Kaiser Napoleon und die Obstfrau in Brienne – Erzählung von Johann Peter Hebel.
Der große Kaiser Napoleon brachte seine Jugend als Zögling in der Kriegsschule zu Brienne zu, und wie? Das lehrten in der Folge seine Kriege, die er führte, und seine Taten. Da er gerne Obst aß, wie die Jugend pflegt, so bekam eine Obsthändlerin daselbst manchen schönen Batzen von ihm zu lösen. Hatte er je einmal kein Geld, so borgte sie. Bekam er Geld, so bezahlte er. Aber als er die Schule verließ, um nun als kenntnisreicher Soldat auszuüben, was er dort gelernt hatte, war er ihr doch einige Taler schuldig. Und als sie das letzte Mal ihm einen Teller voll saftiger Pfirsiche oder süßer Trauben brachte, „Beste,“ sagte er, „jetzt muß ich fort und kann euch nicht bezahlen. Aber ihr sollt nicht vergessen sein.“ Aber die Obstfrau sagte: „O, reisen Sie wegen dessen ruhig ab, lieber junger Herr. Gott erhalte Sie gesund und mache aus Ihnen einen glücklichen Mann.“ — Allein auf einer solchen Laufbahn, wie diejenige war, welche der junge Krieger jetzt betrat, kann doch auch der beste Kopf so etwas vergessen, bis zuletzt das erkenntliche Gemüt ihn wieder daran er innert. Napoleon wird in kurzer Zeit General und erobert Italien. Napoleon geht nach Egypten, wo einst die Kinder Israel das Zieglerhandwerk trieben, und liefert ein Treffen bei Nazareth, wo vor 1800 Jahren die hochgelobte Jungfrau wohnte. Napoleon kehrt mitten durch ein Meer voll feindlicher Schiffe nach Frankreich und Paris zurück und wird erster Konsul. Napoleon stellt in seinem unglücklich gewordenen Vaterlande die Ruhe und Ordnung wieder her und wird französischer Kaiser, und noch hatte die gute Obstfrau in Brienne nichts, als sein Wort: „Ihr sollt nicht vergessen sein!“ Aber ein Wort noch immer so gut als bares Geld, und besser. Denn als der Kaiser in Brienne einmal erwartet wurde, — er war aber in der Stille schon dort, und mag wohl sehr gerührt gewesen sein, wenn er da an die vorige Zeit dachte und an die jetzige, und wie ihn Gott in so kurzer Zeit und durch so viele Gefahren unversehrt bis auf den neuen Kaiserthron geführt hatte, — da blieb er auf der Gasse plötzlich stille stehen, legte den Finger an die Stirne, wie einer, der sich auf etwas besinnt, nannte bald darauf den Namen der Obstfrau, erkundigte sich nach ihrer Wohnung, die ziemlich baufällig war, und trat mit einem einzigen treuen Begleiter zu ihr hinein. Eine enge Türe führte ihn in ein kleines, aber reinliches Zimmer, wo die Frau mit zwei Kindern am Kamin kniete und ein sparsames Abendessen bereitete.
„Kann ich hier etwas zur Erfrischung haben?“ so fragte der Kaiser. — „Ei ja!“ erwiderte die Frau, „die Melonen sind reif,“ und holte eine. Während die zwei fremden Herren die Melone verzehrten, und die Frau noch ein paar Reiser an das Feuer legte, „Kennt ihr den Kaiser auch, der heute hier sein soll?“ fragte der eine. „Er ist noch nicht da,“ antwortete die Frau, „er kommt erst. Warum soll ich ihn nicht kennen? Manchen Teller und manches Körbchen voll Obst hat er mir abgekauft, als er noch hier in der Schule war.“ — „Hat er denn auch alles ordentlich bezahlt?“ — „Ja freilich, er hat alles ordentlich bezahlt.“ Da sagte zu ihr der fremde Herr: „Frau, ihr geht nicht mit der Wahrheit um, oder ihr müßt ein schlechtes Gedächtnis haben. Fürs erste, so kennt ihr den Kaiser nicht. Denn ich bin’s. Fürs andere, hab‘ ich euch nicht so ordentlich bezahlt, als ihr sagt, sondern ich bin euch zwei Taler schuldig oder so etwas;“ und in diesem Augenblick zählte der Begleiter auf den Tisch eintausend-und-zweihundert Franken, Kapital und Zins. Die Frau, als sie den Kaiser erkannte und die Goldstücke auf dem Tisch klingeln hörte, fiel ihm zu Füßen und war vor Freude und Schrecken und Dankbarkeit ganz außer sich, und die Kinder schauen auch einander an und wissen nicht, was sie sagen sollen. Der Kaiser aber befahl nachher, das Haus niederzureißen und der Frau ein anderes an den nämlichen Platz zu bauen. „In diesem Hause,“ sagte er, „will ich wohnen, so oft ich nach Brienne komme, und es soll meinen Namen führen.“ Der Frau aber versprach er, er wolle für ihre Kinder sorgen.
Wirklich hat er auch die Tochter derselben ehrenvoll versorgt, und der Sohn ward auf kaiserliche Kosten in der nämlichen Schule erzogen, aus welcher der Kaiser selber ausgegangen ist.
(Quelle: Schätzkästlein des Rheinischen Hausfreundes, American Book Company, 1913)