutter!“
Nach dem Begräbnis schleppte der Hansel noch einen großen Stein herbei und legte ihn auf das Grab, denn die Katze – er hatte sie nicht erwischt.
Der Hansel lebt heute noch. Er hat Haus und Hof und was hineingehört, er ist ein ganzer Mann. Schwesterlein Plonele ist sein Weib geworden. Gegenwärtig atzen sie wieder ein Junges, aber mit mehr Glück als dazumal.

entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952


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