Mensch, komm bloß nicht auf die Welt! – [online-lesen]

Mensch, komm bloß nicht auf die Welt! – Ein Mahnruf an alle ungeborenen Deutschen. Vortrag von Otto Reutter.

Heute auf der Welt zu leben
Ist wahrhaft kein Genuß.
Ach, was kann uns heut´ das Leben geben,
Nichts als Ärger und Verdruß.
Heute auf die Welt zu komm´n, das ist ein Missgeschick.

Ich hielt zu ihrem Glück
Die Menschheit gern zurück.

Ach, wenn´s irgend möglich wäre, rief ich ohne Ruh´
´nem jeden ungebor´nen Kinde zu:
„Mensch, komm bloß nicht auf die Welt!
Denn da ist es schlecht bestellt.
Komm nicht jetzt – laß dich nicht äffen –
Schlimmer kannst du´s gar nicht treffen.
Will der Klapperstorch dich kriegen,
Bleibe hübsch im Teiche liegen,
Oder flieg zum Sternenzelt.
Mensch, komm bloß nicht auf die Welt!“

Auf der Welt ist alles teuer,
Von der Wiege bis zur Gruft.
Täglich kommt man uns mit neuer Steuer –
Man besteuert bald die Luft.
Kind, du mußt verhungern hier – die Preise steigen sehr –

Die Eier kosten mehr,
Die Milch geht immer höh´r.

Schließlich sagt die Amme auch: „Bei mir wird alles knapp-
Bezahle mehr, sonst lief´re ich nichts ab.“
Mensch, komm´ bloß nicht auf die Welt!
Denn da bist du sehr geprellt.
Wirst behandelt ohne Schonung –
Kriegst vielleicht nicht mal ´ne Wohnung.
Hat man eine dir empfohlen,
Fehl´n im Winter dir die Kohlen,
Und dann bist du kalt gestellt.
Mensch, komm´ bloß nicht auf die Welt!

Ach, grad´ den kleinen Kindern
Folgt die Not auf Schritt und Tritt.
Drum müßt´ man das Komm´n von Kindern hindern –
Wenn das ging´, ich machte mit.
Nehmen wir mal an, ich ständ´ als junger Gatte da,

Der Storch, der wäre nah,
Ich würde bald Papa –

Ach, dächt´ ich, mein Kind, ich liebe dich schon, eh´ du hier.
Doch grad, weil ich dich liebe, rat´ ich dir:
„Mensch komm´ bloß nicht auf die Welt!
Such´ dir lieber ´n and´res Feld.
Möcht´ ja gerne voll Entzücken
An die Vaterbrust dich drücken.
Doch bleib´ fort – mach´ kein Theater –
Such´ dir später ´n andern Vater –
Von mir wirst du abbestellt,
Mensch, komm´ bloß nicht auf die Welt!

Jedes Kind hat heut´ schon Schulden,
Wenn es auf die Welt gelangt.
Vierzig Jahre soll es die Schulden dulden –
So verlangt es die Entente.
Doch für euch, ihr Herr´n, besorgen keine Kinder wir.

Nein, braucht noch Kinder ihr,
Dann sorgt doch selbst dafür.

Kind, sobald u kommst, wird dir die Rechnung schon gebracht,
Noch eh´ du was „gemacht“, bist du gemacht.
Mensch, komm´ bloß nicht auf die Welt!
Denn das kost´t ´ne Menge Geld.
Hast vom Leben kaum ´ne Ahnung,
Kriegt du schon ´ne Schulden-Mahnung.
Der Franzos kommt an die Wiege:
(Recht freundlich): „Kind, du bist mit schuld am Kriege,
„Drum bezahl´, du kleiner Held!“ – –
Mensch, komm bloß nicht auf die Welt!

Schrecklich ist das Los des Säuglings –
Wenn er ankommt, geht´s ihm schlecht.
Man versichert sich des Säuglings meuchlings –
So was nennt die Welt „gerecht“.
Liebes Kind, die Jugendzeit ist heute kein Gewinn.

Drum denk´ in deinem Sinn:
„Ich bleibe, wo ich bin.“

Heute streikt die ganze Welt, drum rufe ich dir zu:
„Grüß´ deine Eltern hübsch und streik ´auch du!

Mensch, komm´ bloß nicht auf die Welt!
Warte, bis sie dir gefällt.
(oder: „Ware, bis der Dollar fällt“.)
´s wird schon besser mal, versteht sich,
Denn die Welt ist rund und dreht sich
Also war´, bis sih´s verschoben,
Bas Untre kam nach oben –
Wenn du obenan gestellt
Mensch, dann kommst du auf die Welt!“

(Quelle: Unsterbliche Reutter-Vorträge, Band III, Bergwald-Verlag, Köln)


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